Schon wenige Minuten später erschienen Sven und Silvia wieder am Nest. Sven hatte ihr kurz erklärt, was es mit Stefan auf sich hatte. „Familienrat“, hatte Silvia nur kurz gesagt, sich in die Lüfte erhoben und war Richtung Nest losgeflogen. Sven eilte ihr hinterher. Da war nun die ganze Storchenfamilie am Nest versammelt. Aus dem Nachbarnest klangen höhnische Bemerkungen zu ihnen hinüber wie: „Jetzt geht es rund, jetzt wird Stefan Ärger bekommen und den hat er auch verdient.“ Sie hörten nicht auf das dumme Geklapper sondern konzentrierten sich auf ihre eigene Familie. Es musste etwas geschehen, denn schon bald würden die Störche sich auf die lange Reise nach Afrika machen. Bis dahin musste Stefan seine Höhenangst überwunden haben und er müsste fliegen können. Schließlich konnte er nicht den Rest seines Lebens hier oben im Nest verbringen. Was wäre, wenn der Winter kam? Dann würde es für ihn hier nichts zu fressen geben. Er musste einfach irgendwann das Nest verlassen und je früher er fliegen lernen würde, desto besser. Silvia machte also den Vorschlag, dass sie, Sven und die beiden Storchenmädchen auf dem Nestrand einen Kreis bildeten, so dass Stefan nicht sah, wie hoch es war. Er könnte dann in diesem Kreis seine Flügel trainieren. Das würden sie jetzt regelmäßig machen, dann würde er bald merken, dass er fliegen kann und alles würde gut werden. Gesagt getan, Flügel an Flügel wurde ein Kreis gebildet. Langsam erhob Stefan sich aus der Mitte des Nestes und begann, mit den Flügeln zu schlagen, erst langsam und niedrig, dann aber immer mutiger und immer höher. Er war erstaunt darüber, wie viel Kraft er in den Flügeln hatte. Aber schon nach ein paar Minuten wurde er von dieser Anstrengung müde. Das sagte er jetzt auch, murmelte: „Danke“ und kauerte sich wieder in die Mitte des Nestes. Die Storcheneltern waren fürs Erste zufrieden, erhoben sich vom Nest und machten sich auf den Weg, um ihren Kindern etwas Fressbares zu besorgen. Aufgeregt redeten jetzt Stella und Stina auf Stefan ein: „Toll hast du das gemacht, du wirst sehen du schaffst das. Das war doch wirklich eine gute Idee von unseren Eltern. Du kannst dich freuen, solche Eltern zu haben. Wir sind stolz auf dich. Sind wir nicht eine tolle Familie?“ Stefan nickte, ja, sie waren wirklich eine tolle Familie. Was hätte er nur ohne sie gemacht? Wäre er im Nachbarnest geboren worden, hätte ihn sicherlich schon längst irgendjemand aus dem Nest geworfen. Dann würde er schon nicht mehr am Leben sein. Er war seiner Familie wirklich sehr dankbar, aber seine Angst hatte er noch nicht überwunden, das sagte er jetzt auch seinen Schwestern. „Aber Stefan“, meinte Stina: „Du hast gerade erst damit angefangen zu trainieren. Lass dir Zeit, erwarte nicht zu viel von dir.“ In regelmäßigen Abständen nutzte nun die Familie jede Gelegenheit, um Stefan zum Üben zu bewegen. Es dauerte gar nicht lange, da konnte er sich sogar schon ein wenig vom Nest erheben. Von Mal zu Mal wurde er sicherer. Er spürte, dass er sich auf seine Flügel verlassen konnte. Immer mutiger wurde er, immer neue Bewegungen probierte er aus und er war stolz auf sich.
