Biografien & Erinnerungen
Der Tag, als Anna starb

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"Der Tag, als Anna starb"
Veröffentlicht am 09. August 2008, 10 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Es fällt mir nicht leicht, etwas über mich zu schreiben. Also ganz kurz: 52 Jahre alt,glücklich geschieden, Mutter von drei Superkindern, Psychologisch-technische Assistentin - fühle mich viel jünger als ich bin. Noch Fragen, dann fragt ruhig, ich stehe jederzeit Rede und Antwort.
Der Tag, als Anna starb

Der Tag, als Anna starb

Es wird mal wieder Zeit, eine Schublade zuzumachen, dass kann ich aber nur dann, wenn ich mir etwas von der Seele schreibe. Deshalb berichte ich heute davon, wie Anna, damals die beste Freundin meiner Tochter, gestorben ist. Anna ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, fast vor unserer Haustür.

 

Ich kann mich noch gut daran erinnern, denn es war ein strahlender Sommertag. Wir wohnten damals an einer viel befahrenen Bundesstraße. Wegen der Kinder, die diese Straße regelmäßig überqueren müssen, aber auch wegen der Vielzahl der Unfälle, die dort schon passiert waren, gab es dort eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h. Meine Kinder und ich waren gerade im Wohnzimmer, als ich meinen mittleren Sohn, Dirk, bat, etwas vom Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu holen. Schon ganz kurz darauf stand Dirk mit schreckerweiterten Augen vor der Haustür und sagte: „Mitten auf der Straße liegt ein kleines Mädchen, das da gerade überfahren wurde. Ich weiß nicht, wer das ist.“ Schnell erteilte ich meinen Kindern die Anordnung, das Haus nicht zu verlassen, weil sie erstens sowieso nicht helfen können und weil ich meinen Kindern, wenn es möglich war, die Bilder von Autounfällen gerne ersparen würde. Unser Nachbar war schon mit seinem Erste-Hilfe-Koffer vor Ort. Sogar ein Bundeswehrfahrzeug, in dem sich auch ein Arzt befand, war an der Unfallstelle. Ich zitterte wie Espenlaub, als ich jemanden sagen hörte: „Ich glaube, das ist Anna.“ Anna, schoss es mir durch den Kopf, Swea darf sie so auf keinen Fall sehen. Gleichzeitig dachte ich daran, dass Annas Mutter OP-Schwester war und schickte meinen Sohn, der mir natürlich doch gefolgt war mit den Worten ins Haus: „Ruf sie mal schnell an, vielleicht kann sie helfen.“ Ich habe ehrlich gesagt über diese Reaktion nicht lange nachgedacht, es kam mir irgendwie logisch vor.

Der Schrei von Annas Mutter, tönt mir noch heute in meinen Ohren. So einen Schrei habe ich vorher und auch hinterher nie wieder gehört. Aber sie wurde gar nicht mehr zu ihrem Kind gelassen. Über uns kreiste schon ein Rettungshubschrauber.

Ich war wieder ins Haus gegangen, weil ich das Gefühl hatte, an der Unfallstelle sowieso nicht helfen zu können und für meine Kinder da sein zu müssen. Kaum betrat ich das Haus, als auch schon das Telefon klingelte. Es war die Mutter einer gemeinsamen Freundin von Swea und Anna. Sie fragte mich, was los sei. Ich erzählte es ihr stockend in wenigen Worten. Sie meinte nur: „Bring Swea hierher, damit sie nicht so viel davon mitbekommt. Gesagt getan: Ich führte Swea zu unserem Auto und gab ihr die Anweisung, sich hinter den Fahrersitz zu kauern, damit sie ja nicht einen Blick auf die Unfallstelle werfen könnte. Dann fuhr ich durch den Wald, damit wir nicht die Bundesstraße passieren müssten, zu ihrer Freundin Jasmin. Gott sei Dank konnten die Mädchen sich gleich durch Spielen ablenken. Kinder in dem Alter, sie waren damals alle sieben Jahre alt, können die Tragweite eines solchen Geschehens auch noch gar nicht abschätzen. Edda sah mich an und sagte nur: „Du zitterst ja, du bist völlig fertig, so lasse ich dich nicht auf die Straße, ich mache uns erst einmal einen Kaffee.“

Über den Unfall haben wir in den nächsten Stunden nur wenig gesprochen. Es war, als wäre das eine völlig andere Welt.

