Schreibe die Eingangsszene eines Romans, dessen Hauptfigur, die Kellnerin Maria, zu schüchtern ist, ihrem Kollegen Thomas ihre Liebe zu gestehen. Zeige dem Leser die Schüchternheit Marias in der Szene, ohne dass der Erzähler oder eine Figur diese Charaktereigenschaft benennt. Auch Dialoge sollen sich nicht direkt mit der Schüchternheit Marias beschäftigen. Wenn du es dir zutraust, versuche die Szene ganz ohne Dialog zu gestalten.
Der Protagonist ist die Figur eines literarischen Werkes, mit der der Leser üblicherweise die meiste Zeit verbringt. Die Figur, die ihm am besten vertraut wird und die für ihn so interessant ist, dass sie zu einem nicht unerheblichen Teil dazu beiträgt, dass er unbedingt wissen will, wie die Geschichte ausgeht.
Wenn der Funke vom Prota zum Leser nicht überspringt, ist das tödlich für eine Geschichte. Damit sie Spannung aufbauen kann, darf dem Leser der Prota nicht gleichgültig sein.
Um das zu erreichen, reicht es nicht, auf dem Papier oder im Kopf eine interessante Figur zu entwickeln, man muss es auch schaffen, sie dem Leser zu vermitteln.
1. Komplexe Figuren
Wie komplex Figuren ausfallen sollten, kann je nach Genre und Zielgruppe variieren. Ob der Protagonist der Held eines Kinderbuchs, eines Heimatromans oder eines Psychothrillers ist, macht durchaus einen Unterschied. Innerhalb eines Werkes kann dem Prota aber hinsichtlich der Komplexität bestenfalls der Antagonist das Wasser reichen.
Dem Autor sollte der Prota im Idealfall so ans Herz wachsen, dass er alles über ihn wissen will. Und das sollte ihm als Autor ja nicht schwerfallen.
Wo wurde der Prota geboren, wie ist er aufgewachsen, wie wurde er erzogen, welche einschneidenden Erlebnisse haben ihn geprägt, welche Ängste trägt er mit sich herum, welche Wünsche und Ziele hat er, was mag er besonders, was kann er gar nicht leiden, was schätzt er an seinen Freunden und umgekehrt, …
Eine der effektivsten Methoden, seinen Prota kennenzulernen, ist, sich zu fragen, wie die Figur in bestimmten Situationen handeln würde. Dabei geht es gleichermaßen um ganz alltägliche Dinge wie um Extremsituationen:
Was unternimmt die Figur am liebsten an einem freien Tag, wohin würde sie in den Urlaub fahren, welcher Kinofilm aus dem aktuellen Programm würde sie interessieren, würde sie bei dem Song aus dem Autoradio mitsingen oder einen neuen Sender suchen?
Was würde sie mit einem Lottogewinn anfangen? Wie würde sie handeln, wenn sie plötzlich arbeitslos würde? Wie würde sie reagieren, wenn sie mit einer Waffe bedroht würde? Was würde sie unternehmen, wenn sie Zeuge eines Diebstahls oder einer Gewalttat wäre?
Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen müssen im Roman nicht vorkommen, viele von ihnen dürften für die konkrete Geschichte gar keine Rolle spielen. Es geht einzig und allein darum, den Prota so gut kennenzulernen, dass man ihn in jeder konkreten Romansituation souverän händeln kann, denn das genau wird der Leser spüren.
2. Charakter durch Handlung
Der Autor hat im Wesentlichen drei Möglichkeiten, dem Leser seine Figuren näherzubringen:
(1) durch direkte Informationen im Erzähltext,
(2) durch Dialoge oder im inneren Monolog der Figur,
(3) durch Handlung.
(1)
Peter war jemand, der alles bin ins kleinste Detail plante.
(2)
„Peter ist irgendwie süß.“
„Warte bis du ihn näher kennenlernst. Glaub mir, ihr passt nicht zusammen.“
„Warum nicht?“
„Du bist in allem, was du machst, spontan. Er tut keinen Schritt, den er nicht genau durchgeplant hat.“
(3)
Peter notierte die Zutaten für das Rezept. Dann hakte er jede Zutat ab, die er noch im Haus hatte. Die übrigen übertrug er auf die Einkaufsliste, auf der bereits all die sonstigen Dinge standen, die für seinen Vorratsschrank nachgekauft werden mussten. Er prüfte die Liste noch einmal sorgfältig, überschlug die Preise und steckte vierzehn Euro in sein Einkaufs-Portemonaie. Die Kaufhalle war gleich gegenüber.
