Ihre Hände glitten über die Karten. Von hunderten Händen abgegriffen, so oft in die Luft geworfen – vor Freude – oder auf den Boden – Vor Wut.
Sie mischte die Karten und ließ sie geschickt ineinander gleiten, so wie sie es schon die letzte Stunde getan hatte.
Dann hielten ihre Hände still. Die Karten zwischen ihnen. Haut berührte Papier, als sich ihre Finger um die Oberste schlossen und sie zwischen uns auf den Tisch legte.
Der Ritter. Mutig. Treu. Stark.
Sie sah mich fragend an, doch mein Gesicht schien wie schon die ganze Zeit eingefroren. Kein Muskel regte sich. Jede Energie schien sich in mir zu sammeln, denn meine Gedanken wirbelten in mir immer schneller um sich selbst und jagten sich selber wie Windböen in einem todbringenden Hurrikan. Gedanken und todbringend. Ein seltsamer Vergleich aber in diesem Moment passte er wie er nur in solchen Nächten, zwischen dem Mond, der Erde, den Karten und zwei Menschen alleine passen konnte.
Die nächste Karte fiel zwischen uns. Wie ein Blitzschlag den man sieht und dann die Sekunden bis zum Donner abwartet. Der Donner, der einem einen Schauder über den Rücken jagt und einen zugleich aus dem Moment des Abwartens erlöst. Bis der nächste Blitz am Nachthimmel erscheint…
Der Dieb. Verstohlen. Unehrlich. Hinterhältig.
Wieder hoben sich ihre Augenbrauen. Ich legte den Kopf schief und meine Mundwinkel zogen sich kaum merklich nach oben. Wahrscheinlich sah sie es nicht einmal. Oder doch? Ich würde sie nicht fragen und somit wohl niemals die Antwort erfahren.
Schneller als vorher fielen nun die Karten auf den Tisch. Eine neben der anderen. Ihr Versuch mich aus meiner Versteinerung zu befreien und mir ein Zeichen zu entlocken. Ich sah es in ihren Augen und sie die Antwort in meinen, wenn sich unsere Blicke nach jeder Karten kreuzten.
Die Jungfrau. Rein. Verwundbar. Schön.
Der Teufel. Böse. Hasserfüllt. Verängstigend.
Der Wanderer. Stumm. Allein. Ruhelos.
Der Musikant. Verspielt. Heiter. Kurzweilig.
„ Und?“ durchbrach ihre Stimme die Stille. Obwohl ihre Worte schnell verklungen waren hallten sie in meinem Kopf noch lange nach. Ein inneres Echo, dass nur ich hören und ihm nicht entfliehen konnte. Wollte ich ihm den entfliehen? Wenn ich es nicht konnte machte es Sinn darüber nachzudenken?
„ Und,“ wiederholte sie drängender, „ wer bist du?“
Meine Augen strichen wieder über die alten verblichenen Karten.
„ Lass mich doch etwas über dich herausfinden. Du machst es einem aber auch wirklich nicht einfach.“
Sie lachte. Mir war nicht nach lachen und trotzdem störte es mich nicht. Abgelenkt von dem Strom von Gedanken, der Wellen in meinem Kopf brach, die sich gegenseitig immer weiter nach oben schaukelten. Wie ein Sturm. Ein Sturm der Gedanken.
„ Komm schon! Wähle eine Karte!“ sie beugte sich aufgeregt zu mir und legte ihre kleinen Händen um die Karten und schob sie zu mir. So dicht, dass eine fast über die Tischkante fiel. Ich streckte nicht die Hand aus. Wusste, dass sie nicht fallen würde. Woher konnte ich nicht sagen.
Ich sah die Karten und versuchte mehr in einer von ihnen zu sehen, als das Bild was mit alter verblichener Farbe auf ihre Vorderseite gedruckt war. Versuchte mich statt der Jungfrau oder dem Teufel auf einer der Karten zu sehen. Gedruckt vor Jahrzehnten um heute von zwei Menschen gefunden zu werden. Mein Gesicht auf einem Tisch liegend und nach oben starrend.
Ich konnte es nicht. Gedanken und Eindrücke hämmerten in meinem Kopf aufeinander und rasend schnell veränderte sich das Bild meiner Karte vor meinen Augen:
Wie ich im Laden stand und der alten Dame, dabei half ein dickes Buch in ihre Handtasche zu verfrachten; ein freundliches, zuvorkommenden Lächeln aufgesetzt.
Mich, wie ich mit Freunden laut lachend vor dem Fernseher saß, Fußball schaute und uns Beleidigungen und derbe Witze zubrüllten; nicht ein einziges Wort davon wirklich ernst meinend.
Mit der einen Hand vor dem Bett die Hose schließend, während Ich mit der anderen Hand die Whiskeyflasche an meinen Mund hielt und tiefe Schlucke nahm, die wie flüssiges Feuer in meinem Hals und Magen brannten und mich kurz würgen ließen, bevor ich ohne noch ein Wort des Abschieds zu sagen den Raum verließ.
Wie ich beide Fäuste erhoben mit dem Rücken zu Wand im Trainingsraum stand und in Zeitlupe sah wie die Blutstropfen von meinen Handschuhen tropften ohne Angst oder Entsetzen zu zeigen, sondern nur den Wunsch nach einem weiteren Schlagabtausch mit einem gleichdenkenden- und fühlenden Gegner bis aufs Äußerste.
Auf dem Rückend in der Sonne liegend und den Stimmen um mich herum lauschend; schweigend, an der Grenze zum wegdösen aber zufrieden grinsend.
Durch den Regen gehend ohne ihn wirklich zu bemerken mit Kopfhörern im Ohr, die Musik so laut das sie die ganze Welt übertönen können musste und es trotzdem nicht immer schaffte.
Wie ich vor dem Computer saß und Stunde um Stunde versuchte mich mit irgendeinem Spiel abzulenken; auf den Moment wartend bis das Briefsignal unten in der Anzeigenleiste aufblinkte und sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl.
Ich schloss kurz die Augen. Der Sturm in meinem Kopf beruhigte sich wieder. Die Wellen des Gedankenmeers glätteten sich und das Rauschen in meinen Ohren nahm ab und verklang zu einer leichten Brise.
Klarheit.
„ Es geht nicht darum welche dieser Karten ich bin, sondern nur darum welche ich dir oder anderen Menschen zeige...“
Sie sah mich erstaunt an. Ihr Mund öffnete und schloss sich zweimal schnell hintereinander.
Ich stand auf.
„ Den jeder von uns trägt diese Karten in sich. Ob er sein Gesicht auf ihr erscheinen lässt und sie so der Außenwelt zeigt das ist die wahre Wahl vor der jeder Mensch steht.“
Sie antwortete nicht, während ich aufstand. Meine Rechte griff nach den Karten. Die zerkratzte Oberfläche. Ein beruhigendes Gefühl. Ich trat in die Nacht hinaus. Verschwand.
Die Karten an meinem Herzen. Doppelt. Einmal mit der Hand von außen gegen die Brust gepresst. Und einmal in mir.eH