Romane & Erzählungen
VerstÀndnis - Brief Nummer 1

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"VerstÀndnis - Brief Nummer 1"
Veröffentlicht am 25. Juli 2013, 12 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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VerstÀndnis - Brief Nummer 1

VerstÀndnis - Brief Nummer 1

Mein Liebster!

Zu Weihnachten hast du mir eine Schachtel geschenkt, in der sich 64 Sterne fanden. Dazu hast du eine Karte geschrieben, auf der stand: „Ich werde mit 90 Jahren sterben – jetzt bin ich 26 Jahre jung, ich habe also noch 64 Jahre vor mir. So viele Sterne findest du in der Schachtel. FĂŒr jedes Jahr, das ich noch lebe – fĂŒr jedes Jahr, das ich mit dir zusammen lebe, einen Stern.“

Ich weiss noch, wie ich lĂ€chelte und meinte, deinen Optimismus hĂ€tte ich gerne. Ich wollte von dir wissen, warum du so sicher bist, dass du 90 Jahre alt werden wĂŒrdest. Du sagtest, du wĂŒsstest es einfach. Kein Mensch weiss das. Und wie wir heute beide wissen, war es einfach dein Optimismus. Du wurdest nicht 90. Wir hatten nicht 64 Jahre zusammen. Nicht einmal die HĂ€lfte davon. Aber ich will nicht beim Ende verharren, ich will zurĂŒck zum Anfang gehen. Deine Sterne waren der Anfang.

An jenem Weihnachtsabend waren wir beide alleine. Draussen lag seit Jahren zum ersten Mal Schnee in der Weihnachtsnacht. Ich hatte mindestens 100 Kerzen angezĂŒndet und ĂŒberall im Wohnzimmer aufgestellt. Den Baum hast du geschmĂŒckt mit den alten Kugeln meiner Grossmutter und den Glasengeln von deiner Grossmutter. Er sah so wunderschön aus. Wir sassen auf dem Teppich und bestaunten ihn. Ihn, der inmitten meines Wohnzimmers stand und nur von Kerzenlicht beleuchtet wurde. Du hast mich in die Arme genommen, mich festgehalten und mir wundervolle Dinge ins Ohr geflĂŒstert. Nein, keine AnzĂŒglichkeiten. Oh nein. Du hast mir erzĂ€hlt, was wir noch alles erleben zusammen. Wo wir noch hingehen, zusammen. Und dann hast du mir dein Geschenk ĂŒberreicht.

Ich lĂŒge nicht, wenn ich sage, das war das Schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Nur schon, dass du alle Sterne selbst ausgeschnitten hast und auf jeden Stern ein Wort geschrieben hast. Wie du die Schachtel verpackt hast, die Karte die du dazu geschrieben hast. Ich konnte deine Liebe darin spĂŒren. Du bist ein bisschen erschrocken, weil mir TrĂ€nen aus den Augen schossen und ĂŒber mein Gesicht liefen. Erst dachtest du, dass ich so enttĂ€uscht wĂ€re. Was dann bedeutet hĂ€tte, dass du mich vollkommen falsch verstanden hast. Nein. Hast du nicht. Ich konnte dich beruhigen und dich davon ĂŒberzeugen, dass es TrĂ€nen der RĂŒhrung waren. Ja. Ich war gerĂŒhrt. BerĂŒhrt ganz tief innen. Mir war klar, dass diese Sterne nicht einfach in der Schachtel bleiben können. Ich wollte diese Sterne jeden Tag sehen können. Und zwar alle 64.

Noch am selben Abend haben wir gemeinsam einen alten Vorhang an meine Zimmerdecke ĂŒber das Bett gespannt und haben die Sterne hineingelegt. Fortan hatten wir unser „Sternen-Orakel“. DafĂŒr bewegte man den Vorhang und liess die Sterne durcheinander fliegen. Dann legte man sich auf das Bett, sah nach oben und las die Wörter die man sehen konnte. Im Laufe der Zeit lachten wir oft, weil das Orakel immer irgendwie recht hatte.

