Kurzgeschichte
Wo Vernunft beginnt... - ...und wo sie endet

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"Vernunft beginnt oft dort, wo die Moral stirbt. "
Veröffentlicht am 07. Juni 2013, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Ich ...bin Österreicherin ...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte ...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist ...lese quer durch viele Genres ...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken
Vernunft beginnt oft dort, wo die Moral stirbt.

Wo Vernunft beginnt... - ...und wo sie endet

Wo Vernunft beginnt...und wo sie endet

„Vernunft beginnt oft dort, wo die Moral stirbt“, sprach vor wenigen Tagen ein junger Mann, der sich im Park auf eine Bank neben mich gesetzt hatte, vor sich hin in die Luft.

Vielleicht vermag sich ja der ein oder andere meinen Blick vorzustellen, der diesen Worten unweigerlich folgen musste. So schaute ich also verstohlen von dem Buch auf, in dem ich gerade gelesen hatte. Trotz meiner eher zurückhaltenden, alles andere als gesprächigen Art, regte sich in mir ob dieser Worte ein so großer Widerwillen, dass ich nicht anders konnte als kurz

angebunden anzumerken: „Wohl kaum.“

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie er leicht den Kopf schüttelte. „Du weißt gar nichts“, meinte er, ohne jedwede Bosheit in der Stimme. Es war keine Wertung, eher eine Feststellung.

„Was in aller Welt hat denn Vernunft mit Moral zu tun?“, konnte ich mir nicht verkneifen, nachzufragen, obwohl ich selbst erstaunt über meine plötzlich so gesprächige Art war.

„Das verstehst du nicht“, erwiderte er bloß, doch ich war nicht bereit, so schnell aufzugeben.

„Wie sollte ich es auch verstehen, wenn du es mir nicht erklären willst?“

Mehrere Sekunden vergingen, ohne, dass

er auch nur einen Laut von sich gab, weshalb ich

schon glaubte, dass dies seine letzten Worte gewesen waren Doch dann meinte er plötzlich: „Weißt du, ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, aber vernünftig waren sie alle.“ Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, schwieg ich, in der Hoffnung, dass er von selbst weitersprechen würde, was er auch tatsächlich tat.

„Zivilcourage nennen es manche. Ich halte es eher für dumm, sich selbst in Gefahr zu bringen, um anderen zu helfen. So dumm. Und so habe ich es auch nicht getan. Habe zugesehen, wie diese drei Hünen den Mickrigen

verprügelt und ausgenommen haben, habe mich weggedreht, die Augen geschlossen, bin aus der Realität geflüchtet, um mich nicht verantwortlich fühlen zu müssen. Ich handelte vernünftig.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte ich schockiert. Inzwischen hatte ich mein Buch zur Seite gelegt und blickte den Mann an, der wie ein Häufchen Elend neben mir saß, die Hände auf den Knien knetend und den Kopf gesenkt, während er weitersprach.

„Es ist wohl wahr, dass ich in jenem Moment gegen mein Gewissen handelte und doch war es das klügste, dass ich habe tun können.“

„Du hättest doch zumindest die Polizei rufen müssen“, empörte ich mich.

„Das wäre genauso wenig zielführend gewesen. Bis jemand da gewesen wäre, wäre schon längst alles vorbei gewesen. Es hätte keinen Sinn gehabt.“

„Aber so hast du dich doch quasi mitschuldig gemacht.“

„Mag sein, aber das ändert nichts daran, dass ich das getan habe, was mir in jenem Moment richtig erschien. Moral hätte mich nur in Gefahr gebracht, weshalb ich mich für den Weg der Vernunft entschied.“

„Na toll“, knurrte ich, da mich seine Aussage ein wenig wütend machte.

„Ich werde mich auch jetzt für den Weg

der Vernunft entscheiden müssen, auch wenn es mir nicht gefällt.“

„Wie meinst du das?“

„Nun, ich war eigentlich nie ein Verfechter der Todesstrafe, weißt du, aber vom Standpunkt der Vernunft aus gesehen, ist es einfach dumm, zu glauben, dass jemand, der einmal ein grausiges Verbrechen – vielleicht sogar schon mehrere – begangen hat, sich irgendwann ändern wird, weshalb es für das Gemeinwohl ganz bestimmt am klügsten wäre, solche Menschen aus der Welt zu schaffen.“

Ich starrte ihn bloß ungläubig an. Das konnte er doch nicht wirklich ernst meinen.

„Ich….verstehe nicht, was daran vernünftig sein soll“, erklärte ich schließlich. „Ein solches Denken ist doch absurd.“

Er schüttelte nur den Kopf, stand auf und ging.

*

 

Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen,…jedenfalls nicht leibhaftig.

Am nächsten Morgen schlug ich die Zeitung auf, blätterte sie wie immer erst einmal von vorne bis hinten durch und hielt inne, als ich den jungen Mann auf einem Bild wiedererkannte. Mit gerunzelter Stirn las ich den dazugehörigen Text. Ungläubig ging ich

ihn wieder und wieder durch. Zeile für Zeile. Wort für Wort. Das konnte doch nicht wirklich wahr sein.

