mySTORYs Schreibratgeber
Für Anfänger und Fortgeschrittene

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Charaktervoll

Von Figuren und Personen

Figuren können einem Autor ganz schön zu schaffen machen. Manche wollen sich einfach nicht so verhalten, wie es sich der Autor wünscht, manche verhalten sich ganz genau wie ihre Vorbilder in der Realität und werden dennoch nicht als glaubhaft empfunden. Manche wachsen über sich hinaus, sprengen jeden Rahmen, andere enttäuschen, entwickeln nicht das Potential, das ihnen der Autor zugetraut hat. Zunächst aber stellt sich die Frage, wie müssen sie überhaupt beschaffen sein, die Figuren?

Zum Verständnis sei zu Beginn noch der Begriff des Protagonisten erklärt.

In literarischen Texten begegnen wir verschiedenen Typen von Figuren. Sie werden gemeinhin nach ihrer Präsenz im Text in Haupt-, Neben- und Randfiguren unterschieden. Unter den Hauptfiguren ist der Protagonist die wichtigste.

Protagonist kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie "Haupthandelnder", "Ersthandelnder". Und das trifft es genau. Der Protagonist ist der Haupthandlungsträger in unserer Geschichte. Er kann damit auch gleichzeitig der Perspektivträger sein, also derjenige, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, das muss aber nicht sein.

Der Protagonist kann ein Einzelkämpfer sein, er kann von weiteren Hauptfiguren umgeben sein, die ihm aber als Protagonisten nicht den Rang ablaufen, oder es kann weitere Protagonisten geben. Letzteres ist entweder der Fall, wenn zwei oder mehr Protagonisten gleichberechtigt einen Handlungsstrang bestimmen oder wenn es mehrere gleichberechtigte Handlungsstränge gibt, die von jeweils einem Protagonisten bestimmt werden. In der Regel haben wir es aber nur mit einem Protagonisten zu tun.

Haben wir einen Haupthandlungsstrang und einen oder mehrere Nebenstränge, bezeichnet man auch schon mal den wichtigsten Handlungsträger eines Nebenstrangs als Protagonisten des Nebenstrangs, um ihn von weiteren wichtigen Figuren desselben Strangs zu unterscheiden. In diesem Fall ist es durchaus gerechtfertigt, den Protagonisten des Hauptstrangs als Hauptprotagonisten zu bezeichnen, was ansonsten doppelt gemoppelt wäre.

Den direkten Gegenpart des Protagonisten nennen wir Antagonist.

1. Figuren sind keine Personen

Wer über Ereignisse schreibt, die tatsächlich stattgefunden haben, braucht seine Figuren nicht zu erfinden. Und mancher kennt so interessante Leute, dass er sie gern als Vorbilder für seine erfundenen Geschichten verwendet.

Was den ersten Fall betrifft, habe ich schon an anderer Stelle gesagt, dass selbst eine noch so biografische Geschichte keine 1:1-Übertragung der Wirklichkeit darstellt. Das gilt in gleicher Weise für die biografierten Personen. Wie akribisch der Autor auch vorgeht, er wird deren Persönlichkeit nicht vollumfänglich in Buchstaben fassen können, abgesehen davon, dass er sie – und sogar sich selbst – nicht so gut kennen wird, dass ihm das überhaupt möglich wäre. Obendrein dürfte es nur in den seltensten Fällen im Interesse des Autors liegen, eine Person – und sei es die eigene – derart tatsächlich darzustellen.

Auch eine Biographie macht also aus realen Personen Figuren, die im Sinne dessen handeln und beschrieben werden, was der Autor dem Leser vermitteln will.

Umso mehr gilt das für den zweiten Fall. Wer also glaubt, indem er einfach den Charakter einer ihm gut bekannten Person übernimmt, könne er sich einiges an Aufwand bei der Figurenentwicklung sparen, täuscht sich.

Der Biograf hat hier sogar noch einen entscheidenden Vorteil: Handelt seine Figur in einer Situation komplett anders, als wir es uns vorstellen können, in einer Art und Weise, dass es uns schwerfällt, ihr Vorgehen zu glauben, kann er sich darauf berufen, dass es nun mal so gewesen sei. Die Figur einer fiktiven Geschichte darf das nur in den seltensten Fällen, ohne dass es dem Autor als Fehler angerechnet wird, und selbst dann muss er es gut vor- oder nachbereiten.

