Mein Liebster!
Letzte Nacht stand der volle Mond am Himmel und es liegt noch ein wenig Schnee, vor allem da, wo im Winter niemand hingeht und die Schattenstunden länger sind, als die Sonnenstunden. Als ich mit deinem Brief fertig war, zog ich mich an und ging zu unserer Bank. Der Mond schien so hell und der Schnee reflektierte sein silbernes Licht – ich brauchte keine Taschenlampe.
Ich sass sehr lange auf der Bank über den Rebbergen und sah ins ruhige Tal hinunter. Der Klang der Kirchenglocken, die drei Uhr in der Früh schlugen, erreichte mich aus allen Richtungen. Weisst du noch, wie wir abgemacht haben, dass diese Bank niemals zum Weinen aufgesucht werden soll? Dass diese Bank unsere „Dankbank“ ist? Als wir das erste Mal zusammen da waren, sagtest du: „Hier muss es sein!“, ich hatte keine Ahnung wovon du redest, ich weiss es noch. Wir sassen lange da, bevor du mich endlich eingeweiht hast in deine Gedanken. „Hier muss ein Stück Göttlichkeit sein, mein Schatz. Hier ist es wunderschön! Sieh mal, von hier aus können wir so viel von der Schöpfung sehen…“, du hast gelacht und fuhrst fort: „auch wenn es Evolution ist – für mich bleibt es dennoch die Schöpfung. Irgendjemand oder irgendetwas muss das erschaffen haben, damit es sich entwickeln konnte.“ Dein Blick schweifte hin und her, ganz langsam. Du hast die Eindrücke eingesogen und in deiner Erinnerung abgespeichert. „Sieh mal – da sind die Berge und die Hügel mit den dichten Wäldern. Und da – siehst du den Fluss? Und dort…“, mein Blick schweifte wie deiner damals über die Landschaft und meine Augen blieben an all den Punkten haften, die du aufgezählt hast. Seit jenem Abend mache ich das immer, wenn ich hier bin. Du hast Recht. Es ist kein Ort an dem man weinen muss. Im Gegenteil. An diesem Ort erfüllt mich immer eine tiefe Dankbarkeit.
Irgendwann machte ich mich auf den Heimweg durch all die Strassen, die wir oft miteinander gegangen sind. Was auch immer uns bewegte – auf diesen Strassen haben wir geredet. Manchmal haben wir auch nur geschwiegen, uns an den Händen gehalten und sind gemeinsam die Strassen lang gegangen zu dem Ort, wo der vollkommene Frieden zu Hause ist. Du hast mir so sehr gefehlt. Deine warme Hand, die mich hält. Deine Stimme, die über meine Haut rieselt. Der Klang deiner Schritte – auf dem Heimweg habe ich geweint. Um dich, um die Zeit, die wir nicht mehr haben. Um alles, was ich mit dir hatte, um alles, was ich an dir hatte. Es ist ewig her, seit ich diesen Weg das letzte Mal alleine gegangen war – und jetzt gehe ich ihn wieder alleine. Als wäre das dazwischen nicht geschehen ausser vielleicht in meinen Träumen. Es ist so unwirklich. So, als hätte ich etwas vergessen und ich weiss, dass ich etwas vergessen habe. Nur nicht was es ist.
Zu Hause fiel ich ins Bett und schlief ein. Diese Wohltat – einfach schlafen. Als ich aufwachte, war es kurz vor Mittag. Also habe ich einige Stunden tief und fest geschlafen. Ich fühlte mich ausgeruht und stark. Es dauerte ein paar Minuten, bis mich die Erinnerung einholte. Immerhin dauert es schon ein paar Minuten und nicht nur ein paar Sekunden. Immerhin kann ich die Fenster öffnen und hinaus sehen, bevor die Wasserfälle in meinen Augen ihren Betrieb aufnehmen.
Nach dem Kaffee habe ich mich hingesetzt und den Stern für heute aus der Schachtel genommen. Ich las das Wort und ganz ehrlich, ich habe laut aufgelacht.
DANKBARKEIT
Du würdest jetzt grinsen und sagen: Das Orakel weiss alles!
Genau so kommt mir das jetzt vor. Als hätte das Orakel seine Kraft und sein Wissen auch in der Schachtel zusammengepfercht nicht verloren. Und da sitze ich nun und starre diesen Stern an, die Empfindungen wirbeln durcheinander. Auf der einen Seite die Trauer, die Einsamkeit und auf der anderen Seite die Dankbarkeit, die ich wirklich im Herzen fühle.
Ich bin trotz allem Dankbar. Dafür, dass ich dich lieben durfte. Dafür, dass ich von dir geliebt wurde. Für all die Stunden und Tage, die ich mit dir zusammen sein durfte. Für all die Dinge, die wir erreicht haben, erschaffen haben – all die Stunden die wir zusammen glücklich waren. Ich bin dankbar für alles, was du in mein Leben gebracht hast und für alles, was du aus meinem Leben entfernt hast. Ich bin dankbar dafür, dass ich dich hatte.
