Mein Liebster!
„Es kommt wie es muss!“ – das hast du oft gesagt. In allen möglichen und unmöglichen Situationen. Am Liebsten dann, wenn ich echt keinen Ausweg mehr gesehen habe. Wenn ich aufgeben wollte und mit dem Brecheisen Entscheidungen erzwingen wollte. Dann konntest du mich ansehen und zu mir sagen: „Es kommt wie es muss!“. Manchmal hast du mich damit wütend gemacht. Nicht so eine blinde Wut, nicht ein so grosses Tier, wie in diesen Tagen hin und wieder. Eher ein kleines Kätzchen, das die Krallen ausfährt – bekommt, was es will und wieder schnurrend im Körbchen liegt. Der Vergleich hinkt ein bisschen, ich weiss. Einen besseren habe ich nur gerade nicht zur Hand. Vor allem deshalb, weil mich seit dieser „Das Tier will mich auffressen“-Session Gedichtzeilen von Rainer Maria Rilke verfolgen. Er verfolgt mich! Hörst du? Herr Rilke verfolgt mich! Warum nur mochtest du seine Schriften auch so wie ich? Warum nur habe ich dich damit vertraut gemacht? Jetzt sind wir drei irgendwie verbunden.
Es kommt wie es muss. Ja. Ja. Ich weiss. Alles hat seinen Grund. Und alles Schlechte hat eine gleich grosse Gute Seite. ICH WEISS! Nur, das nutzt nichts. Es nutzt nichts, zu wissen, dass alles besser wird, dass man sich an den Schmerz gewöhnt. Nicht der Schmerz wird weniger, oh nein, man gewöhnt sich nur daran. Langsam, aber man tut es. Weil weisst du, wenn ich auch morgens schon bis zur Kaffeemaschine komme, bevor mich die Tränen einholen – wenn der Schmerz kommt, ist er genau so heftig wie am ersten Tag. Genau so heftig! Und wieder geht das mit den Tausend Stäben durch meinen Kopf.
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Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
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Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
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Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte
in der betäubt ein grosser Wille steht.
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Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
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Wir haben oft über diese Zeilen geredet. Darüber, ob es nun Hoffnung bedeutet oder eben nicht. Es kommt ganz auf den Blickwinkel an. Und deiner war unerschütterlich: „Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.“ – du sagtest, dass das die Hoffnung ist. Die Hoffnung, dass noch mehr Bilder hinein gehen und im Herzen aufhören zu sein – aufhören Wirklichkeit zu sein. Dass sie dann zu den Träumen werden, die den Panther jeden Morgen wieder aufstehen lassen.
Ich kann es nicht so sehen. Denn, Bilder die im Herzen aufhören zu sein, sie mögen Träume werden, aber irgendwann sind es zu viele Träume – und irgendwann sind auch die Träume zu lange her.
Der Panther ist gefangen hinter Gitterstäben, da gibt es keine Hoffnungen und Träume mehr. Das ist die Tatsache, die Realität. Weil nämlich niemand kommen wird, den Käfig aufsperren wird und das Tier heraus lässt. Der Panther würde den Käfig nicht verlassen. Wohin sollte er auch gehen? Er würde in der Wildnis ganz einfach sterben, weil er nicht mehr da leben kann. Seine Instinkte sind gekillt.
Dein Argument war dann: „Aber lieber draussen als Schwächerer dem Stärkeren unterliegen – dann hätte er wenigstens die Möglichkeit zu kämpfen! Im Käfig kämpft er gegen einen stärkeren Feind, dem er sowieso unterlegen ist. Weil er vor diesem Feind nicht davon laufen kann.“
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Wie auch immer. Ich bin nicht der Panther im Käfig. Oder vielleicht doch? Vielleicht ist meine Trauer genau das – ein Käfig aus tausend Stäben in dem ich mich nur auf kleinstem Raum bewegen kann. Ich weiss, dass es da draussen noch eine Welt gibt. Sie bewegt sich – die Sonne geht auf und unter, das Wetter tut was es tun muss und die Uhr tickt. Sekunde für Sekunde geht es weiter das Leben. Die Sekunden sind meine Gitterstäbe. Je länger ich dem Zeiger zusehe, wie er stetig weiter seine Runden dreht, umso verschwommener wird die Zeit. Ich habe keinen realen Bezug mehr zu der Zeit. Solange ich mich zu Hause befinde – anders kann ich es nicht nennen – ist Zeit ohne Bedeutung.