Figuren sind keine Personen. Die Komplexität einer Person lässt sich schon im wahren Leben nicht erfassen. Sie sorgt dafür, dass Personen unberechenbar sind, dass wir nie mit Sicherheit ihren nächsten Schritt einschätzen können und dass sie sich vor allem in Extremsituationen häufig völlig überraschend verhalten. Jemand, der von seiner Umwelt gewöhnlich als besonders mutig wahrgenommen  wird, kann plötzlich in einer eigentlich harmlosen Situation den Schwanz einziehen, ohne dass sich dafür eine vernünftige Erklärung finden lässt. Jemand, der in seinem Umfeld ausgesprochen freundlich, nachsichtig und gerecht handelt, kann unter gewissen Umständen ganze Völker ausrotten wollen. Zwei Personen, die praktisch unter denselben Umständen groß geworden sind, können sich zu völlig entgegengesetzten Persönlichkeiten entwickeln.

Figuren handeln dagegen immer in einem gewissen Rahmen berechenbar, begründet und konsequent. Eine Figur entwickelt sich logisch aufgrund ihrer Vergangenheit bis hin zu dem Charakter, der sich dem Leser vorstellt. Auch im Verlauf der Handlung lässt sich ihre Entwicklung logisch nachvollziehen. Und sie handelt hinsichtlich ihrer (textimmanenten) Ziele und der Ziele des Autors. Dabei entspricht ihr Handeln ihrem Charakter.

Figuren sind also ganz im Gegensatz zu real existierenden Personen in ihrem Charakter und ihren Handlungsweisen strukturiert.

2. Gedankengewebe

Zu Figuren in Gedichten lässt sich nicht allzu viel Sinnvolles sagen. In vielen kommen Figuren direkt gar nicht vor. Dort, wo sie anzutreffen sind, ist es stark von der Art des Gedichts abhängig, wie sie beschaffen sind. In erzählender Dichtung können Figuren ähnliche Eigenschaften aufweisen wie in erzählender Prosa. Viel häufiger werden wir aber in Gedankenlyrik auf Figuren treffen, die wenig mehr als Projektionskörper für die Gedanken und Gefühle des lyrischen Subjekts sind.

Ein lyrisches Subjekt, eine Erzählinstanz gibt es dabei immer. Und – ob es dem Dichter bewusst ist oder nicht – sie ist nicht der Dichter selbst, sondern eine Figur des Textes. Selbst der Dichter, der der festen Überzeugung ist, seine eigenen Gedanken und Gefühle in Strophen zu fassen, wird bestenfalls einen Ausschnitt seiner selbst im Gedicht unterbringen, der zudem noch durch den Ausdruck in sprachlicher Form verfremdet wird.

Meist setzt der Dichter das lyrische Subjekt aber bewusst als von ihm unabhängige Erzählinstanz ein.

Häufig gibt es auch ein "Du" in einem Gedicht, das Abbild eines realen Gegenübers in der Vorstellung des lyrischen Subjekts sein kann (1), aber auch ein Pronomen für eine nicht näher definierte Allgemeinheit (2). Ebenso kann es den Leser direkt ansprechen (3).

(1) Sehe deine Augen, wünsche mich zu dir

(2) Kommst du in das Land der Träume / wartet deine Kindheit auf dich

(3) Will mit diesen Zeilen, dir zeigen eine Welt

In der Regel sind Figuren in der Lyrik vollumfänglich von der Vorstellungswelt des lyrischen Subjekts bestimmt. Deutlicher als in anderen literarischen Textsorten sehen wir im Gedicht Figuren durch die Augen des lyrischen Subjekts, sind es doch seine Gedanken und Gefühle, die uns nahegebracht werden sollen.

