„Hannelore, Hannelore“, jemand rüttelte an ihren Schultern und wie aus weiter Ferne drang eine weibliche Stimme an ihr Ohr. Leise murmelte sie: „Noch ein bisschen“, drehte sich auf die andere Seite und zog die Bettdecke hoch. Sie dachte, sie wäre Zuhause. Plötzlich setzte sie sich abrupt auf. Zuhause war sie nie so zärtlich geweckt worden. Zuhause war es immer lauter. Ihre Eltern hatten immer mit ihr geschrieen: „Stehst du jetzt endlich auf, du faule Schlampe, zu nichts bist du zu gebrauchen.“ Wo war sie hier? Nicole saß neben ihr auf dem Bett und lächelte sie an: „Frau Peters hat mich gebeten, dich zu wecken, weil es gleich Abendessen gibt. Kommst du?“ Hannelore rieb sich verschlafen die Augen. Sie spürte, dass etwas in ihrem Bauch rumorte. Hatte sie Hunger? War das der Magen, der sich meldete? Aber schnell erkannte sie, dass es das Baby war. Sie zog Nicoles Hand zu sich heran, legte diese auf ihren gewölbten Bauch und sagte: „Fühl mal, fühlst du was?“ „Nein“, Nicole machte ein sehr nachdenkliches Gesicht. Sie schloss die Augen, um sich ganz auf die Hand auf Hannelores Bauch zu konzentrieren, aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte einfach nichts fühlen. „Mein Baby“, sagte Hannelore: „Das bewegt sich, bestimmt.“ „Jaja“, Nicole lächelte: „Nun komm, die anderen warten schon.“
Die anderen, dachte Hannelore und bekam es mit der Angst zu tun. Wie würden die anderen auf sie reagieren? Auf sie, auf die immer alle schlecht reagiert hatten. Nie hatte sie jemand richtig gern gehabt – außer Peter natürlich – aber Peter war ihr Freund und er war Arzt, das sagte er ihr immer wieder. „Wartest du auf mich?“ bat sie Nicole. „Hast du Angst?“ Hannelore nickte. „Das brauchst du nicht, hier sind fast alle sehr nett. Denen geht es doch genauso wie dir. Es wird dir hier gefallen, du wirst sehen. Aber okay, ich warte auf dich.“
„Ich muss nur schnell aufs Klo“, erklärte Hannelore: „Dann bin ich schon fertig.“
Während die beiden jungen Mädchen den langen Flur entlang Richtung Treppe gingen, zeigte Nicole immer wieder aus dem Fenster und erklärte Hannelore, wo sich der Kindergarten befand, wo große Waschmaschinen standen, dass hinter dem Haus ein großer Gemüsegarten war, wo frisches Gemüse für den Eigenbedarf angepflanzt worden war. Eifrig plappernd stakste Nicole neben Hannelore und streckte dabei ihren dicken Bauch weit nach vorne. Ab und zu strich sie mit einer Hand darüber: „Bei mir ist es bald soweit. Es wird ein Mädchen. Einen Namen habe ich auch schon. Ich werde sie Franziska Mareike nennen. Wie findest du den Namen?“ Hannelore hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen. Sie musste diese neue Situation erst einmal auf sich wirken lassen. „Find ich gut, Franziska Mareike.“
Sie waren die Treppe hinuntergestiegen und gingen nun einen weiteren langen Flur entlang auf den großen Esssaal zu. Je näher sie kamen, desto lauter wurden die Stimmen. Hannelore hörte viele Frauenstimmen, aber auch Babygeschrei und die Stimmen von kleinen Kindern. Durch die weit geöffnete Tür betrat sie hinter Nicole den großen Raum, in dem Tische verteilt waren, an denen jeweils vier Erwachsene und vier Kinder Platz hatten. Auch hier hingen bunte Kinderbilder an den Wänden. Die Wände waren hellblau gestrichen. Vor den großen Fenstern hingen Vorhänge in einem etwas dunkleren Blau. Hannelore kam es so vor, als klangen ihre Schritte viel zu laut auf den Fliesen. Als sie eintrat verstummten für einen Moment alle Frauenstimmen. Nur vereinzelt war das Weinen eines Babys zu hören. Hannelore hörte, wie an einem in ihrer Nähe stehenden Tisch ein Mädchen ihrer Tischnachbarin zuflüsterte: „Die Neue.“ Hannelore hatte sich selten so unwohl gefühlt. Nun stand sie da, trat von einem Fuß auf den anderen, senkte den Kopf und wusste nicht so recht, was sie machen sollte. Gott sei dank steuerte Frau Peters auf sie zu, hakte sich bei ihr ein und führte sie zu einem Tisch am Fenster: „Du sitzt hier am besten neben Nicole, ihr kennt euch ja schon.“ Mit diesen Worten schob sie Hannelore auf einen Stuhl, nickte den anderen Mädchen im Saal freundlich lächelnd zu und ging zu ihrem Platz zurück. Sofort setzten sich die angeregten Unterhaltungen fort. Eh sie es sich versah, hatte Nicole ihr eine Scheibe Brot auf den Teller gelegt, stupste sie in die Seite und sagte: „Iss, du hast doch bestimmt Hunger.“ Hannelore sah sich schüchtern im Raum um, aber als sie merkte, dass niemand sie mehr beobachtete, griff sie beherzt zu und aß schnell drei Scheiben Brot und trank zwei Becher Tee. Das tat gut.
Verstohlen warf Hannelore einen Blick an den Nachbartisch. Dort saß eine junge Mutter, sicherlich nicht älter als Hannelore, hielt ihr Baby im Arm und stillte es. Hannelore war von diesem Anblick völlig fasziniert. Wie schön das aussah, wie friedlich und wie klein das Baby war. Ihr Baby würde nicht so klein sein, ihr Baby würde bestimmt viel größer sein, es strampelte jetzt ja auch schon in ihrem Bauch. Hannelore lächelte.