Wenn ich draussen bin, wenn ich meiner Arbeit nachgehe, ist die Zeit das, was mich aufrecht hält. Draussen teile ich alles in Zeitabschnitte ein. Und obwohl die Qual hier zu Hause am Grössten ist, will ich genau hier sein. Hier, wo jeder Gegenstand ein Stück von dir in sich hat. Nichts gibt es hier, was du nie in deinen Händen gehalten hast. Nichts ist hier, was nie deine Berührung genossen hat.
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Das sind meine Gitterstäbe. Die Sekunden und die Dinge rund um mich.
Meine Gitterstäbe.
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In einem Punkt waren wir uns jedoch stets einig. Dieser Panther starb in seinem Käfig. Irgendwann hörte sein Herz auf zu schlagen. Unglücklich starb er auf kleinstem Raum. Was uns immer wieder zu der Diskussion führte, was, wenn einer von uns an Lebenserhaltende Geräte geschlossen wird? Was, wenn sich einer von uns genau in dieser Situation wiederfinden sollte? Was, wenn einer von uns genau dieser Panther ist? Hinter den tausend Stäben? Wir hatten dieselbe klare Meinung dazu und wir haben deshalb auch die Patientenverfügung gemacht.
Damals hätte ich nicht geglaubt, wenn man mir gesagt hätte, dass ich mich auch so fühlen könnte, wenn ich durchaus gesund und lebendig bin. Hin und wieder hatte ich im Laufe meines Lebens dieses Bild im Kopf, fühlte mich annähernd so wie das Tier. Dieses wunderschöne, prachtvolle Tier. Nur – jetzt, heute weiss ich: Ich habe mich NIE so gefühlt. Niemals. Nicht einmal annähernd. Es gefiel mir einfach, mich mit dem gefangenen Panther zu vergleichen. Ich hatte keine Ahnung! Ich hatte schlicht und einfach keine Ahnung, wie es sich wirklich anfühlt.
Nicht einmal heute bin ich sicher, ob ich das richtige Bild für meinen Kummer habe. Weil – weil, wenn ich an die Monate denke, in denen du gelitten hast. Dein wunderschöner Körper, der sich nicht mehr bewegen konnte. Dein Körper, dem wir zusehen mussten, wie er Stück für Stück, Stunde um Stunde zerfiel. Wie er zu einer Hülle wurde, aus der du lange nicht ausziehen konntest – ich habe kein Recht, mich mit dem Panther zu vergleichen. Höchstens mit dem Panther, der in einem Käfig transportiert wird um an einem anderen Ort angesiedelt zu werden. An einem Ort, wo er sich bewegen kann. Wo er jagen kann. Das Gebiet ist vielleicht nicht so gross…
Und mir stellt sich die Frage, ob ich mich in diesen Transport-Käfig begeben soll und mich in ein anderes Gebiet bringen lassen soll. Irgendwohin und neu anfangen. Alles hinter mir lassen. Ich weiss, ich werde es irgendwann tun.
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Es kommt wie es muss.
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Ist ZUVERSICHT dasselbe wie Hoffnung? Ich glaube nicht. Ich glaube, Zuversicht ist der Glaube an den guten Ausgang einer Geschichte, Hoffnung ist der Glaube an den Anfang einer guten Geschichte.
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Es kommt wie es muss – diese fünf Worte haben ihre Wirkung. Wenn man das wirklich so glaubt, wenn man sich sicher ist, dass es genau so kommt, wie es muss, dann kann man los lassen und das Schicksal machen lassen. Man wartet geduldig ab, gibt die Verantwortung ab an das Leben. Ich habe schon sehr oft erlebt, dass das Leben die Luxusversion liefert. Immer. Es liegt im Auge des Betrachters, den Luxus zu erkennen – oder eben nicht. „Es kommt wie es muss“, das war dein Mantra. Meines war: „Das Leben liefert immer die Luxusversion“ – und damit hatten wir ein wirklich gutes Leben zusammen. Weil wir stets darauf vertraut haben, dass wir so lange zusammen sein können, wie wir brauchen, um etwas zu bewirken. Um unsere Spuren zu hinterlassen. Um der Welt etwas von uns zu hinterlassen. Etwas, was beweist, dass wir hier waren und gelebt haben.
Wir waren nie naiv genug zu glauben, dass wir gleichzeitig die Welt verlassen können. Wir waren nie naiv genug zu glauben, dass der andere nicht überleben kann. Du hast einmal zu mir gesagt: „Sollte ich vor dir gehen müssen – versprich mir, dass du weiter machst und alles in deiner Macht stehende tust, um noch einmal glücklich zu werden. Dass du nicht zu lange trauerst um mich. Irgendwann sollst du aufstehen und weiter machen. Das tun, was du am besten kannst und wofür du geboren wurdest. Lebendig sein.“ – ich habe dich angesehen. Dein Gesicht war ganz ernst und dein Blick war ruhig und fest. Du hast mir damals dieses Versprechen abgenommen.