So hatte der Mann, der mich gestern so sehr mit seinen verqueren Ausführungen über die Vernunft schockiert hatte, gestern, kurz bevor er sich neben mich auf die Parkbank gesetzt hatte, in eindeutig betrunkenem Zustand ein kleines Mädchen überfahren, das noch an der Unfallstelle verstorben war. Das allein wäre schon schlimm genug gewesen, doch ich hatte bereits weiter gelesen, wusste auch um das Schicksal des Mannes Bescheid, der so sehr daran geglaubt hatte, dass Vernunft die Moral ersetzen könnte; der mit vollster

Überzeugung behauptet hätte, es wäre manchmal klüger, sich offensichtlich falsch zu verhalten, als etwas zu riskieren.

Ich schüttelte den Kopf.

Vernunft, so dachte ich, ist ganz offensichtlich abhängig vom Betrachter, genauso, wie sie von der Zielrichtung beeinflusst wird, die man im Leben hat, von der generellen Einstellung zum Leben.

Noch einmal blickte ich auf das Bild jenes Mannes, den ich gestern zum ersten Mal begegnet war.

Er hatte sich erhängt.

 

© Fianna 07/06/2013

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Über den Autor

Fianna
Ich
...bin Österreicherin
...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte
...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist
...lese quer durch viele Genres
...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken


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abschuetze Das mit der Zivilcourage ist immer so ein Ding. Die die am lautesten danach schreiebn, sind im Endefekt die Ersten, die sich abwenden. Ich könnte auch nicht von vornherein sagen, wie ich wann reagiere. Er hat schon irgendwo recht, moralisch bin ich dzu verpflichtet, aber ist es vernünftig für sich selbst? Vernunft muss man abwägen. Ist es vernünftig, mich einzumischen, vielleicht niederstechen zu lassen und zu Hause wartet meine Partner mit unseren drei Kindern vergeblich auf meine Rückkehr? (War nur ein Beispiel)
Aber der von der Bank hat weder Moral noch Vernunft !
Dass er aber im betrunkenen Zustand jemand überfahren hat, ist eine ganz andere Sache. Da hat er weder moralisch noch vernünftig gehandelt. ... und Selbstmord ist einfach nur ein Weg, sich seiner Verantwortung zu entziehen.

LG von Antje
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Du hast ganz klar verstanden, was ich mit meinem Text aussagen wollte.

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Re: Eigentlich sollten -
Zitat: (Original von baesta am 23.09.2013 - 19:38 Uhr) Vernunft und Moral Hand in Hand gehen, aber wie Du schon schriebst, es ist manchmal schwierig, sich zu positionieren.
Gut geschrieben, klingt real.

Liebe Grüße
Bärbel


Freu mich, dass es so real wirkt.

Danke dir für's Lesen und den Kommentar!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Re: -
Zitat: (Original von Gezubbel am 23.09.2013 - 18:53 Uhr) Boah, das muß man erst mal verdauen!

Zivilcourage ist in der heutigen Zeit selten.
Jeder denkt nur an sich selbst und scheut sich, ein Risiko für andere einzugehen. Da kämpfen Vernunft und Moral vergeblich miteinander.
Dann aber noch selber so schwere Schuld auf sich zu laden und sich der Verantwortung zu entziehen ...

Mit Entsetzen und Kopfschütteln gelesen.

Lieben Gruß,

Nora






Hätte ich die Geschichte nicht selbst geschrieben, hätte ich wohl auf die gleiche Weise reagiert wie du.

Danke dir für's Lesen und Kommentieren!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Eigentlich sollten - Vernunft und Moral Hand in Hand gehen, aber wie Du schon schriebst, es ist manchmal schwierig, sich zu positionieren.
Gut geschrieben, klingt real.

Liebe Grüße
Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Gezubbel Boah, das muß man erst mal verdauen!

Zivilcourage ist in der heutigen Zeit selten.
Jeder denkt nur an sich selbst und scheut sich, ein Risiko für andere einzugehen. Da kämpfen Vernunft und Moral vergeblich miteinander.
Dann aber noch selber so schwere Schuld auf sich zu laden und sich der Verantwortung zu entziehen ...

Mit Entsetzen und Kopfschütteln gelesen.

Lieben Gruß,

Nora




Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Re: Es ist doch seltsam, -
Zitat: (Original von NORIS am 26.06.2013 - 19:27 Uhr) was Vernunft und Moral mit uns machen können, wie sie uns mit ihrem Zangengriff selbst vom menschlichsten Handeln wegzerren können. Aber die Schuld scheint mächtiger zu sein.

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen.

LG Heidemarie


Danke für's Lesen und den Kommentar!

Liebe Grüße
Fianna
Vor langer Zeit - Antworten
NORIS Es ist doch seltsam, - was Vernunft und Moral mit uns machen können, wie sie uns mit ihrem Zangengriff selbst vom menschlichsten Handeln wegzerren können. Aber die Schuld scheint mächtiger zu sein.

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen.

LG Heidemarie
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Re: -
Zitat: (Original von Zentaur am 09.06.2013 - 21:34 Uhr) Hallo Fianna,
deine Story gefällt mir sehr gut.

das ist ein interessantes Thema und meine Meinung ist, dass Vernunft und Moral nicht immer getrennt voneinander zusehen sind.

lg Helga



Ja, da hast du absolut recht. Alles hat irgendwie miteinander zu tun, auch wenn sich manches hin und wieder auszuschließen scheint.

Dankesehr für's Lesen und Kommentieren!

Liebe Grüße
Fianna
Vor langer Zeit - Antworten
Zentaur Hallo Fianna,
deine Story gefällt mir sehr gut.

das ist ein interessantes Thema und meine Meinung ist, dass Vernunft und Moral nicht immer getrennt voneinander zusehen sind.

lg Helga

Vor langer Zeit - Antworten
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