Kannst du dich an den ersten Kuss erinnern? Oh, ich musste mich so lange gedulden, bis du mich geküsst hast. Als deine Lippen die meinen berührten – alles verschwand, die Welt wurde einfach ausgeknipst. Nur noch du und ich waren da. Deine Lippen, deine Hände, dein Geruch, dein Atem. Danach habe ich zum Himmel hinauf geschaut und „Danke Gott!“, geflüstert. Du hast gelächelt. Ein stilles, verstehendes Lächeln. Das war der Moment in dem ich erkannte, dass auch du einen Dank nach oben geschickt hast. Und es wurde zu unserem Ritual. Weisst du noch? Wie oft haben wir gemeinsam nach oben geschaut und „Danke“ gesagt! Wie oft? Unzählige Male, unzählige Male.
Wenn du mich jetzt sehen könntest. Du würdest Lächeln. Mich in die Arme nehmen und ganz fest halten. Mir ins Ohr flüstern: „Meine Drama-Queen – ich liebe dich!“ Wir haben das Drama geliebt! Wir haben die grossen Dramen der Welt zelebriert! Das konnten wir sehr gut, damit haben wir unsere Freunde fast in den Wahnsinn getrieben. Ich muss jetzt wirklich lachen, mein Engel. Ich muss von Herzen lachen! Das tut so gut!
Ich erinnere mich an jedes einzelne Drama, das wir inszeniert haben. Das in jenem Sommer, als es so aussah, als würden wir es nicht packen und nicht mehr zusammen finden. Weisst du noch? Wir hatten die Zeit der rosaroten Brille und den himmelblauen Versprechungen, den Ritt auf Wolke sieben und die Schmetterlinge im Bauch hinter uns gelassen. Wir hatten uns beide innerhalb und ausserhalb unserer Beziehung entwickelt. Eine gewisse Alltäglichkeit hatte Einzug gehalten. Und wir beide glaubten, diese Alltäglichkeit ist das Ende von uns. Nicht weil es Alltag war, sondern weil wir plötzlich feststellten, dass es auch noch einen Alltag gibt. Wir uns dagegen wehren wollten. Wir wollten den Kitsch und die Romantik wieder zurück haben! Weisst du noch? Ach, was haben wir gelitten, so getrennt voneinander! Es dauerte einige Tage, bis wir begriffen, was geschehen war. Es dauerte Wochen, bis wir uns damit zurecht finden konnten. Mit dem Gefühl, ein altes, vertrautes Ehepaar zu sein. Zu verstehen, dass unsere Liebe so tief und stark war, dass wir auch den Rest der Welt wieder sehen und hören konnten. Bevor wir entdeckten, dass die Welt noch immer ausgeschaltet ist, wenn wir zusammen sind, mussten wir beide leiden. Die Trennung war das Schlimmste, was mir geschehen konnte. Und für dich war es nicht anders. Ich weiss noch, wie wir endlich miteinander geredet haben. Bei mir in der Küche. Auf den unbequemen Hockern. Du hast meine Hände gehalten und gesagt: „Es tut so gut deine Hände zu halten!“ Ich antwortete dir: „Wenn du bei mir bist, dann habe ich kein Alter, dann habe ich keinen Körper – wenn du bei mir bist, dann bin ich eins. Ich bin dann Vollkommen. Ich bin dann eins mit dem Licht, der Liebe. Eins mit dem Göttlichen.“ Du hast mich lange angesehen, so liebevoll und zärtlich und dann sagtest du: „ich weiss genau, was du meinst!“
Von jenem Abend weg konnten wir das Leben ausserhalb von uns wieder anpacken. Gemeinsam vorwärts gehen mit der Sicherheit, der andere ist da. Jede Sekunde des Tages ist er da, auch wenn man nicht bewusst an den anderen denkt. Er ist da. Das gab mir die Kraft, all die Dinge in Angriff zu nehmen, die ich noch tun wollte. All die Träume leben, die ich hatte. Wir fanden den Weg, zusammen und doch jeder für sich zu sein. Zwei Leben zu leben, die aneinander geschmiegt wie eines wirkten. Wie ein überdimensionales Kunstwerk an dem zwei Künstler arbeiteten.
Wenn ich heute zurück blicke, dann ist mein Leben genau das. Ein Kunstwerk, das auch deine Handschrift trägt. Und mir wird klar, meine Dankbarkeit dafür ist grösser, als die Trauer um dich. Denn das Kunstwerk ist beinahe vollkommen. Jetzt folgt der Teil, den immer ich übernommen habe. Und das werde ich auch jetzt tun. Ich mache den Feinschliff – ohne etwas zu zerstören.
Und ich verstehe: Erst in jenem Moment in dem ich dir folgen werde, ist das Kunstwerk vollkommen. Erst dann…
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Mit all meiner LiebeÂ
FLEURdelaCOEUR Dankbarkeit ..... - Die sollte man über all der Traurigkeit gewiss nicht vergessen. Da bin ich ja gespannt, was auf den anderen Sternen stehen wird ..... Ganz besonders gefällt mir, wie du den Einzug der Alltäglichkeit in eure Beziehung beschreibst. Das hat mir auch einmal schwer zu schaffen gemacht ... bis ich begriff ..... GglG fleur |