Doch dann passierte es. Lag es daran, dass die Schwestern sich zu sehr auf Stefan konzentrierten? Lag es daran, dass Stefan nicht auf seine Schwestern achtete, sondern nur darauf, wie mächtig er mit seinen Flügeln schlagen konnte? Er wusste es nicht, aber er hatte Stina am Kopf getroffen. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts aus dem Nest. „Hilfe“ konnte sie noch rufen, dann fiel sie und fiel, tiefer und immer tiefer. Bevor irgendjemandem klar war, was dort gerade passierte, spreizte Stefan seine Flügel so weit er nur konnte, erhob sich vom Nest, drehte eine schnelle Runde und flog, um seiner Schwester zu helfen. Er flog schnell unter sie und rief ihr zu: „Setz dich auf mich drauf, ich bringe uns zurück zum Nest.“ Stina blieb gar nichts anderes übrig, denn das alles passierte so schnell, dass sie gar nicht daran dachte, selbst ihre Flügel zu benutzen. Also ließ sie sich auf Stefans Rücken nieder. Durch das Gewicht wurden die beiden jungen Störche ein wenig nach unten gedrückt, aber Stefan war stark. Schnell hatte er begriffen, dass er jetzt alle Kraft aufbringen musste, um sich und seine Schwester in Sicherheit zu bringen. Er breitete die Flügel aus so weit es ging. Mit kräftigen Flügelschlägen flog er mit seiner Schwester auf seinem Rücken zum Nest zurück. Er setzte sich erschöpft in die Mitte des Nestes, wo er bis jetzt die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte und ließ Stina langsam von seinem Rücken ins sichere Nest rutschen. Nicht nur Silvia, Sven und Stella hatten vor Aufregung den Atem angehalten, nein auch die Störche aus dem Nachbarnest hatten aufgeregt zugesehen. Jetzt klapperten alle bewundernd. Stefan atmete schnell, denn diese Aktion hatte ihn viel Kraft gekostet. Stina saß nun wieder sicher im Nest. Auch ihr war die Aufregung anzumerken. Es dauerte einen Moment, bis alle wieder zur Ruhe gekommen waren. „Danke, Stefan“, klapperte Stina leise: „Du hast mir das Leben gerettet. Ich bin stolz, einen Bruder wie dich zu haben.“ Stefan war ganz verlegen. Er hatte doch gar keine Zeit gehabt nachzudenken. Er hatte seiner Schwester einfach helfen müssen, also hatte er in diesem Moment seine Höhenangst vergessen und getan, was getan werden musste. So ist das eben in einer Familie: Wenn es nötig ist, hilft einer dem anderen, selbst wenn er dazu seine schreckliche Angst überwinden muss.
Stolz standen Silvia und Sven am Rand des Nestes. Sie waren die beste Storchenfamilie auf der ganzen Welt. Es war ein wirklich tolles Gefühl.
Seit diesem Tag hatte Stefan seine Höhenangst überwunden. Fleißig übte er mit seinen Schwestern das Fliegen. Immer höher erhoben sich die jungen Störche nun vom Nestrand. Stefan konnte die Aussicht sogar genießen. „Seht mal“, sagte er zu seinen Schwester: „Das, was da hinten in der Sonne glitzert, ist bestimmt Wasser. Ob es da leckere Frösche gibt? Wollen wir unsere Eltern überraschen und dort hinfliegen, was meint ihr?“ Begeistert stimmten die beiden Storchenschwestern ihm zu. Mutig erhoben sich alle drei vom Nest, flogen hoch in die Luft, drehten einige Runden über dem Nest und machten sich auf den Weg zum Wasser.
Sven und Silvia waren nach der Aufzucht der Jungen ziemlich erschöpft. In den letzten Tagen hatten sie immer öfter Futter suchen müssen, weil ihre Kinder nun schon so groß waren, dass sie immer mehr Futter brauchten. Gleichzeitig mussten die Eltern aber auch an sich selbst denken, denn nun würde es nicht mehr lange dauern, bis alle Störche wieder den langen Weg nach Afrika antreten würden. Bis dahin mussten aber auch Sven und Silvia Kraft tanken. Das konnten sie am besten machen, indem sie möglichst viel Futter zu sich nahmen, aber ihre Kinder gingen selbstverständlich vor, also versorgten sie immer erst Stina, Stella und Stefan mit Futter, bevor sie an sich selbst dachten. Das ist bei Eltern meistens so, die Kinder sind das Wichtigste in ihrem Leben.
