PROLOG
Dicke, eisig kalte Regentropfen fielen vom Himmel, zerschnitten die schwüle Luft und speisten die dreckigen Pfützen, die sich nach den gestrigen Regenfällen noch erhalten hatten. Ein beißender Wind lenkte das Wasser nach rechts, sodass es die Frau, die den Gehsteig entlang hastete, direkt ins Gesicht traf. Einige Strähnen ihres langen Haares hatten sich aus einer einfachen Hochsteckfrisur gelöst und wehten nun nass hinter ihr her. Der dünne braune Mantel, den sie trug, schien sie beim Laufen mehr zu behindern, als Wärme zu spenden. Durch das Zwielicht der anbrechenden Nacht
war ihr Gesicht kaum zu erkennen. Ebenso unklar blieb, was sie in ihren Händen hielt, die sie gerade zum Mund führte.
Undeutlich schwirrten Worte durch die Luft und mischten sich mit dem steten Trommeln der Regentropfen.
„Ich mache es jetzt, Krenn. Mir bleibt gar nichts anderes übrig. Wenn sie mich erwischen – und das werden sie, wenn ich nicht auf der Stelle verschwinde – können wir das alles vergessen. Wenn sie herausfinden, was wir vorhaben,…“
Ein lautes Krachen ließ die Frau im Laufen herumfahren.
„Scheiße“, entfuhr es ihr, als nur wenige Meter entfernt wie aus dem Nichts zwei
Männer auftauchten. Beide waren vollkommen in Weiß gekleidet, was in Anbetracht der Witterungen nicht gerade vorteilhaft war.
„Krenn, ich muss!“, schrie die Frau in die Luft. „Starte den Vorgang, jetzt sofort!“ Eine Weile schwieg sie.
„Krenn“, brüllte sie dann erneut. „Zwing mich nicht dazu, dich zu zwingen!“
Mit diesen Worten schwenkte sie nach links ab. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihre Verfolger noch mehrere Schritte entfernt waren. Dann legte sie noch an Geschwindigkeit zu, brach ungebremst durch die Zweige eines winzigen Wäldchens, das mitten aus dem
Stadtgebiet ragte. Die dünnen Zweige klatschten ihr ins Gesicht und hinterließen sofort blutende Kratzer, doch das störte die Frau nicht. Diese rannte nur noch schneller weiter.
„Jetzt ist es zu spät, um noch zu zaudern, Krenn!“, brüllte sie in den Regen, durchbrach die letzten Zweige und stieß sich kraftvoll vom Boden ab. Für einen winzig kleinen Moment schien sie in der Luft zu verharren.
Unter ihr, mehrere Hundert Meter in der Tiefe, bahnte sich ein gewaltiger Fluss einen Weg durch das Gelände, der aus dieser Entfernung wie ein mickriges Rinnsal aussah.
Schließlich begann sie zu fallen, völlig
unkontrolliert. Ohne Erfolg versuchte sie, eine halbwegs stabile Position einzunehmen, doch stete Luftlöcher und –strudel ließen dies nicht zu. So wurde sie weiterhin hilflos durch den Himmel geschleudert, einmal waagrecht, einmal senkrecht…Ihr Mantel blähte sich auf und die Regentropfen schnitten bei dieser Geschwindigkeit wie kleine spitze Eiskristalle in ihre Haut.
„Krenn!“, schrie sie noch einmal, doch ihre Worte klangen verzerrt und irgendwie falsch.
Ein peitschender Knall erklang, gefolgt von einem gleisend hellen Lichtblitz, der die Frau einzuhüllen schien; ihren Körper zu einer konturlosen Silhouette
verschwimmen ließ.
Einen Lidschlag später waren sowohl das Leuchten als auch die Frau verschwunden.
Zurück blieben zwei einsame Gestalten in Weiß, die stumm im Regen standen, nahe des Abgrundes und in die soeben entstandene Leere starrten.
Sie warteten.
Denn letztlich kehrte alles, was verschwand, irgendwann zurück.
© Fianna 06/2013