Romane & Erzählungen
Ehrlichkeit - Brief Nummer 9

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"Ehrlichkeit - Brief Nummer 9"
Veröffentlicht am 02. September 2013, 10 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Ehrlichkeit - Brief Nummer 9

Ehrlichkeit - Brief Nummer 9

Mein Liebster!

 

Es ist wirklich, wirklich erstaunlich, woran man sich erinnern kann. Verblüffend, faszinierend – wie auch immer. Den heutigen Stern habe ich gezogen, ihn angesehen und ich weiss ganz genau, weshalb du dieses Wort darauf geschrieben hast. Wie dieses Wort ins Orakel gekommen ist.

„Schuld“ daran trägt eine Frau, die vor vielen Jahren mit mir zusammen gearbeitet hat und die mir mit ihrer ganzen Art so sehr auf die Nerven ging, dass ich mich versetzen liess. Ich konnte diese Person nicht ertragen. Eigentlich hätte ich ihr noch so einiges sagen wollen, tat es aber nicht. Weil es vergebliche Liebesmüh gewesen wäre, denke ich. Sie hätte mich vermutlich nicht mal gehört, sondern wäre damit beschäftigt gewesen, sich schon auszudenken was sie den anderen alles erzählen könnte darüber, was für ein böser Mensch ich doch bin.

Damals – es ist schon so lange her du meine Güte – galt ich als „äusserst direkt“, ja fast schon als „aufdringlich ehrlich“. Wenn mir jemand so etwas sagte, zuckte ich mit den Schultern und beliess es dabei.

Jedenfalls, um zum Thema zurück zu kommen, ich hatte also meinen letzten Arbeitstag mit dieser Person zusammen und ich wollte feiern. Endlich war ich sie los! Wir beide gingen zum Italiener, liessen uns verwöhnen mit „Spaghetti al arrabiata“ und einem guten, roten Wein. Wir unterhielten uns angeregt über alles Mögliche und ich erzählte dir einiges über diese Person. Plötzlich und ohne wirklichen Zusammenhang sagtest du: „Du musst auch alles sagen was du denkst oder?“, ich sah dich an und erwiderte: „Wenn ich alles sagen würde, was ich denke – dann, das kannst du mir glauben, dann hätte ich keine Freunde mehr!“ Laut gelacht hast du! Es kam von Herzen dein Lachen und du sagtest: „Du bist so herrlich erfrischend!“ – ich konnte mir nicht erklären, was dran so erfrischend hätte sein sollen.

Nach dem Essen fuhren wir raus zum See und spazierten schweigend, in Gedanken versunken, dem Ufer entlang. Bei der Brücke bist du stehen geblieben, hast dich auf das Geländer gestützt, ins Wasser hinunter gesehen. Nach einer Weile hast du dich wieder mir zugewandt und sagtest: „Wusstest du, dass der Mensch, jeder Mensch, ungefähr 300mal am Tag lügt?“ – dieses Mal lachte ich laut und herzlich und gab zurück: „wie charmant!“. Dein Gesichtsausdruck wurde ganz ernst und du hast es wiederholt. Ich wurde auch ernst und sprach zum ersten Mal über meine Gedanken, die ich mir zu diesem Thema gemacht hatte. Du warst der erste, der den Nerv hatte, mir zuzuhören.

Und so wie ich es damals sah, so sehe ich es auch heute noch. Es ist paradox, die Kinder zu erziehen nach dem Motto: „Denk bevor du sprichst!“ – es ist paradox, weil ohne denken kann man nicht sprechen. Das ist logisch. Verändert man diese Erziehungsparole mit einem einzigen Wort, dass es heisst: „Denk nach, bevor du sprichst!“ die Lüge schon entsteht. Aus dem einfachen Grund, weil man lernt, nicht den ersten Gedanken auszusprechen. Doch der erste Gedanke, der erste Eindruck ist doch genau das, was der Wahrheit entspricht. Nachdenken bedeutet also nichts anderes, als den ersten Gedanken mit Optionen, mit Konsequenzen und was weiss ich noch alles zu überdenken, das Ganze zu zer-denken. Nachdenken führt nicht immer zu einer Lüge. Vielleicht auch nur selten. Doch es verführt zu einer Lüge, wenn man nachdenkt.

Dabei entdeckten wir, dass es gar nicht so einfach ist, den ersten Gedanken zu halten. Weil der zweite und der dritte so schnell durch unser Hirn schiessen, dass der erste einfach wegflutscht. Und so kam es,  dass wir beide entdeckten – wenn man genau hinhört und genau hinsieht, dann kann man beim anderen den ersten Gedanken sehen, hören, erkennen. Denn wir begannen, die Sprache des Körpers als Ganzes, die Sprache der Augen, des Gesichts, der Hände zu verstehen. Wir ergründeten die Geheimnisse und fanden den Weg die Menschen rund um uns herum richtig zu verstehen. Wir mussten uns aber auch eingestehen, dass wir selbst, jeder für sich, daran arbeiten muss, den ersten Gedanken halten zu können.

Daraus ergibt sich, dass man lernt, sich richtig auszudrücken. Die Wortwahl ist entscheidend. Was gar nicht so einfach ist. Auch wenn es einfach klingt. Es ist es nicht. Immer noch nicht. Man lernt es nur, indem man selbst genau hinhört und indem man sich im Klaren ist, was die Worte bedeuten. Das erste was uns auffiel war folgendes: Menschen, die sich in der Fäkalsprache ausdrücken (bei denen jedes zweite Wort „Scheisse“ ist), diesen Menschen geht es auch so. Ihnen passieren genau solche Sachen, die eben „Scheisse“ sind. Oder solche, die gerne und oft sagen: „es ist so zum Kotzen!“ – diesen Menschen ist es tatsächlich zum Kotzen. Der Unterschied zwischen Kotzen und Erbrechen ist ein Himmelweiter, das nur so nebenbei.