Oh, wie oft hat es mich getröstet? Wie oft hat es mir Kraft gegeben? UnzĂ€hlige Male. Nicht nur mir. Es wurde in unserem Freundeskreis zum Orakel, das aus den unterschiedlichsten AnlĂ€ssen befragt wurde. Ich lag so oft mit meiner Freundin darunter. Oder mit deinem Bruder. Weisst du noch? Als er sich verliebt hatte und es einfach nicht klappen wollte. Wir lagen so lange und so oft darunter, bis er sie vergessen konnte. Oder als du nicht wusstest, wohin dein Weg gehen sollte. Als du orientierungslos durchs Leben getrudelt bist. Dank dem Stern-Orakel hast du einen völlig anderen Weg eingeschlagen, als du am Anfang glaubtest einschlagen zu mĂŒssen. Es war der richtige Weg. Das wissen wir beide. Es war dein Weg – der dich erfĂŒllt und glĂŒcklich gemacht hat. Auch ich fand oft Trost und GlĂŒck darunter.

Heute Morgen bin ich das 64. Mal ohne dich aufgewacht. Ich weiss das so genau, weil ich Striche an die Wand male. Jeden Tag einen Strich. Und heute, der 64. Strich, liess mich innehalten. 64 – diese Zahl erinnerte mich an etwas. Erinnerte mich daran, wie sehr diese Zahl in unserem Leben war. Ich erinnerte mich, wie du sagtest: „Eine 6 und eine 4 ergeben in der Quersumme 10 – Du bist meine 10!“ – ich erwiderte: „Stimmt. Nur in der Nummerologie gibt es die 10 nicht. Die 0 wird weg gestrichten und so ist es eine 1. Das, was wir beide zusammen sind. Eins. Eine Einheit.“, wir haben uns angelĂ€chelt und sind dann eingeschlafen.

Daran erinnerte ich mich, als ich den 64. Strich an die Wand malte und schon im nÀchsten Augenblick wusste ich, was ich tun muss.

Ich löste den Himmel von der Decke, sammelte die Sterne ein und legte sie in die Schachtel zurĂŒck, die ich die ganzen Jahre behalten habe. Dann machte ich mich auf die Suche nach einem schönen Heft, holte meine alte FĂŒllfeder hervor, zĂŒndete Kerzen an, machte mir eine grosse Tasse Kaffee und setzte mich an meinen Pult, den du vor vielen Jahren gebaut hast. Ich nahm die Schachtel und zog einen Stern heraus. Auf ihm stand: „VerstĂ€ndnis“.

Es mĂŒssen Stunden vergangen sein, ich weiss es nicht, Stunden in denen ich den Stern angestarrt habe, dieses Wort. Stunden in denen ich darĂŒber nachdachte, was ich nun damit mache. Mein ZeitgefĂŒhl ist – es ist weg. Wenn ich aus dem Fenster sehe, sehe ich dunkel. Das letzte Mal als ich raus gesehen habe war es hell. Es ist sogar schon so dunkel, dass ich den Stern gar nicht mehr sehen kann. Ich weiss einfach, dass er da ist. Wie er aussieht. Ich sehe deine Handschrift. Deine Handschrift. Sie ist mir so vertraut. Ich kenne jeden Buchstaben, weiss wie du ihn geschrieben hast. Die Bogen und Striche, die FĂŒhrung der Feder – oder Kugelschreiber. Bleistifte hast du anders gehalten. Du hast damit anders gezogen und Bogen gemacht. Was habe ich es geliebt, dir zu zusehen, wenn du etwas geschrieben hast. Etwas auf den Einkaufszettel gekritzelt hast. Manchmal konnte ich es echt nicht entziffern. Manchmal hat mich das genervt. Vor allem dann, wenn ich es hĂ€tte mĂŒssen lesen können und ich dich nicht fragen konnte.

Was mache ich jetzt mit diesen Sternen? Was mache ich mit diesem Wort: VerstÀndnis?

Ehrlich. Das ist das einzige, was mir jetzt fehlt. VerstÀndnis. Nein. Ich habe keines. Warum bist du von mir weg gegangen? Warum jetzt? Wir hatten viel zu wenig Zeit. Es gibt noch so viel, was ich dir sagen wollte. Noch so viel, was wir tun wollten. Mir fehlt das VerstÀndnis, dass du nicht mehr da bist. Warum? Warum du? Warum?

Es war, als hĂ€tte mich ein leichter Sommerwind berĂŒhrt – was nicht sein kann, es ist Winter. Es ist dunkel und es ist kalt. Aber da war ein Hauch. Irgendetwas hat mich berĂŒhrt. Ich sass ganz still und wartete, dass es noch einmal geschieht. Lange. Sehr, sehr lange sass ich still und wartete. Meine Gedanken kreisten um die Frage, warum mĂŒssen die Guten so frĂŒh gehen? Liegt es daran, dass die Guten egal, wann sie sterben, immer zu frĂŒh sterben? Oder dass die Guten im Grunde nicht besser sind als die anderen, man sie aber viel mehr liebt und viel mehr vermisst.

