Mein Liebster!
Ich bin – ich bin so wütend! Auf dich. Auf mein Leben. Auf alles und jeden. Ich. Bin. So. Wütend!
Du bist einfach abgehauen. Einfach so. Von einer Minute auf die andere. Weg. Einfach weg. Ich bin so wütend, dass ich den Boxsack oben auf dem Dachboden, den du mir aufgehängt hast, bearbeitet habe, bis ich erschöpft zu Boden sank und einschlief. Als ich erwachte tat mir alles weh und mein Gesicht war überzogen mit einer Salzkruste. Das machte mich wieder so wütend, dass ich ihn noch einmal bearbeitete – die Wut geht aber nicht weg. Sie ist das Tier in meinem Bauch. Es will alles zerstören was rund um mich ist. Es will mich auffressen!
Wut ist etwas, was ich schon sehr lange nicht mehr spürte. Und es verwirrt mich, dass ich es heute so spüre. Gestern war ich noch voller Dankbarkeit – heute bin ich nur wütend. Rasend.
Ich weiss, dass Wut nur ein Deckmantel ist für eine Emotion, die viel tiefer liegt. Wut ist der Deckmantel der Hilflosigkeit. Ja ich fühle mich hilflos. Ausgeliefert und hilflos. Es gibt nichts, was ich tun könnte, damit du wieder bei mir bist. Es gibt nichts, was ich eintauschen könnte. Ausser mein eigenes Leben, das könnte ich eintauschen. Oder dir folgen. Was bedeuten würde, meinem Leben ein Ende zu machen. Oh, du würdest jetzt schimpfen mit mir. Ganz furchtbar schimpfen würdest du. Das macht mich wütend! Hör auf zu schimpfen und lass mich!
Der Stern von heute. Der macht mich so wütend.  Da steht SPIEL drauf. Oh und wieder knurrt das Tier in meinem Bauch. Nein, es knurrt nicht. Es brüllt. Es hat Hunger. Es will mich verschlingen!
Zwischen dem letzten Satz und diesem ersten, neuen Satz, liegen einige Stunden. Es ist etwas Unglaubliches geschehen, mein Engel. Wobei du jetzt einwerfen würdest: „Unglaubliches kann nur geschehen, wenn du aufgehört hast zu glauben.“ – stimmt. Es ist so. Ich werde es dir erzählen.
Ich war, wie du ja weisst, sehr wütend. Meine Gedanken machten mich noch wütender und die beiden ersten Briefe die waren wie der berühmte letzte Tropfen. Mitten im Wohnzimmer stand ich und schrie mir die Seele aus dem Leib. Ich stampfte und tobte. Dann marschierte ich – erinnerst du dich? Du musstest immer lachen, wenn ich so davon marschiert bin – jedenfalls ich marschierte zur Tür weil ich auf den Dachboden wollte. Ich riss die Tür auf und prallte in unseren gemeinsamen besten Freund. *Wuuuääämmmm* ich taumelte, er fing mich auf. Wir sahen einander ein bisschen erschrocken an und dann gingen wir ohne Worte gemeinsam rauf auf den Dachboden. Uns beiden war klar, was wir da oben wollten. Also gingen wir direkt zum Carrom-Tisch, stellten uns hin und starrten das Brett an. Nach einer Weile, keine Ahnung wie lange es war, begann er die Kerzen anzuzünden. Mein Körper hatte die Führung übernommen – ich half ihm dabei. Dann holte ich zwei Dosen Cola aus dem Kühlschrank, den wir vor vielen Jahren aus Amerika importieren liessen, stellte sie auf den kleinen Tisch, wo auch die anderen Dinge liegen und stehen. Die Puderdose. Die Ersatzsteine. Die Piratenbox. Geöffnet. Die Kokosschale. Resttabak. Der Aschenbecher aus Indien. Die Feuerzeuge. Dein Lieblingsfeuerzeug. Ich fühlte, wie er sich neben mich stellte und auch auf den Tisch sah. Ich nahm die Kokosschale in die Hand und sah ihn fragend an. Er grinste. Ich gab ihm die Schale und ging zurück zum Carrom-Tisch. Wieder starrte ich auf das Spiel.