3. Der Charakterzug

Während in Romanen Figuren mit vielschichtigen Charakteren die Hauptrolle spielen sollten, eignen sich kurze Texte kaum dazu, einer Figur entsprechend viel Raum einzugestehen. Es wird in der Regel nicht gelingen, eine Figur in Kurzprosa derart in den Mittelpunkt zu stellen, dass sie für den Leser in ihrer Komplexität als vollständig erscheint. Vielmehr dienen Figuren in Kursprosa als Transportmittel. Sie transportieren Handlung, Stimmungen, Gedanken, Sprache, …

Je nachdem, was für einen Text wir schreiben wollen, wählen wir die Figur(en) und deren Eigenschaft(en), die uns zu diesem Zwecke dienen können. Wir vernachlässigen also die Komplexität zugunsten zweckdienlicher Eigenschaften, die dafür besonders herausgearbeitet werden. Zwar erschaffen wir damit im Grunde mehr oder weniger eindimensionale Figuren, mit etwas Geschick wirken diese dennoch nicht wie Pappkameraden.

Sind die ausgeführten oder skizzierten Eigenschaften einer Figur in kurzer Prosa schlüssig dargestellt, ergänzt der Leser manch fehlende Eigenschaft in seiner Fantasie. Das ist auch gut so, weil dem Autor sonst nur die Möglichkeit bliebe, die Eigenschaften einer Figur auf verhältnismäßig engem Raum beschreibend aufzuzählen, was jeden Text schwülstig und schnell langweilig werden lässt.

Das gilt auch für solche Texte, die den Leser für das traurige Schicksal einer Figur erwärmen wollen. Manch ein Autor glaubt, er müsse durch besonders ausführliche Beschreibung der äußeren Umstände, des Werdegangs und des Gefühlslebens des Protagonisten, das Leid dieser Figur für den Leser greifbar machen. Tatsächlich knüpfen solche Texte an Leidenserfahrungen an, die jeder Leser kennt und die bei ihm deutlich dezenter und zugleich wirkungsvoller wachgerufen werden können.

Denn während der Leser eine Romanfigur für längere Zeit begleitet, ihre Eigenarten und Liebenswürdigkeiten kennenlernt, indem er sie selbst im Umgang mit dieser Figur erleben kann, bleibt ihm die Figur des kurzen Textes weitgehend fremd. Da hilft es ihm wenig, wenn ihm ein dritter (der Erzähler) von ihr berichtet, denn das ist keine Erfahrung aus erster Hand.

Will der Autor dennoch ein Mitfühlen beim Leser erzeugen, erreicht er das nicht über die Figur direkt, sondern indem die Figur wie ein Platzhalter für die Gefühlserfahrungen des Lesers funktioniert.

Nimmt man es genau, brauchen gerade Texte, die über tragische Figuren das Mitgefühl des Lesers erreichen wollen, besonders wenig "Figur".

Wenn wir auf der Straße auf ein Paar treffen, das uns völlig unbekannt ist, reicht es oft schon, dass die Frau mit demütiger Pose, hängenden Schultern und traurigem Blick von ihrem Partner schroff zurechtgewiesen oder gar beschimpft wird. Sofort kennen wir die Geschichte der beiden, wissen, welches Leid die Frau tagtäglich zu erdulden hat und mit welchen gewalttätigen Ungerechtigkeiten der Mann sie foltert.

Denn es ist eine Geschichte, die bereits jeder von uns kennt, aus den Medien und manche auch aus dem eigenen sozialen Umfeld. Eine Geschichte, in der wir automatisch Partei ergreifen und Mitgefühl zeigen, ohne mehr über diejenige erfahren zu müssen, der unser Mitgefühl gilt.

Der Autor muss also nur wenige Zeichen setzen, um den Leser auf die Seite seiner Figur zu ziehen und kann sich stattdessen darauf konzentrieren, seiner Figur und seiner Geschichte etwas Eigenes zu geben.

Generell muss also der Autor von Kurzprosa sein Augenmerk weniger auf ausgereifte Figuren legen, sondern auf seine Intention. Erfordert der Konflikt einer Geschichte einen besonders kämpferischen Charakter, ist es diese Eigenschaft, die in den Mittelpunkt rückt, prüft eine Geschichte die Prinzipientreue oder den Gerechtigkeitssinn, wird der Autor für sie entweder eine Figur erschaffen, die ihre Prinzipien zuoberst stellt, oder eine, die sich der Gerechtigkeit verschrieben hat. Und zwar immer auf die jeweilige Eigenschaft fokussiert. Weitere Eigenschaften, wie die Figur so geworden ist, wen sie alles kennt usw., spielen in der Geschichte bestenfalls eine untergeordnete Rolle.