„Mein Engel! Du selbst hast mich gelehrt, dass wir endlich werden in dem Moment, in dem wir gezeugt werden. Und dass der Zeitpunkt der Endlichkeit schon da bestimmt ist. Alles hat ein Ende und wir gehen dann, wenn es Zeit ist zu gehen. Der Tod ist nicht böse oder rachsĂŒchtig, er ist nur die TĂŒr durch die wir gehen um wieder Unendlich zu sein.“ – das wĂŒrdest du mir sagen. Vielleicht nicht genau in diesem Wortlaut. Aber in diesem Sinne. Das wĂŒrdest du sagen. Und mich dann in die Arme nehmen und meine Stirn kĂŒssen. Ich habe dich einmal gefragt, warum du meine Stirn kĂŒsst, weil du das sehr oft getan hast. Du hast gesagt: „Weil ich liebe, was da hinter Haut und Knochen abgeht.“

Jetzt weiss ich es. Ich weiss, was ich damit tun werde. Jeden Tag werde ich einen Stern ziehen und das Wort darauf lesen. Mich an etwas erinnern, was mit dir und dem Wort zu tun hat. Es erzÀhlen indem ich es aufschreibe. Indem ich dir einen Brief schreibe. Und dann werde ich raus gehen und etwas tun, das mit diesem Wort zu tun hat. So verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart und ich habe eine Zukunft. Ja. Das werde ich haben. Aus dem einfachen Grund: Ich bin immer noch da. Ich sterbe nicht. Mein Herz hört nicht auf zu schlagen nur weil ich das will. Das hat seinen Grund. Ich weiss. Auch wenn ich ihn alles andere als verstehe. Wenn ich alles andere als VerstÀndnis habe.

Doch ich will jetzt nicht darĂŒber nachdenken. Sondern ich will darĂŒber nachdenken, wann du fĂŒr mich VerstĂ€ndnis hattest. Du hattest meistens VerstĂ€ndnis fĂŒr mich. Vor allem dann, wenn ich dir die Fragen beantworten konnte, warum ich etwas getan oder gesagt habe. Warum ich etwas eben nicht ausgesprochen oder gemacht habe. Du mochtest es nicht, wenn du mich nicht verstehen konntest. Du sagtest dann: „Ich verstehe dich nicht! Und ich mag das nicht! Weil ich das GefĂŒhl habe, mich von dir zu entfernen mit jedem Mal, in dem ich nicht verstehe!“ – ich hatte immer die Chance es dir zu erklĂ€ren, mich zu erklĂ€ren. Du hast nicht ĂŒber mich gerichtet, das musste ich zuerst lernen. Du hast nicht entschieden ob es gut oder schlecht war. Du hast nicht gesagt, es ist richtig oder falsch. Du wolltest es einfach nur verstehen. Mich verstehen, das war dein Ziel. Um VerstĂ€ndnis fĂŒr mich zu haben.

Meine StĂ€rke war das nicht. Ich wollte verstehen, um eine Meinung haben zu können. Nicht VerstĂ€ndnis, sondern eine Meinung. Ich habe von dir gelernt, dass VerstĂ€ndnis nicht der Freipass fĂŒr eine Meinung ist. Also, doch schon fĂŒr eine Meinung. Aber eine Meinung, die man fĂŒr sich behĂ€lt. Hat man dich gefragt, nach deiner Meinung, waren deine Antworten klar und direkt. Du hattest immer eine Meinung und hast trotzdem niemals gerichtet oder gewertet.

Das habe ich von dir gelernt in der Zeit, die wir zusammen hatten. Das hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Ich habe mich nie dafĂŒr bedankt. Ich hatte die Zeit nicht, das zu begreifen und mich bei dir zu bedanken. Du wĂŒrdest jetzt lĂ€cheln. Dieses LĂ€cheln… es gibt ein Foto. Ein einziges Foto mit diesem LĂ€cheln, diesem speziellen LĂ€cheln das es nur fĂŒr mich gab. Ich habe das Foto geschossen, damals, als wir in Venedig waren. Weisst du noch? Es ging um die Handtasche, die ich so unbedingt haben wollte – du hattest VerstĂ€ndnis dafĂŒr, so dass wir den Weg nochmal zurĂŒckgingen. Den ganzen Weg, fĂŒr eine Tasche. Als du sie bezahlt hast, hast du dich zu mir umgedreht und gelĂ€chelt und ich habe abgedrĂŒckt. Heute noch bin ich dankbar fĂŒr dieses Foto. Weil es mich immer daran erinnern wird: Du hast mich verstanden. Du hattest VerstĂ€ndnis fĂŒr mich.