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Und wieder komme ich zu der Frage: Ist es bald Zeit in den Transport-Käfig zu steigen?
Ich bin noch nicht so weit. Noch kann ich nicht. Noch nicht. Nur eines weiss ich sicher. Ich weiss, wohin ich gehen werde. Du weisst es auch oder? Du weisst, dass ich ein one-way-Ticket lösen werde, ins Flugzeug steigen werde mit nichts als einem einzigen Koffer – und nach Sizilien fliegen werde. Zu deinem Bruder… dein Bruder, der erst vor ein paar Tagen nach Hause gegangen ist. Er war lange hier, und so oft wie möglich war er bei mir. Wir haben so viel geredet. Und mir wurde bewusst, wie sehr ich ihn vermisse. Ihn und seine Frau. Seine Kinder. Sie sind so gross geworden! Bevor er ging, hat er mir angeboten, dass ich ins Haus am Meer ziehen kann. Er erzählte mir, dass sie es sowieso entweder verkaufen oder vermieten wollten, weil sie ja nicht drei Häuser bräuchten. Die haben einfach zu viel Geld *schmunzel* - und ich sagte ihm, dass ich genau das tun werde. Nicht heute und nicht morgen, aber ich werde es tun. Und ich werde dann da im grossen Zimmer am Fenster stehen und hinaus aufs Meer sehen. Ich werde atmen können. Wie immer, wenn ich am Meer bin. Das weisst du ja. Erinnerst du dich, als wir das erste Mal zusammen am Meer waren? Du sagtest: „Herrje, saug doch nicht das ganze Meer auf!“ – ich war damals emotional wie körperlich so richtig ausgebrannt. Auch damals wusste ich, es gibt nur ein Ort an dem ich wieder auftanken kann. Ich musste ans Meer. Ich fuhr immer ans Meer, wenn ich ausgelaugt war.
Das Meer. Ja. Das Meer werde ich bald brauchen. Bald.
Wenn ich Abschied von dir genommen habe. Wenn ich sicher bin, dass ich dich in meinem Herzen tragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Kennst du noch dieses Lied „Federleicht“?
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„Ein nasskalter Wintertag singt dieses Lied, ein Reisender und einer der blieb, von beiden ein Traum gemeinsam erkannt, einsam auseinander getanzt, während ein Herz schwieg wird ein anderes laut, und schwer, und ich weiss noch genau wo es liegt und wies klingt, so was wiegt nichts mehr, im Laufe der Zeit fällt Schnee – federleicht, du tust nicht mehr weh“ – draussen fällt Schnee, mein Liebster. Nur noch nicht federleicht, noch tust du weh. Und ich will nach Sizilien weil da kein Schnee fällt.
Ich will dahin, weil du Schnee mehr geliebt hast als alles andere. Schnee hat dich so glücklich gemacht, du hast die Kälte geliebt. Ich habe sie auch geliebt, wegen dir. Doch du bist nicht mehr, also muss ich die Kälte nicht mehr lieben, ja nicht einmal mehr mögen. Ich will auch nicht, dass er federleicht wird…Â
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Es kommt wie es muss.
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Was auch immer geschehen mag, wann auch immer das geschehen wird – ich halte mich an diesen Satz, halte mich an die Zuversicht, die du mich gelehrt hast. Die Zuversicht und das Vertrauen ins Leben. Es hat seine Gründe, dass ich ohne dich bin. Ich weiss es. Auch wenn ich es noch nicht sehen kann, auch wenn ich glaube, es nie sehen zu werden oder zu können. Ich weiss, dass es so ist.
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Ich vermisse dich. Ich möchte es so laut hinaus schreien, dass du mich hören kannst. Ich möchte, ich hätte so lange Arme, damit ich dich umarmen könnte, wo auch immer du bist. Ich vermisse dich so sehr, dass es weh tut. Dass es mir Tränen in die Augen treibt und meinen Körper zusammen krümmen lässt. Ich vermisse dich so sehr, dass ein Teil von mir nichts anderes will, als dir zu folgen. Ich vermisse dich so sehr, dass ich aufgeben möchte und dabei weiss ich gleichzeitig, dass ich das nicht tun werde. Ich weiss, dass ich wieder aufstehen werde und weiter machen werde.
Nur noch nicht heute. Auch nicht morgen. Aber bald.
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Ich vermisse dich!
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Mit all meiner Liebe
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