Sie war von dem Anblick so gefesselt, dass sie gar nicht bemerkte, wie sich der Raum nach und nach leerte. Erst nach einer Weile fiel ihr auf, wie still es geworden war. Jetzt trat Frau Peters wieder an sie heran, legte ihr freundlich die Hand auf die Schulter und sagte: „Das war heute bestimmt ein anstrengender Tag. Du musst aber noch kurz mit mir ins Büro kommen und mir die Namen und die Anschrift deiner Eltern sagen, die machen sich sicher Sorgen um dich. Die müssen doch wissen, wo du bist. Und den Namen vom Vater des Babys kannst du mir dann auch gleich sagen, wenn du magst.“ „Nein, “ Hannelore stand so heftig auf, dass der Stuhl umfiel und das Baby am Nachbartisch aufhörte zu saugen und schrie. „Hannelore, “ meinte Frau Peters beruhigend: „Komm erst einmal mit in mein Büro, dann sehen wir weiter.“ Unwillig folgte Hannelore ihr den langen Flur entlang bis zum Büro. Als die beiden das Büro betreten hatten, liefen Hannelore wieder einmal die Tränen über das Gesicht. „Nicht meine Eltern“, schluchzte sie: „Die wollen mir mein Baby wegnehmen, aber ich will das behalten. Nicht meine Eltern.“ Frau Peters setzte sich wortlos hinter den großen Schreibtisch. „Mein Baby strampelt.“ Sagte Hannelore lächelnd: „Wollen sie mal fühlen?“ Frau Peters schüttelte den Kopf: „Und der Vater?“ fragte sie, einen Stift in der Hand, den Kopf über den Schreibtisch gebeugt. Hannelore hatte das Gefühl, dass die nette Frau Peters jetzt verärgert war. Das wollte sie nicht, aber sie wollte doch ihr Baby behalten, um jeden Preis.
Frau Peters sah Hannelore fordernd an. „Peter“, murmelte Hannelore. „Und weiter?“ „Peter Schulz, er ist Arzt.“ „Schulz mit z oder tz?“ kam jetzt die nächste Frage. „Weiß nicht“, musste Hannelore kleinlaut zugeben: „Hab ich nie gefragt.“ „Wo wohnt er denn, dein Peter?“ „Weiß nicht, aber er kommt mich nächstes Wochenende besuchen.“ Schnell hob sie eine Hand vor den Mund, denn plötzlich war ihr zu ihrem großen Schrecken eingefallen, dass Peter ja gar nicht wusste, wo sie war. Ihre Eltern wussten auch nicht wo sie war. Wie sollte er sie dann finden? Er musste das doch wissen mit dem Baby, der würde sich freuen. Dann würden sie eine richtige Familie werden, endlich. Schnell merkte Frau Peters, dass sie heute mit ihren Fragen nicht weiterkommen würde. Sie drückte Hannelore einen Stift und einen Block in die Hand: „Geh jetzt wieder auf dein Zimmer, wenn du möchtest, kannst du ja den Namen und die Adresse deiner Eltern aufschreiben und mir den Block zurückgeben. Das kannst du doch schreiben, oder?“ Hannelore nickte. Ja, die Namen und die Adresse ihrer Eltern konnte sie selbstverständlich aufschreiben, viel mehr aber auch nicht. Frau Peters wollte Hannelore gerade fragen, ob sie den Weg ins Zimmer allein finden würde, als es zaghaft an die Tür klopfte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und Nicoles Kopf erschien: „Wissen sie wo… Ach, da bist du ja. Kann sie mitkommen?“ Frau Peters nickte, drückte Hannelore Block und Stift in die Hand und verabschiedete sie mit einem Kopfnicken.
Flink zog Nicole ihre neue Freundin auf den Flur. Wieder plapperte sie ununterbrochen: „Was wollte die denn von dir? Ach, ist ja auch egal. Ich habe dir soviel zu erzählen.“
Auch als die Mädchen endlich in ihrem Betten lagen, plapperte Nicole weiter. Sie erzählte Hannelore, dass sie aus einem kleinen Dorf kommt, dass ihre Eltern sich so schämen würden, weil sie so jung schwanger geworden war, dass sie die Schule abgebrochen hatte, aber dass Frau Peters darauf bestanden hatte, dass sie hier weiter zur Schule gehen würde, damit sie später eine Ausbildung machen könne. Sie erzählte von ihrem Geschwistern, von ihrer Schule, von ihren Freunden, die sie jetzt schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Sie erzählte und erzählte und erzählte. Hannelore war schon längst eingeschlafen, als Nicole, froh darüber, endlich Gesellschaft zu haben, immer noch vor sich hin plapperte. Nur langsam wurde sie stiller, flüsterte: „Hannelore, schläfst du schon? Na, dann erzähle ich morgen weiter.“ Und schlief endlich auch ein.
Hannelore sah an die Decke über dem Kinderbettchen. Dort waren einige leuchtende Sterne angeklebt, die sie am Nachmittag gar nicht bemerkt hatte. Sie dachte daran, wie Peter ihr erzählt hatte: „Wenn man eine Sternschnuppe sieht, kann man sich was wünschen.“ Einer dieser Sterne stellte eine Sternschnuppe dar, also wünschte Hannelore sich, dass Peter sie am Wochenende finden würde, dass er sich mit ihr auf das Baby freuen würde und dass sie eine richtig gute Familie werden würden. Dann schloss sie die Augen und schlief ein.