Abends dann, rief Daniel, der Bruder von Anna an und erzählte mir, dass er sich auch im Namen seiner Eltern dafür bedanken wollte, dass wir angerufen hätten. „Und wie geht es Anna?“ fragte ich zaghaft. „Sie hat sich etwas stabilisiert, sagten die Ärzte“, antwortete er leise.

Früh am nächsten Morgen erhielt ich einen Anruf vom Fahrer des Unfallwagens. Er meinte, dass ihm jemand erzählt hätte, dass meine Tochter und Anna sehr gut befreundet waren und er würde sich große Sorgen machen. Er war siebzig Jahre alt. Seine Frau und er waren mit einem sehr kleinen Wohnwagen auf den Weg in den Urlaub an die Nordseeküste. Anna, so erzählte er, hätte er erst gesehen, als sie drei Meter vor seinem Fahrzeug zwischen zwei geparkten Autos auf die Straße gerannt wäre. Was nützte es da, dass er sich an die vorgeschriebene Geschwindigkeit gehalten hatte? Der Abstand war einfach zu gering, weder er noch Anna hatten eine Chance. Im Nachhinein hat sich mir sehr oft ein Bild in mein Gedächtnis gebrannt, ein Bild von Anna, wie sie plötzlich auf der Straße stand und für einen Augenblick dem Fahrer in die Augen blickte, bevor es krachte.

Der Mann erkundigte sich nach Annas Zustand und ich erzählte ihm das, was Daniel mir am Vorabend berichtet hatte. „Das wäre ja zu schön, ich habe Enkelkinder in dem Alter, wenn ihr jetzt Schlimmeres passiert ist…..“ Er stockte und ich fühlte eine große Hilflosigkeit.

Gegen Mittag kam Daniel dann zu uns. Fröhlich fragte ich ihn: „Na, wie geht es Anna?“ Traurig sah er uns an und murmelte nur: „Anna ist tot.“ Für einen Moment war es total still bei uns im Haus, dann brachen wir auch schon gemeinsam in Tränen aus. Ich stellte verschiedene Fragen wie: „Ich denke, sie hatte sich stabilisiert? Wieso?“ Heute erscheinen mir meine Worte zusammenhanglos und wirr, aber wie reagiert man in so einer Situation?

Dann meinte Swea immer noch weinend: „Ich muss zu Anna, ich muss ihr noch soviel sagen.“ Ich erklärte ihr, dass Anna sie nicht mehr verstehen könne. „Aber wieso?“ fragte Swea: „Sie ist doch noch im Krankenhaus. Ich muss unbedingt hin.“ Es war schwer, mein Kind davon zu überzeugen, dass es nicht gut sei, mit ihr ins Krankenhaus zu fahren. Wieso, fragte ich mich, macht man sich nicht rechtzeitig Gedanken darüber, wie man mit Kindern über den Tod spricht? Plötzlich ist er da und ich als Mutter stehe völlig hilflos davor, weiß dann nicht mehr, was ich sagen soll. Gegen Abend fragte mich Swea: „Du Mama, ist Anna jetzt bei den Dinosauriern? Ich meine nur, die sind doch auch tot.“ Ja, was sollte ich jetzt darauf antworten? Anna bei den Dinosauriern? Wäre es das, was mein Kind sich wünschen würde?

 

Die Zeit danach war eine schwere, bedrückende Zeit. Ich ging zwar mit zu Annas Beerdigung, weigerte mich aber, meine Kinder mitzunehmen. Es befand sich nur eine kleine Trauergemeinde in der Kirche. Nach dem Gottesdienst wurde der Sarg auf einen Leichenwagen geladen und nach Strahlsund gebracht. Dort sollte Anna dann beerdigt werden.