Generell kann man keiner der drei Möglichkeiten den Vorzug geben. Alle haben ihre Berechtigung, alle ihre Vor- und Nachteile und je nachdem, was man in einer Erzählsituation erreichen will, ist eine der drei Möglichkeiten die beste.
Allerdings zeigt sich in den Beispielen auch: Besonders eindrücklich und nachhaltig ist die Darstellung über Handlung. In Beispiel drei bekommt der Leser nichts vorgeschrieben, sondern kann Peter selbst erleben und sich seine eigene Meinung über ihn bilden. Er lernt ihn im wahrsten Sinne des Wortes kennen.
In den anderen Beispielen wird Peters Eigenschaft dagegen nur behauptet, in Beispiel eins vom Erzähler, in Beispiel zwei von einer Figur.
Gerade für den Protagonisten ist es wichtig, dass der Leser mit ihm miterlebt, um ihn kennenzulernen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Wer das erreichen will, lässt seinen Prota also seinem Charakter entsprechend handeln, statt ihn einfach zu behaupten. Es gilt also, auch die Szenen so anzulegen, dass der Protagonist darin seine Persönlichkeit entfalten kann.
3. Der Protagonist und sein Konflikt
Eine Geschichte baut immer auf dem Konflikt ihres Protagonisten auf. Fehlt der Konflikt, handelt es sich im engeren Sinn auch nicht um eine Geschichte.
Für den Konflikt braucht es ein Ziel, das der Prota erreichen will, und jemanden oder etwas, das diesem Ziel entgegensteht.
Der Kriminalkommissar will den Mörder stellen, der Mörder will nicht geschnappt werden, der Lehrer will dem Schüler etwas beibringen, der Schüler hat keinen Bock auf Unterricht, der 100-Meter-Läufer will den Sieg erringen, sein ärgster Konkurrent will den Sieg für sich, der Prinz will die Prinzessin befreien, der Drache wird ihn eher töten, als das zuzulassen, der Bergsteiger will den Berg erklimmen, aber das Wetter und der Berg selbst legen ihm Steine in den Weg.
Sehr häufig geht mit der Konfliktsituation, in der sich der Protagonist befindet, ein innerer Konflikt einher, der auch als alleiniger Hauptkonflikt herhalten kann. So kann es die Schüchternheit sein, die der Verehrer überwinden muss, um seine Angebetete zu erobern. Oder der Jähzorn, den der Mann besiegen muss, um seine Ehefrau zu halten. Die Selbstzweifel, die die Autorin hinter sich lassen muss, um einen erfolgreichen Roman zu schreiben. Die Angst, die der Held bändigen muss, um die Prinzessin zu retten.
Gerade die inneren Konflikte sind es, die einen Prota besonders interessant machen.
4. Der Antagonist
Wenn wir an den Antagonisten denken, denken wir zuerst an mächtige Gegner und dunkle Herrscher. Der Antagonist ist aber lediglich derjenige, der dem Ziel des Protagonisten entgegenwirkt. Das braucht kein Bösewicht zu sein. Auch die Mutter, die es nur gut mit dem Jungen meint, kann als dessen Antagonist wirken, wenn sie damit seinenm Ziel, zum Beispiel eine eigene Familie zu gründen, im Wege steht.
Und es muss sich beim Antagonisten nicht einmal um eine Figur handeln, sondern es können beispielsweise auch ein Tier oder die Naturgewalten als Antagonisten wirken.
Wer oder was auch immer der Antagonist ist, er/es eignet sich nur dann als echter Gegner, wenn er/es für den Prota ein nahezu unüberwindbares Hindernis darstellt. Macht der Antagonist dem Prota den gut bezahlten Job in einem Chemieunternehmen streitig, entlockt das dem Leser nur ein Gähnen, wenn der Gegner nicht mindestens ebenso qualifiziert ist wie der Prota. Niemand würde James Bond beim Kampf gegen einen Taschendieb begleiten wollen, es sei denn, es handelte sich dabei um eine Parodie. Andersherum ist es durchaus möglich, einen unbedeutenden Privatdetektiv gegen eine mafiöse Verbrecherorganisation vorgehen zu lassen, sofern es zu einer glaubhaften Lösung führt.
Der Antagonist muss also in für den Konflikt entscheidenden Eigenschaften und Fähigkeiten dem Prota mindestens ebenbürtig sein. Je überlegener der Antagonist ist, desto spannender wird es zu verfolgen, ob und wie der Protagonist dennoch sein Ziel erreicht.