Gerade weil dem Autor damit nur wenige Striche bleiben, um eine Figur zu zeichnen, die der Leser dennoch als schlüssig und komplett wahrnimmt, wird er sich gründlich mit ihr beschäftigen müssen.

4. Konsequente Helden

Hinsichtlich ihrer Komplexität erinnern Protagonisten in Romanen noch am ehesten an Personen, wie wir sie auch aus unserer realen Umgebung kennen. Sie haben ein Leben hinter sich, das ihnen eine Geschichte verleiht, sie stehen in vielfältigen Beziehungen mit ihrer Umgebung und anderen Figuren, sie haben einen Alltag, gehen arbeiten, genießen ihre Freizeit, haben Hobbys, Vorlieben, es gibt Dinge, die sie nicht leiden können oder sogar hassen, sie haben Familie, sie lieben, verfügen über Stärken und Schwächen und müssen sich mit jeder Menge kleinerer und größerer Probleme herumschlagen.

Der entscheidende Unterschied bleibt aber bestehen: Wie bei allen Figuren sind auch bei unseren Romanprotagonisten all diese Eigenschaften vom Autor erschaffen, um einen Charakter erstehen zu lassen. Nicht irgendeinen, sondern einen ganz bestimmten, der der Geschichte dient. Es entsteht also ein strukturierter Charakter, der vielschichtig sein kann und auch widersprüchlich wirken kann, der aber immer eine relative Stringenz behält. Wie alle Figuren sind sie konsequent.

Diese Konsequenz geht aber noch weiter.

Im wahren Leben gehen wir Konflikten in der Regel, soweit es uns möglich ist, aus dem Weg. Das gilt sowohl im Alltag wie auch in Extremsituationen.

In Beziehung, Familie, Bekannten- oder Kollegenkreis scheuen wir die Auseinandersetzung. Und zwar auch diejenigen, die scheinbar keiner Konfrontation aus dem Wege gehen, denn auch die tun das meist nur in dem Wissen, dass sie mit wenig oder keiner Gegenwehr zu rechnen haben, oder weil sie nicht mit Konsequenzen rechnen müssen.

Oft versuchen wir, Probleme auszusitzen, hoffen, dass sie sich irgendwie regeln werden. Gefahren versuchen wir soweit als möglich zu vermeiden.

Das trifft natürlich nicht auf jeden in gleichem Maße zu, aber selbst ein Soldat, der sich freiwillig (und möglicherweise mit Begeisterung) in die Extremsituation eines Kampfeinsatzes begibt, wird sich innerhalb einer solchen Situation möglicherweise anders verhalten, als es eine Romanfigur tun müsste.

Auch sind im wahren Leben die Ziele, die wir im Leben (oder in einem Abschnitt desselben) erreichen wollen, häufig eher diffus und für unser Handeln kaum von prägender Natur. Falls wir überhaupt welche haben, leben wir entweder dennoch eher so vor uns hin und träumen davon, dass sie irgendwann wie von selbst eintreffen, oder wir arbeiten mal mehr und mal weniger konsequent daraufhin. In den seltensten Fällen unternehmen wir auch dann alles, um sie zu erreichen, wenn dem Hindernisse im Weg stehen, die ein ernsthaftes Scheitern zur Folge haben könnten. Nicht umsonst empfinden wir die wenigen Fälle, in denen Menschen ohne Rücksicht auf eigene Verluste für ihre Ideale einstehen als außergewöhnlich, als heldenhaft.

Der Protagonist verfolgt sein konkretes Ziel mit letzter Konsequenz. Das macht ihn zum überlebensgroßen Helden, auch dann, wenn er im klassischen Sinne gar kein Held ist. Er gibt nie endgültig auf, und wenn er dem Aufgeben nahe ist, genügt ein Anstoß, um ihn wieder auf den Weg zu bringen.