 

„Ich werde Annas Mutter besuchen“, sagte ich immer wieder, aber immer wieder fand ich für mich selbst Ausreden wie: Jetzt hätte Anna Geburtstag gehabt, jetzt kommt bald die Vorweihnachtszeit, zum Jahreswechsel geht es sowieso nicht. Dann aber wurde ich auf eine unangenehme Art und Weise wachgerüttelt. Bei einer Feier im Bekanntenkreis saß neben mir eine junge Frau, die mir erzählte, dass vor kurzem ihr Vater gestorben sei. „Seitdem“, sagte sie: „Behandeln uns die Leute wie Außerirdische. Wenn sie uns kommen sehen, dann wechselnd sie die Straßenseite, im Supermarkt wechseln sie den Gang, um uns nicht zu begegnen. Ich habe doch nichts getan, ich würde mir so wünschen, dass endlich mal wieder jemand mit mir spricht.“

Ich saß da wie versteinert: Du bist so feige, sagte ich mir, du drückst dich um den Besuch bei Annas Mutter, weil du Angst vor dieser Begegnung hast, dabei ist es vielleicht gerade das, was sie jetzt braucht, jemanden, der mit ihr spricht.

Gleich am nächsten Morgen verabredete ich ein Treffen mit Annas Mutter. Wie ein Häufchen Elend stand ich da vor der Tür. Als sie die Tür öffnete, fielen wir uns weinend in die Arme. Worte waren in dem Moment überhaupt nicht nötig. „Danke noch mal“, sagte sie: „Dafür, dass ihr mich angerufen habt. Es war gut für mich, mich so von Anna verabschieden zu können. Wenn ich mir vorstelle, dass später irgendwann Polizisten zu mir gekommen wären und mir von dem Unfall erzählt hätten, nicht auszudenken.“ Mehrere Stunden habe ich bei ihr zugebracht. Zum Schluss konnten wir uns sogar über gemeinsame Streiche unserer Töchter unterhalten und ein wenig zusammen lachen. Zum Abschied sagte sie dann: „Wir ziehen hier weg, nächsten Monat schon. Ich muss jeden Tag an der Stelle vorbeifahren, an der mein Kind gelegen hat, das kann ich nicht mehr.“

 

Eine traurige Geschichte, ich weiß, aber eine Geschichte, die mir die Erkenntnis gebracht hat, dass ich in meinem Leben nie wieder feige sein werde. Ich werde Dinge, auch unangenehme Dinge viel eher angehen und nicht mehr davor weglaufen. Sicher sollte man von Fall zu Fall entscheiden, aber ich war über meine eigene Feigheit sehr schockiert.

Ich habe nur noch wenige Bilder von Anna, aber wir werden sie immer in unserem Herzen tragen.

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Über den Autor

Chrissy55
Es fällt mir nicht leicht, etwas über mich zu schreiben. Also ganz kurz: 52 Jahre alt,glücklich geschieden, Mutter von drei Superkindern, Psychologisch-technische Assistentin - fühle mich viel jünger als ich bin. Noch Fragen, dann fragt ruhig, ich stehe jederzeit Rede und Antwort.

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Chrissy55 Re: Bilder von Anna.. -
Zitat: (Original von Christina_Maverik am 15.08.2008 - 20:37 Uhr) Viele Kinder werden jeden Tag auf unseren Straßen überfahren.. leider viel zu oft durch überhöhte Geschwindigkeit, Alkohol am Steuer oder dadurch, daß ältere Menschen auch die Gewalt über ihr Fahrzeug verlieren - auch wenn es vielleicht in diesem Fall nicht so war.
Gut, wie Du das verarbeitet hast.. schreiben ist die beste Medizin ;-)
LG Christina


Danke, Christina, schreiben ist wirklich die beste Medizin. Nur kommen bei mir, wenn ich so etwas schreibe, alte Bilder wieder hoch und damit auch die Tränen, aber ich glaube im Endeffekt tut es mir einfach gut.
LG Chrissy
Vor langer Zeit - Antworten
aerztefan1412 Re: Re: Re: Re: ohh - da hste recht..
aber leider ist es manchmal so, dass man so sehr verletzt wurde, dass man es weder aufschreiben, noch erzählen kann
gruß
marina
Vor langer Zeit - Antworten
Christina_Maverik Bilder von Anna.. - Viele Kinder werden jeden Tag auf unseren Straßen überfahren.. leider viel zu oft durch überhöhte Geschwindigkeit, Alkohol am Steuer oder dadurch, daß ältere Menschen auch die Gewalt über ihr Fahrzeug verlieren - auch wenn es vielleicht in diesem Fall nicht so war.
Gut, wie Du das verarbeitet hast.. schreiben ist die beste Medizin ;-)
LG Christina
Vor langer Zeit - Antworten
Chrissy55 Re: Re: Re: ohh -
Zitat: (Original von aerztefan1412 am 15.08.2008 - 20:21 Uhr) das kenn ich leidera uch nur zu gut
oft fällt es auhc leichter es aufzuschreiben, als es zu erzählen
gruß
marina


