I
Die Häuser reihten sich entlang der Straße wie eine PERLENKETTE. Inspektor Mops trat das Gaspedal durch, und die Perlenkette verschwamm zu einer Linie weißen Lichtes, rhythmisch aufgelockert durch die Reflexion des Blaulichtes seines Einsatzwagens.
"Willst du dich umbringen?", fragte die neben ihm sitzende Person mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit. Wobei Person die Sache nicht richtig traf.
"Und wenn schon!" Mops grinste. "Sieh es so: Da du neben mir sitzt und bereits tot bist, würde es keinen Sinn machen, dass du mich begleitest, wenn ich mein Ziel nicht erreichen würde, oder? Ich werde also jetzt nicht sterben. Nicht, solange du neben mir sitzt."
Die Tote nickte zustimmend. "Erzähl es aber bitte nicht weiter."
Mops lachte zynisch. "Wer würde mir das denn glauben?" Er riss das Lenkrad herum und zog die Handbremse. Der Einsatzwagen drehte sich mehrmals wie ein Kreisel und kam dann entgegen der Fahrtrichtung an der Einfahrt des Hauses zu stehen, an dem sich schon ein anderes Polizeifahrzeug und der Notarzt eingefunden hatten.
Mops stieg aus und ignorierte die umstehenden Zuschauer.
"Und, Müller, schon den Mörder verhaftet?"
Müller sah seinen Chef leidgeprüft an. "Inspektor, wir sind seit dreißig Minuten am Tatort, was erwarten sie? Glauben sie die Tote sagt uns, wers war?"
"Nein, das tun sie nie", murmelte Mops mit einem Seitenblick auf seinen Fahrgast, den außer ihm niemand sehen konnte. "Was habt ihr bisher herausbekommen?"
"Können wir reingehen? Hier sind zu viele Ohren auf der Straße", schlug Müller vor.
"Meinetwegen."
Im Inneren angekommen bot sich ein gewohntes Szenarium. Auf dem Fußboden der Küche lag eine Frau, langes schwarzes Haar, um dreißig, neben dem Stuhl. Der Küchentisch bot Hinweise auf die Tat: Ein Glas, halb gefüllt mit Orangensaft, ein Kugelschreiber, ein paar beschriebene Blätter.
"Hinweise auf eine körperliche Auseinandersetzung?", fragte Mops.
"Nein. Wie es aussieht, hat die Frau sich vergiftet."
Mops sah den Arzt an. "Freiwillig? Womit?"
Der Arzt zuckte mit den Schultern. "Wie freiwillig Selbstmorde sind, ist wohl ein Thema für die Philosophen. Zumindest gibt es keine offensichtlichen Spuren von Gewaltanwendung. Womit? Auf der Spüle steht ein Glasbehälter. Wenn die Aufschrift stimmt, dann enthält er HERBSTZEITLOSEN-Samen. Daneben ein Mörser." Er schüttelte den Kopf. "Nicht das einzige seltsame Gewürz, was die Dame im Schränkchen dort aufbewahrte." Der Arzt zeigte auf den geöffneten Gewürzschrank. Dort waren, fein säuberlich aufgereiht und beschriftet, diverse giftige Pflanzen und Pflanzenteile aufgereiht. "Genug um die halbe Stadt zu vergiften."
"Der Name der Frau ist, Verzeihung, war Gretchen Frage", gab Müller bekannt.
Mops drehte sich zum Geist, legte die Hand an die Stirn und intonierte die GRETCHENFRAGE " Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich gute Frau, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon."
"Sehr komisch", war ihre Antwort.
"Irgendwelche Bekannte oder Verwandte?", fragte Mops niemanden im Besonderen.
"Eine Schwester. Die hat aber ein ALIBI."
"Was macht sie so sicher?"
"Nun, als wir sie angerufen haben, sagte sie, dass sie nicht allein sei. Seit Stunden."
"Sie lügt!"
