Es ist schon ein paar Jahre her, denn Benjamin hatte damals noch keinen Führerschein. Also war er darauf angewiesen, dass er von einem Elternteil abgeholt wurde. Sein Vater erklärte sich dazu bereit, in die ca. 13 km entfernte Stadt Meldorf zu fahren und seinen Sohn dort zu einer vereinbarten Uhrzeit an einem vereinbarten Ort abzuholen. Das ganze ist sogar schon so lange her, dass keiner von uns ein Handy besaß.
Der Vater meiner Kinder machte sich also so zeitig auf den Weg, dass er auf jeden Fall rechtzeitig am Treffpunkt sein würde und sein Sohnemann nicht würde warten müssen. Ich musste am nächsten Tag arbeiten, also hatte ich mir vorgenommen, noch ca. eine halbe Stunde aufzubleiben und dann ins Bett zu gehen. Wie das Leben mitunter so spielt, verlängerte sich die geplante halbe Stunde auf letztendlich ca. eine Stunde.
Während ich es mir Zuhause vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, ging ich davon aus, dass Vater und Sohn schon längst zusammengetroffen waren und sich bereits auf dem Heimweg befanden, als es plötzlich an der Haustür klingelte. Wer mochte uns da zu so später Stunde noch besuchen? Ich schlurfte zur Tür und öffnete zaghaft. Benjamin stand grinsend davor. Ich trat vor die Haustür, um nachzusehen, wo denn nun unser Auto stand, das ich nämlich nicht gehört hatte. „Wo ist Papa?“ fragte ich. „Weiß ich doch nicht“, meinte Benjamin: „Ich habe rein zufällig jemanden getroffen, der mich mitnehmen konnte und da bin ich.“ „Na toll, “ grollte ich: „Und dein Vater steht jetzt in Meldorf und wartet auf dich. Der wird ganz schön sauer sein.“ „Ach“, beruhigte Benjamin mich: „Wenn er merkt, dass ich nicht da bin, wird er sich schon bald wieder auf den Heimweg machen, du kennst ihn doch.“
Mürrisch zog ich es vor, ins Bett zu gehen, um den Launen meines Mannes nach dieser verpatzten Verabredung zu entgehen.
Ich schlief auch recht schnell ein und bekam so nicht mit, wann er nach Hause kam.
Am nächsten Morgen stand ich leise auf, damit der Rest der Familie nicht von mir gestört wurde. Ich schlich leise ins Wohnzimmer. Als ich das Licht angemacht hatte, sah ich auf dem Wohnzimmertisch einen leicht zerknüllten Zettel liegen. Auf dem stand: Hiermit bestätige ich, Albert Einstein, dass ich mit meinem Mofa mit Anhänger Herrn Rolf Wieckhorst in Meldorf, Straße, Datum, Uhrzeit in sein Auto gefahren bin. Der Typ will mich verarschen, war mein erster Gedanke. Das ist also die Rache des kleinen Mannes dafür, dass sein Sohn ihn versetzt hat. Wir werden heute Abend darüber reden, Freundchen, dachte ich.
Gesagt getan: Als ich spät Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam und meinen Partner an seinem gewohnten Platz im Fernsehsessel vorfand, stellte ich ihn sofort zur Rede: „Albert Einstein ist dir also ins Auto gefahren?“ Höhnte ich. „Ja, stell dir vor:“ er erzählte mir die ganze Geschichte. Als Benjamin nicht zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort war, entschloss er sich, zum Marktplatz zu fahren in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen. Er stand also da, schräg gegenüber der Polizeistation auf einem regulären Parkplatz und wartete, als er im Rückspiegel ein Mofa mit Anhänger in Schlangenlinien angefahren kommen sah. Das schafft der nie, hatte er gedacht und er sollte Recht behalten. Auch wenn es zuerst so aussah, als würde der Fahrer sein Mofa doch noch knapp am Auto vorbeilenken können, gelang ihm dies letztendlich leider nicht. So schrammte er die komplette Seite unseres geleasten Autos entlang und hinterließ Dellen und Kratzer. Die Polizeistation war zu dieser Zeit aber wahrscheinlich schon seit Stunden nicht mehr besetzt. Also setzten die beiden Männer dieses Schreiben auf. Der Vater meiner Kinder ließ sich sogar den Ausweis zeigen, damit der gute Mann keine falschen Angaben machen konnte.
„Stell dir vor“, erklärte er mir nun abschließend: „Der Typ heißt nicht nur tatsächlich Albert Einstein, der sah auch noch genauso aus, lange strubbelige Haare und Nickelbrille.“
Da dieses Auto ein Leasingfahrzeug war, ging alles weitere einen offiziellen Weg, so dass mir wenig später schriftlich bestätigt wurde, dass Albert Einstein mitten in der Nacht mit einem Mofa in unser Auto gefahren war. Leider habe ich selbst diesen Typen nicht gesehen, macht aber auch nichts weiter, denn ich kann mir sein Aussehen lebhaft vorstellen. Allerdings muss ich, wenn ich Bilder von Albert Einstein sehe, immer wieder an diese Geschichte denken.