Vor allem tut es irgendwie gut. Wenn mir jemand mal richtig wehgetan hat, dann habe ich auch schon bitterböse Briefe geschrieben, in denen ich meine Wut gut ablassen konnte. Ich habe diesen Brief allerdings nie abgeschickt, aber ich habe mir diese Person vorgestellt, habe sie vor mir gesehen, als würde ich meine Wut nicht in einem Brief schreiben, sondern der Person direkt ins Gesicht sagen. Das verschafft oft Erleichterung, glaube es mir.
LG Chrissy
Vor langer Zeit - Antworten
aerztefan1412 Re: Re: ohh - das kenn ich leidera uch nur zu gut
oft fällt es auhc leichter es aufzuschreiben, als es zu erzählen
gruß
marina
Vor langer Zeit - Antworten
Chrissy55 Re: ohh -
Zitat: (Original von aerztefan1412 am 15.08.2008 - 19:17 Uhr) eine sehr tragische geschichte
und sehr traurig
respekt, dass du eine solche geschichte aufschreiben konntest
gruß
marina


Danke, Marina, ich konnte sie nicht nur aufschreiben, ich musste es auch, das ist so meine Art, mit den Dingen fertigzuwerden. Allerdings muss ich dir gestehen, dass ich beim Schreiben geweint habe, weil ich wieder alles bildlich vor mir gesehen habe. Es wird sicherlich noch weitere Geschichten von mir geben, bei denen ich weinen muss, vor Traurigkeit oder vor Wut, ich kenn mich da recht gut.
LG Chrissy
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aerztefan1412 ohh - eine sehr tragische geschichte
und sehr traurig
respekt, dass du eine solche geschichte aufschreiben konntest
gruß
marina
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Anna - Tragische Geschichte. Ich habe noch niemanden sterben sehen. Und als Oma starb und Opa war ich noch sehr klein. Als Messdiener in der Kirche musste ich aber an vielen beerdigungen dienen. Ich waere immer selbst fast zusammen gebrochen wenn ich die Angehoerigen des verstorbenen weinen sah und im Hintergrund auch noch jemand ein trauriges Lied auf der Trompete zum Abschied spielte. Ich weiss nicht ob ich jemals wieder an einer Beerdigung teilnehmen werde. Ohne sedierende Mittel schaffe ich das wohl nicht.

Manni
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Chrissy55 Re: Das -
Zitat: (Original von rumpi am 09.08.2008 - 21:52 Uhr) ist eine traurige Geschichte.Aber alles was mit Krankheit oder sogar mit Tod zusammen hängt ist traurig.Ich freue mich für Anna,das sie weiter in eurem Herzen lebt und nie vergessen wird.

LG,Karsten


Danke, Karsten, mit der Zeit werden die Abstände zwar allmählich länger, aber gerade Swea und ich reden ab und zu immer noch mal über Anna und, was mich ganz besonders freut, Annas Bruder hat den Kontakt zu uns über all die Jahre hinweg aufrechterhalten. Er kommt uns auch heute noch besuchen. Ich habe zumindest für mich eine Lehre daraus gezogen und bin jetzt nicht mehr so feige, wie ich es damals war. Von daher war es eine zwar traurige, aber auch wichtige Erfahrung für mich.
LG Chrissy
Vor langer Zeit - Antworten
Chrissy55 Re: Tod -
Zitat: (Original von PaulG am 09.08.2008 - 21:45 Uhr) Da bleibt einem die Sprache weg - das sind so unheimlich schwere Lebenssituationen. Auch ich habe damals als mein Vater starb gelern, wie gut es tut, wenn die Leute einen ansprechen und nicht fliehen. Seither tue ich das auch und durfte schon oft spüren, wie das geschätzt wird.

*****
LG, Paul


Danke, Paul, ich habe mich damals für meine Feigheit sehr geschämt, obwohl ich auch die menschlich finde, aber als ich dann endlich mit Annas Mutter gesprochen hatte, habe ich gespürt, dass es auch ihr wichtig war und im Grunde genommen uns beiden wichtig war. Ich habe jedenfalls daraus gelernt. Es stimmt, was du sagst, dass es geschätzt wird.
LG Chrissy
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