Nehmen wir einen Romeo, der sich zwischen seinem Vater und seiner Liebe entscheiden muss, und zwar in einer Entscheidung, die tatsächlich jeden Kompromiss ausschließt. Es fällt uns schon schwer, uns in unserem Alltag ein ähnliches Problem in solch vollkommener Ausschließlichkeit vorzustellen. Und falls wir in eine solch dramatische Entscheidungssituation kämen, in der wir unweigerlich eine Seite für immer aufgeben müssten, wäre es nicht unwahrscheinlich, dass wir so lange herumlavieren würden, hoffend, dass sich noch irgendein Ausweg findet, bis wir uns in eine Ecke setzen würden, um zu verzweifeln.

Noch deutlicher wird es am Beispiel von Frodo aus "Herr der Ringe". Versuchen wir uns vorzustellen, wir kämen in eine vergleichbare Situation, in der unsere Heimat für immer zerstört würde, wenn wir nicht aufbrächen, um uns in Gefahren zu begeben, die mit ziemlicher Sicherheit unseren Tod bedeuten, nur mit dem kleinen Funken Hoffnung ausgestattet, dass uns das Unmögliche gelingt.

Vermutlich würden wir gar nicht aufbrechen oder zumindest recht bald aufgeben, uns noch kleiner machen, als es ein Hobbit schon ist, und darauf hoffen, dass irgendein anderer die Kastanien aus dem Feuer holt.

Es könnte gar nicht anschaulicher sein, wie Tolkien stattdessen seinem Protagonisten schon bald offenbart, dass es keine Auswege gibt, schlimmer noch, dass er zur Lösung des Konflikts genau zu dessen Quelle ins Land des Antagonisten reisen muss.

Und das gilt letztlich für jeden Protagonisten. Er muss sich dem Konflikt stellen und tut das mit letzter Konsequenz. Der Autor muss dafür sorgen, dass es keine Auswege oder Alternativen gibt, um das Ziel zu erreichen, ein Thema, das beim Konflikt noch näher behandelt werden soll.

Wichtig ist, dass wir uns klarmachen, wie unsere Figuren handeln und wie sie sich dabei von den Personen unseres realen Umfelds entscheiden. Ob eine Figur vor der Aufgabe steht, die Welt zu retten, seine wahre Liebe zu finden, eine Krankheit zu besiegen, einen Job zu ergattern, einen Banküberfall durchzuführen oder sich mit dem Vater auszusprechen, ob sie ihr Ziel erreicht oder endgültig scheitert, sie beschreitet diesen Weg immer entsprechend ihrer Charaktereigenschaften und mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen.

Sie handelt also immer an den Grenzen ihrer Möglichkeiten. Das gilt in jede Richtung. Ob eine Figur besonders clever oder besonders dumm handelt, sie tut es nie nur ein bisschen. Es mag sein, dass der Autor tagelang über den Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation grübelt, während die Figur in wenigen Sekunden auf die Lösung kommt. Genauso kann eine Figur fröhlich und beschwingt kein Fettnäpfchen auslassen, wenn selbst der größte Trottel mal etwas merken würde.

Das mag extrem klingen, aber Figuren handeln nicht nur in Extremsituationen so. Figuren lieben intensiver und kompromissloser, sie flirten charmanter, sie unterhalten sich pointierter, sie sind schlagfertiger, sie sind näher am Wasser gebaut, sie sind zorniger, sie langweilen sich interessanter usw.

Und genau so wollen wir es auch lesen! Den Mann, der seine große Liebe immer nur aus der Entfernung betrachtet und den ganzen Roman über hilflos zuschaut, wie sein Arbeitskollege ihr den Hof macht, den kennen wir aus dem wahren Leben zur Genüge. Lesen wollen wir von dem, der im Rahmen seiner Möglichkeiten – und seien sie noch so bescheiden – alles unternimmt, um sich wenigstens eine klitzekleine Chance zu bewahren.

5. Wo bleibt die Glaubwürdigkeit?

Nun könnte man ja denken, dass Figuren, die sich in der Konsequenz ihrer Eigenschaften und Handlungen derart von lebenden Personen unterscheiden, jede Glaubwürdigkeit verlieren.

Wie schon gesagt wünschen wir uns als Leser aber Figuren, die in allem wenigstens einen Tick besser sind als der Normalbürger, denn sonst müssten wir ja gar nicht erst ein Buch lesen. Wir gehen daher eine Art Pakt mit dem Text ein, in dem wir spannende Unterhaltung geliefert bekommen und dafür darüber hinwegsehen, dass es viel wahrscheinlicher gewesen wäre, wenn der "Held" den Weg des geringsten Widerstands gegangen wäre oder sich gleich aus dem Staub gemacht hätte.