Es ist mitten in der Nacht jetzt. Ich kann nicht mehr raus gehen und fĂŒr jemanden VerstĂ€ndnis haben. Ich kann diese Aufgabe heute nicht mehr lösen.

Oder vielleicht doch?

Mein Liebster! Du hattest unendlich grosse Schmerzen, dein Weg war hart und steinig. Schmal und dein Leben hing lange am seidenen Faden. Du wolltest gehen. Ja, du hast dich gesehnt danach, endlich gehen zu dĂŒrfen. DafĂŒr habe ich VerstĂ€ndnis. Wirklich. Du hast lĂ€nger durchgehalten, als ich es hĂ€tte können. Und es ist weder mein Recht noch sonst irgendetwas, so zu tun als ob…

Liebster, ich habe VerstĂ€ndnis dafĂŒr, ich verstehe, warum du los gelassen hast. Warum du mich verlassen hast. Es geht dabei nicht um mich, sondern darum dass dein Leben nicht mehr lebenswert war. Es ging nur um dich. Es geht nur um dich. Ich verstehe, dass es so kommen musste. Dass es so gekommen ist. Ich habe VerstĂ€ndnis dafĂŒr, dass die Ärzte irgendwann aufgehört haben… ich habe VerstĂ€ndnis dafĂŒr, dass du erleichtert warst und dass dein Gesichtsausdruck deshalb so friedlich war. Als du erlöst wurdest, als wir dich los gelassen haben, hast du dir keine Sorgen mehr gemacht und bist eingeschlafen. Ich habe VerstĂ€ndnis dafĂŒr, dass du nicht mehr aufwachen wolltest.

Du fehlst mir nur so furchtbar.

 

Mit all meiner Liebe

 

 

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bloodredmoon

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bloodredmoon Re: -
Zitat: (Original von shirley am 27.07.2013 - 07:40 Uhr) Ich bin gefesselt und tief berĂŒhrt.
Mehr mag ich nicht schreiben.....

LG Shirley



ich verstehe es auch so :)

Danke!

lg seelchen
Vor langer Zeit - Antworten
shirley Ich bin gefesselt und tief berĂŒhrt.
Mehr mag ich nicht schreiben.....

LG Shirley
Vor langer Zeit - Antworten
bloodredmoon Re: -
Zitat: (Original von roxanneworks am 26.07.2013 - 10:07 Uhr) Nichts, was ich jetzt schreiben wĂŒrde, wĂ€re Deinen Text annĂ€hernd gerecht...
deshalb nur mundvolles Schweigen von mir...

Ganz liebe GrĂŒĂŸe
roxanne




Danke!!! Vielen, vielen Dank!

glg seelchen
Vor langer Zeit - Antworten
roxanneworks Nichts, was ich jetzt schreiben wĂŒrde, wĂ€re Deinen Text annĂ€hernd gerecht...
deshalb nur mundvolles Schweigen von mir...

Ganz liebe GrĂŒĂŸe
roxanne
Vor langer Zeit - Antworten
bloodredmoon Re: Eine wunderbare Geschichte -
Zitat: (Original von FLEURdelaCOEUR am 25.07.2013 - 22:18 Uhr) in deiner ganz besonderen Art geschrieben, mit ganz alltĂ€glichen Worten und doch zutiefst berĂŒhrend ...
Und man kann daraus lernen, jedenfalls ich ... eine Meinung zu haben, ohne zu werten oder gar zu richten .... VerstÀndnis eben ...

GlG fleur



Meine liebe Fleur!
DANKE! Dein Kommentar tut mir so gut! Bald kommt der zweite Brief :)

Ja... VerstÀndnis haben ohne zu werten oder zu richten... das habe ich von ihm gelernt, wie so vieles anderes auch...

und du hast mir gerade Mut gemacht, mit "in deiner ganz besonderen Art" :)) Hab Dank!

glg seelchen
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Eine wunderbare Geschichte - in deiner ganz besonderen Art geschrieben, mit ganz alltĂ€glichen Worten und doch zutiefst berĂŒhrend ...
Und man kann daraus lernen, jedenfalls ich ... eine Meinung zu haben, ohne zu werten oder gar zu richten .... VerstÀndnis eben ...

GlG fleur
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