Im Gegenteil widerfahren Menschen deren Wortschatz sich vor allem in positiven Emotionen und Ausdrücken zeigt, mehr gute Dinge – sie ziehen die guten Dinge magisch an. Es sind Glückskinder. Wir nannten sie Glücksfinder. Weil das besser passt. Denn, Kinder sind von Natur aus, von ihrer Entstehung, ihrer Entwicklung immer vom Glück getragen. Es sind die äusseren Einflüsse, die dieses Glück zerstören können. Nicht das Kind selbst tut das. Und alle, die aus den Kinderschuhen herausgewachsen sind, sind dadurch geprägt, wie viel Glück man ihnen gelassen hat. Auch wenn wir so gern vom „inneren Kind“ sprechen – es verlangt viel mehr als nur darüber sprechen, dies auch wirklich zu sein oder es zu kennen.

So habe ich mich zu dem Menschen entwickelt, der ich bin. Ich nehme nichts zurück, was ich gesagt habe und mir rutscht auch nichts raus. Ich sage, was ich zu sagen habe. Meine Antworten sind oft unangenehm und irritierend, wie zum Beispiel wenn jemand sagt: „Du verstehst mich nicht!“ – ich antworte: „Dann drück dich richtig aus!“. Es ist bestimmt verwirrend, wenn ich genau das tue, was man mir sagt. Und manchmal verspüre ich sogar ein bisschen Mitgefühl, wenn ich einen anderen Menschen tatsächlich auflaufen lasse.

Dieses Mitgefühl war es, das mich lehrte, meinen Mund zu halten. Ich lernte, dass ich nicht immer etwas sagen muss, und dass meine Meinung nicht immer gefragt ist. Ich lernte, es ist besser, seine Meinung dann zu sagen, wenn man danach gefragt wird. Es ist besser, die Meinung klar und deutlich auszudrücken, damit es keine Lüge ist und zu keinen Missverständnissen führt.

Das Problem am Gedanken sieben oder acht ist, wobei das auch schon beim Gedanken drei geschehen kann, der Körper hat schon reagiert. Die Pupillen haben sich schon geweitet, irgendwo im Gesicht hat es schon gezuckt – irgendetwas hat mich schon verraten. Natürlich ist das abhängig von demjenigen, der mir gegenüber ist, ob es etwas zur Sache tut oder nicht. Wenn mein Gegenüber nicht bewusst darauf achtet, nimmt er es auch nicht bewusst wahr – doch, was wir alle tun ist: wir nehmen es unterbewusst wahr.

 

Ehrlichkeit.

 

Ehrlichkeit ist auch Authenzität. Es ist Klarheit. 

Nein. Ich bin nicht unfehlbar und ich lüge auch. Ganz klar. Ich bin nur ein Mensch und Menschen, ja Menschen sind nun halt mal Menschen. Dennoch strebe ich noch immer danach, so ehrlich wie möglich zu sein. Zu mir selbst und auch zu meiner Umgebung. Zu den Menschen und den Dingen. Letzten Endes ist es meine grösste Stärke und es ist meine beste Waffe.

Ehrlichkeit kann Zerstören, Ehrlichkeit kann im selben Zug auch Heilen. Ehrlichkeit ist die Dualität in sich, Ehrlichkeit polarisiert. Immer. Ist einfach so.

 

Die Ehrlichkeit kann sehr unterschiedliche Gesichter haben. Sie kann Ironie sein und sie kann Sarkasmus sein. Sie kann Naivität sein oder Dummheit. Sie kann alles sein, nur eines sollte sie nie sein. Zynisch. Weil diese äusserst verletzende Art nicht immer auf der Ehrlichkeit beruht – Zynismus ist die Rüstung, die vor allem und jedem schützen soll. Doch ihre Machart ist nicht von Dauer.

 

Es gibt einen Satz, den ich gerne mag. Einfach, weil er so schön von den Lippen geht – und ich ihn stets mit einem leisen Schmunzeln sage: „Sarkasmus ist der Humor der Intelligenten.“ Oder auch diesen Satz mag ich: „Ich spreche fliessend Ironisch mit sarkastischem Akzent.“

 

Alles zusammen gefasst habe ich für mich den Grundsatz gefunden: „Ich lüge nicht. Ich sage nur nicht alles.“ – das ist vielleicht nicht immer fair. Wer mich dann herausfordert muss damit rechnen, dass es ihm nicht schmecken könnte. Wer mich nach meiner Meinung fragt, bekommt das zu hören, was ich denke. Je nachdem diplomatischer oder eben auch nicht.

 

Ich bin nicht unfehlbar, ich bin nicht naiv genug, zu glauben, dass ich das bin. Manchmal lüge ich auch mit voller Absicht… doch das hast du von mir gelernt. All das zu wissen und sich ehrlich damit auseinander zu setzen, macht jeden zu einem besseren Menschen, der sich selbst in die Augen sehen kann.

 

Ja. Darum hast du dieses Wort auf diesen Stern geschrieben.

Weil das ein Teil der Basis war, auf der unsere Beziehung Bestand hatte und glänzen konnte.

 

Mit all meiner Liebe

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bloodredmoon

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FLEURdelaCOEUR Ehrlichkeit ... - es ist so klar und authentisch, was du schreibst,
ich finde das alles sehr sympathisch und gut!

GlG fleur
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