Wenn man sich mal ein wenig im Internet umschaut und sich durch Seiten wie mystorys etc. klickt, dann wird man wohl sagen können: es wird viel Lyrik geschrieben. Gedichte werden teilweise auf täglicher Basis produziert und erfreuen sich offenbar durch sämtliche Altersklassen hindurch großer Beliebtheit.
Versucht man, die Gedichte anhand von literarischen Vorbilder zu kategorisieren, so fallen mir vor allem zwei "Hauptgruppen" auf: Zum einen witzige, gut gelaunte Gedichte (nach Art etwa eines Christian Morgenstern oder Wilhelm Busch) meist gereimt, häufig in Vier-Vers Strophen, die des öfteren eine Art Lebensweisheit oder einfach alltägliche Erfahrungen vermitteln und hin und wieder am Ende mit einer überraschenden Wendung ins sarkastische oder sozialkritische umschlagen können. Zum anderen eher nachdenkliche, melancholische Texte, die an die Romantiker erinnern (Eichendorff, Heine und wie sie alle heissen), meist mit Herz-Schmerz Thematik oder Naturimpressionen, gereimt oder frei, auch gerne mal in Richtung Lied tendierend. Natürlich gibt es auch immer wieder Ausreisser in Richtung Lautpoesie oder experimentelle Lyrik, aber das soll auch nur eine allgemeine Zuordnung sein.
So gesehen sind die bevorzugten und am häufigsten aufgegriffenen Traditionslinien doch sehr 'historische'. Der Einfluss der Romantik etwa ist, auch 200 Jahre nach deren Entstehung, in den Texten von uns Hobby- und Nachwuchsautoren kaum zu übersehen.
Aber wie sieht es mit der Gegenwartslyrik aus? Damit meine ich Texte, die heute geschrieben werden, von Leuten, die teilweise kaum älter sind als ich, die unsere Lebenswirklichkeit teilen. Mein Eindruck: sie wird so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen. Und die Verkaufszahlen bestätigen das: kaum ein neuer Lyrikband wird in Auflagen von über 1000 Exemplaren gedruckt, 1500 ist das höchste der Gefühle und eine 2. Auflage ist so gut wie undenkbar. Und während denke ich jeder hier zumindest rudimentär etwas mit Namen wie Goethe, Hölderlin, Heine und Rilke anfangen kann, sieht es dagegen bei Jan Wagner, Anja Utler, Ann Cotten und Josef Czernin wohl eher düster aus (sollte dem nicht so sein, wäre ich glücklich, eines besseren belehrt zu werden).
Dies also mein Eindruck. Meine Frage: woran liegt das? Woran liegt es, dass wir Texten von Dichtern, die 100-200 Jahre vor uns gelebt haben, scheinbar mehr abgewinnen können als Menschen, die unsere Lebenswirklichkeit teilen?
Liegt es an den Texten selbst? Sind sie einfach zu hermetisch, dunkel und unverständlich (wie ihnen oft vorgeworfen wird), und haben uns deshalb nichts zu sagen? Liegt es an der Verfügbarkeit? Ist es einfach zu schwer, an diese Gedichte heranzukommen; oder gehen sie deshalb einfach an uns vorbei? Liegt es an uns? Sind wir einfach zu sehr an klassische Lyrik gewöhnt (noch aus der Schule, dem Studium etc.) und nicht in der Lage, uns auf neues einzustellen?...
Wie gesagt, wenn mein Eindruck falsch ist, freue ich mich auf Belehrung. Ansonsten würde ich mich sehr für mögliche Antworten interessieren....
Misanthro Klar: die Lyrik entwickelt sich weiter. Und klar: auch die jungen Autoren haben ihre klassischen Vorbilder und sind mit deren Mitteln produktiv. Nur sind, wie gesagt, fürchte ich, die letzten 50 Jahre dieser Entwicklung an den meisten vorbeigegangen. Was du zur Überflutung gesagt hast, ist denke ich wahr, und ging mir zunächst auch so. Wenn man allerdings erstmal weiß, wo man schauen muss, fällt die Orientierung eigentlich gar nicht mehr so schwer. In dem Zusammenhang ist mir auch schon die Idee gekommen, ob man nicht, auf Basis dieses Blogs etwa, eine kleine Einführung bzw. Übersicht über die Gegenwartslyrik geben könnte; etwa in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen einen Autoren und dessen Werke kurz vorstellen könnte. Ich weiß allerdings nicht , wie das rechtlich aussieht, ob ich das hier so ohne weiteres machen kann. Und ich weiß auch gar nicht, ob das Interesse da ist. Mal abwarten, ob sich noch andere zu Wort melden; ansonsten könnte ich ja mal im Forum nachfragen... |
Luzifer An dieser Generation wird sich auch nichts ändern (jedenfalls nicht bei denen, die nicht schon damit etwas zu tun haben). Diese (unsere) Generation ist so sehr auf elektronische und visuelle Mittel fixiert, dass einige schon ausrufen "Ein Buch?! Spinnst du? Ich habe Fernsehen." Wenn es ein Einzelfall wäre, wäre dies ja kein Problem. Dem ist aber leider nicht so. Was uns nun hier angeht (oder halt Interessierte; wobei ich nun nur von meiner Seite aus sprechen werde), so kann ich mir dies auch nur damit erklären, dass es vielleicht einfach eine Überflutung ist. Man kann nicht mehr abschätzen, was gut und was nicht ist. Um alles durchzugehen (da es an Empfehlungen teilweise mangelt, weil schlicht nicht rezipiert wird), bräuchte man eine Unmenge an Zeit, die man in dieser schnellen Gesellschaft aber meistens nicht mehr hat. Aber ich glaube auch nicht, dass die Lyrik eine abgeschlossene Sache ist. Im Gegenteil. Ich bin sogar der Meinung, dass sie noch in Kinderschuhen rumläuft. Der Eindruck ist tatsächlich da, aber bedeutet dies, dass man gleich alles Alte über Bord werfen muss? Ich bin mir sicher, dass wenn man sich einige neue Werke anschaut, man auch Ableitungen zu den alten Stilen finden wird. Sie ist sicher nicht abgeschlossen, die Lyrik, sie entwickelt sich weiter. Und wenn nun Lyrikbände erscheinen, die nichts mit der konventionellen Form zu tun haben, ist dies nicht ein Zeichen dafür, dass es nicht hoffnungslos ist? |
Luzifer Ich glaube weniger, dass es was damit zu tun hat, dass es an den Texten oder der Kompliziertheit der Werke liegt, sondern vielmehr damit, dass die "Alten" einfach so bekannt sind. Wie du schon geschrieben hast, haben sie Jahrhunderte überdauert. Wer sagt, dass dies nicht auch auf Werke zutreffen wird, die heute erscheinen? Aber war es nicht schon immer so, dass die Visionäre und Künstler in ihrer Zeit (so gut wie immer) verkannt wurden? Ich muss zugeben, dass die Namen, die du aufgeführt hast, mir auch nichts sagen. Andererseits interessiere ich mich auch mehr für Geschichten, als Lyrik (auch wenn das eine auch das andere sein kann). Und wenn wir wirklich so uninteressiert wären, würden wir wahrscheinlich auch nicht hier schreiben und lesen. ;) Bei einer Sache muss ich aber leider etwas bestätigen. Wir sind wirklich sehr auf klassische Lyrik (meist von der Schule, weil dies dort einem eingetrichtert wird) gewöhnt. Wir versuchen aber auch Ausbrüche aus der Norm ;) LG Luzifer |