Unser letztes Carrom-Turnier hast du gewonnen. Dein letzter Stein lag noch immer am selben Ort. Die Spuren im Puder – ich hörte dich jubeln. Ich hörte wie du gerufen hast: „Schaaatz! Ich habe gewonnen!“, du hast mich hochgehoben und herum gewirbelt. Alle haben mit uns gelacht. Deine Freude war so ansteckend. Danach sassen wir noch lange in der Kuschelecke zusammen. Wir und unsere Freunde. Es war ein besonders schöner Abend. Als hätten wir damals alle gewusst, dass es der Letzte sein würde. Ich schloss die Augen und atmete den Geruch ein. So tief, dass ich ihn niemals mehr wieder vergessen kann. Ich stellte mir vor, wie ich ihn mit jedem Atemzug mehr aus der Wirklichkeit in mich hineinatmete. Rilke schoss mir durch den Kopf: „oder ist es ein Duft ohne Rest“ – ich stellte mir vor, dass das alles in mich hinein geht und aus der Wirklichkeit verschwindet.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand er mir gegenüber. Beider Gesichter Tränenüberströmt. Unsere Tränen fielen auf das Spiel – machten Spritzer in die Puderschicht, gruben sich bis zum Holz. Er kam um den Tisch herum, stellte sich neben mich und nahm meine Hand. So standen wir eine Weile da und weinten. Langsam versiegten die Tränen. Wir blieben stehen. Er wartete. Dann flossen diese Worte über meine Lippen:
Auf dem Tisch liegt noch die Puderschicht,
in ihr gezeichnet deine Spuren vom letzten Stein.
Der letzte Stein, immer noch im Siegestaumel
ruht noch immer an derselben Stelle.
In der Luft hängt noch dein Jubel,
untermalt mit dem Jubel unserer Freunde.
Der Geruch webt noch immer das bunte Muster
in unser Leben hinein.
In der Stille liegt noch immer all die Liebe
all die Freiheit und all das Glück.
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Ich atme es ein.
Das alles atme ich ein.
Bis es ohne Rest
zu Hause
bei mir
ist.
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„Er fehlt mir“, sagte er leise, „er fehlt mir ganz furchtbar. Aber ich bin froh, dass du noch hier bist.“ – ich habe ihn angesehen. Seine Augen, sie waren so dunkel wie ich es noch nie gesehen habe. Und da ging mein Herz wieder auf. Genau in jenem Moment. Ich machte einen kleinen Schritt auf ihn zu und er nahm mich in seine Arme. Das tat so gut. Das war – es war schön.
Später räumten wir gemeinsam die Spuren des letzten Spieles weg und begannen ein neues Spiel. Wir lümmelten ein wenig in der Kuschelecke herum und redeten über dich. Wir lachten und weinten und wir schwiegen.
Als er sich von mir verabschiedete, sagte er: „Ich habe ihm versprochen, auf dich aufzupassen. Ich habe ihm versprochen, für dich weiterhin der beste Freund zu sein.“ Ich lächelte und antwortete ihm: „Das habe ich ihm auch versprochen.“ – weisst du was, mein Engel? Wir hätten es dir nicht versprechen müssen. Es wäre auch so so geblieben wie es war. Also ich meine: Wir bleiben die besten Freunde, weil wir beide denselben Menschen geliebt haben und vom selben Menschen geliebt wurden. Jeder auf seine Weise. Und das, das verbindet uns für alle Zeiten.
Jetzt ist es Abend. Ich habe Kerzen angezündet und mir eine Tasse Tee gemacht. Ich fühle mich entspannt und wohl. Der Abend hat mich zärtlich in seine Arme geschlossen. So dass ich loslassen kann.
Auf dem Stern steht SPIEL. Carrom ist nur eines unserer Spiele. Unser ganzes Leben hat aus Spielen bestanden. Mir war das gar nie so wirklich bewusst. Es wird mir erst jetzt klar, weil sie mir fehlen. Die Zahlenspiele. Oder das Musik-Spiel. Diese kleinen Hirnjogging-Spiele. Die doofen Spiele, die nur wir lustig fanden. Diese Dialoge in schwärzestem Humor. Wir spielten überall. Und zu jeder Zeit.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dir. Es ging darum, dass ich das Leben als Spiel betrachte und du das einfach nicht verstehen konntest. Manchmal hat es dich wütend gemacht, wenn ich eine Situation mit den Worten: „So läuft das Spiel eben“, kommentiert hatte. Du hast jedes Mal gesagt: „Das Leben ist kein Spiel!“ – irgendwann hörte ich auf, dir zu widersprechen. Es war deine Meinung und ich wollte dir nicht meine aufzwingen. In jenem Gespräch aber, hast du nicht locker gelassen. Wir haben lange über Regeln geredet und darüber das Rechte und Pflichten wie ein Paar Schuhe sind – dein Argument „wir wurden mit nackten Füssen geboren“ liegt mir noch immer in den Ohren. Dennoch konntest du dich damit anfreunden, das Leben als Spiel zu sehen. Wenigstens Teile davon. Das war der Anfang unserer Spiele im Alltag. Dem folgten bald die Spiele, die man richtig spielt. Mit Brett und Würfel und allem drum und dran. Wir hatten so viel Spass, wir zwei. Ob wir alleine waren, oder mit unseren Freunden – wir hatten einfach Spass.
Jetzt kommt die Zeit, in der ich meine Spiele selbst erfinden muss – für einen Spieler. Aber, es ist auch die Zeit der richtigen, realen Spiele mit meinen und unseren Freunden. Sie sind noch da. Und sie vermissen dich auch. Wir alle vermissen dich. Du fehlst.
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Mit all meiner Liebe