Damit dieser Pakt funktioniert, muss der Autor aber einige Punkte beachten:

5.1. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich

Wie schon gesagt handeln Figuren immer im Rahmen ihrer Möglichkeiten, also entsprechend ihres Potentials, auch wenn sie es voll ausschöpfen. Wenn also beispielsweise eine Figur im bisherigen Verlauf der Handlung nicht gerade mit körperlicher Leistungsfähigkeit geglänzt hat, sollte sie bei allem Ehrgeiz ein anstehendes Problem nicht mithilfe eines sportlichen Wettkampfs lösen müssen, es sei denn sie trifft auf Gegner, die ähnlich schwach auf der Brust sind.

5.2. Der Zwang der Umstände

Es ist wichtig, dass der Autor die Umstände, unter denen seine Figuren agieren müssen, so wählt, dass die Figuren gezwungen sind, ihr ganzes Potential abzurufen.

Ein Beispiel, um das zu veranschaulichen:

Thomas steht vor einem Fluss und will ans andere Ufer. Sein Problem: Er ist extrem wasserscheu. Damit nicht genug, es wimmelt in dem Fluss von Krokodilen. Er wäre schön blöd, wenn er jetzt das Risiko einginge. Vernünftiger wäre, in Ruhe nach einer Brücke zu suchen oder wenigstens eine Stelle zu finden, an der keine oder weniger Krokodile lauern. Und er könnte ja auch einfach entscheiden, dass es am diesseitigen Ufer auch sehr schön ist.

Es ist nun die Aufgabe des Autors, Thomas einerseits die Gründe zu liefern, warum die Überquerung des Flusses für ihn von existentieller Bedeutung ist, ihm andererseits die Alternativen zu nehmen, die eine Überquerung genau hier und jetzt unnötig machen könnten.

Thomas will also ans andere Ufer, weil er dort seinen besten Freund Klaus treffen muss, um ihn vor Bösewicht Rüdiger zu warnen, der Klaus umbringen will. Sein Handy hat er im afrikanischen Dschungel verloren. Er weiß, dass Rüdiger noch am selben Abend in dem Dorf eintreffen wird, in dem sich der ahnungslose Klaus aufhält. Würde Thomas den Umweg über die Brücke nehmen, müsste er etwa acht Stunden Richtung Süden gehen und würde hoffnungslos zu spät kommen. Wenn er den Fluss nicht hier und jetzt überquert, ist sein bester Freund des Todes.

Romanfiguren werden also ständig vor Entscheidungen gestellt. Diese müssen lange nicht so dramatisch sein wie die in unserem Beispiel, aber sie sind zur Erreichung des Ziels der Figur immer existentiell. Und der Autor muss sie so einrichten, dass der Figur kein Ausweg bleibt, dass ihr nur die Wahl zwischen ihrem Ziel und dem Scheitern bleibt und die Figur dafür möglichst bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gehen muss.

5.3. Konsequent heißt nicht eindimensional

Die bisherigen Ausführungen zeigen es noch einmal deutlich: Es geht nicht darum, Helden im Sinne von Übermenschen zu erschaffen. Die Möglichkeiten und Fähigkeiten einer Figur können durchaus sehr begrenzt sein, denken wir nur wieder an Frodo aus "Herr der Ringe".

Auch werden vielschichtige Figuren zweifeln, innere Kämpfe austragen und sogar scheitern. Sie haben Schwächen, Ängste und dunkle Seiten. Die Konsequenz liegt aber auch darin, dass sie die inneren Kämpfe austragen, dass ihnen ihre Zweifel gegenwärtig sind und sie sich mit ihnen auseinandersetzen, dass sie ständig mit ihren Schwächen konfrontiert werden, ihre Ängste und dunklen Seiten ausleben.

Es ist der Autor, der dafür sorgen muss, dass die Figur auch hier – anders als oft im realen Leben – keine Schlupflöcher findet, um dem aus dem Weg zu gehen.

Veröffentlicht am 06.08.2010
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