Müde stocherten Silvia und Sven in der Erde am Rande eines Teiches auf der Suche nach Fröschen, Mäusen oder Regenwürmern, als sie plötzlich neben sich ihre Kinder sahen. „Hallo“, rief Stella aufgeregt: „Wir wollen uns jetzt unser Futter selber suchen, es war Stefans Idee.“ Stefan war verlegen, er stolzierte neben seinen Schwestern durch das Gras und hatte den Kopf vor Verlegenheit tief gesenkt, als er plötzlich direkt vor seinen Füßen einen Frosch sah. Ohne lange zu überlegen stieß er mit seinem Schnabel zu, warf den Kopf nach hinten und schluckte den Frosch herunter. Sven hatte seinen Sohn dabei beobachtet: „Klasse Stefan, weiter so“, ermunterte er seinen Sohn. Stefan merkte, wie sein Herz vor Freude hüpfte. Ein Lob von seinem Vater tat so gut.
Gemeinsam stolzierte jetzt die Familie Storch über die Wiese. Sven und Silvia zeigten ihren Kindern, wo sie das beste Futter fanden und wie sie es am besten fingen. Natürlich ging bei den Storchenkindern am Anfang ab und zu noch etwas daneben. Hatten sie beispielsweise eine fette Heuschrecke gefangen, dann fiel die in dem Moment, als das Storchenkind den Kopf nach hinten warf, um die Heuschrecke zu fressen, wieder hinunter und verschwand schnell im hohen Gras.
Jeden Morgen brach jetzt die Familie geschlossen auf, um sich die nötige Kraft für die lange Reise anzufuttern. Fand der eine mehr Futter als ein anderer, dann halfen sie sich gegenseitig, damit jeder möglichst gleichviel fressen konnte. Sie hielten eben fest zusammen, so wie es in einer richtigen Familie auch sein soll.
Bald schon merkten die Störche, dass die Tage immer kürzer wurden und dass es nach und nach immer kälter wurde. Die Bauern hatten jetzt sogar schon das Korn geerntet. Viele Störche suchten hinter den Traktoren auf den Feldern ihr Futter, weil es hier viel leichter zu finden war. Aber immer öfter regnete es jetzt, so dass die Störche immer öfter zusammengekauert auf dem Nest saßen, die Flügel fest an ihre Körper gedrückt, damit der Regen an ihnen hinunterfließen konnte.
„Morgen,“ sagte Sven eines Tages zu seiner Familie: „Morgen geht es los, also versucht, heute noch möglichst viel zu fressen, denn morgen treffen wir uns mit vielen anderen Störchen auf der großen Wiese und starten dann in Richtung Afrika.“ Aufgeregt machten sich die Storchenkinder auf den Weg zum Wasser, um sich noch einmal richtig satt zu fressen.
Am nächsten Tag folgten sie ihren Eltern zur großen Wiese. Sie hätten nicht gedacht, dass es hier so viele Störche gab, denn meistens waren nur wenige von ihnen zu sehen. Stolz gingen Sven und Silvia mit ihren Kindern durch die anderen Störche hindurch. Jeder sollte sehen, was für tolle Kinder sie in diesem Sommer großgezogen hatten. Stefan war mit Abstand der schönste, der größte und auch der hübscheste Storch von allen. Mehr und mehr spürten die Störche die Aufregung, die durch die Menge ging. Wie auf Kommando erhoben sich plötzlich nach und nach alle Störche und flogen auf. Sie drehten noch ein zwei Runden über der großen Wiese, bis alle sich dem Schwarm angeschlossen hatten und machten sich dann auf die lange Reise nach Afrika.
Solltest du irgendwann einmal so einen Schwarm von Störchen beobachten können, dann sie genau hin. Der Schönste von allen, der Storch, der am höchsten fliegt, der, der all die anderen Störche anführt, das ist Stefan. Das ist der Storch, der ängstlich im Nest gekauert hat, weil er Höhenangst hatte. Das ist aber auch der Storch, der seiner Schwester das Leben gerettet hat. Das konnte er aber nur tun, weil er eine Familie hatte, die hinter ihm stand, die ihm geholfen hat, so gut sie konnte und die ihn liebte, so wie er eben war. Diese Familie hat Stefan zu dem gemacht, was er heute ist: Ein großer, starker, stolzer Storch.
Ende