"Sie lügt?", fragte Mops.
"Sie lügt?", fragte Müller. "Das geht jetzt aber zu weit, Inspektor. Ich hatte auch ihren Mann am Telefon."
"Sie lügt!", heulte der Geist. "Sie lügt! Sie lügt! Sie lügt!"
Mops schüttelte benommen den Kopf.
"Alles in Ordnung?", fragte der Arzt.
"Ich bin nicht sicher. Da haben wir hier ein Opfer, das sich für den SCHIERLINGSBECHER entschieden hat, und ich habe trotzdem den Eindruck, dass es Mord war?"
"Es war Mord!", schrie der Geist.
"Jaja, schon gut!"
"Mit wem reden sie dauernd?", fragte der Arzt mit besorgter Miene.
"Mit der Toten", gab Mops zur Antwort.
"Das macht er immer", meinte Müller entschuldigend. "Seine Art, die Fälle anzugehen."
"Haben sie schon mit einem Facharzt über das Thema gesprochen?", fragte der Arzt.
"Ja, habe ich. Er ist jetzt in der Geschlossenen, aber in einem Jahr oder so darf er wieder raus. Habe ich gehört."
"Aha."
"Was steht eigentlich in diesem Brief?", wollte Mops wissen.
"Das Übliche", gab Müller zur Antwort. "Wollen sie die Kurzfassung?"
"Ich bitte darum."
Müller nahm die Zettel auf und hangelte sich durch das Dokument. "Da ist von einer NEBELWAND die Rede, die verhindert, dass sich ein Begehren erfüllt. Aber heute würde sie den FLUSS überqueren, die letzte GRENZE. Ich werde das SIEGEL zerbrechen, steht hier, kein WAGNIS ist zu groß, um zu dir zu kommen, mein Geliebter. Und so weiter. Dann wird die Schrift immer krakeliger."
"Muss ich das verstehen?", fragte Mops, etwas ratlos. "Irgendetwas fehlt."
"Was soll fehlen?"
"Das Motiv Müller, das Motiv. Für einen Selbstmord aus Liebe ist der Text zu lang, zu konkret. Das liest sich doch fast wie eine Gebrauchsanleitung. Aber wofür?" Mops traf eine Entscheidung. "Laden sie die Schwester und ihren Mann für morgen ins Präsidium, wegen der Aufnahme der Aussagen. Und fragen sie bei den Nachbarn, ob sie etwas darüber wissen, mit wem die Tote Kontakt hatte, und wie gut diese waren. Natürlich vor ihrem Ableben."
Der Geist nickte zustimmend.
Mops sah den Geist an. "Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft", meinte er.
"Wie bitte?", fragte der Arzt.
"Ach, nichts. Soll ich sie irgendwohin mitnehmen?"
"Nein, danke. Das wäre mir dann doch ein zu großes WAGNIS."
Am nächsten Vormittag fanden sich Gretchens Schwester mit ihrem Mann, wie bestellt, auf dem Revier ein.
Das Büro von Mops war, wie immer, total überheizt. Dennoch hatte er seinen schwarzen Trenchcoat an, so dass er wie ein hagerer Höllenfürst aussah.
Bereits nach der Aufnahme der Personalien war das Paar schweißgebadet. Mops bestellte sich bei Müller einen Kaffee, ’schwarz wie die Nacht und heiß wie Lava' und bot seine Gästen ebenfalls Kaffee an, was diese dankend ablehnten.
Zusammen mit dem Kaffee brachte Müller einen Beutel aus der Asservatenkammer hinein, in den die Spurensicherung einen Glasbehälter gepackt hatte. Mops brach das SIEGEL auf, holte den Behälter heraus und stellte ihn vor sich auf den Schreibtisch.
"Sagt ihnen das irgendetwas?", fragte er die beiden.
Die Frau schüttelte den Kopf. "Nein. Meine Schwester besaß einen Schrank mit, naja, seltsamen Dingen, da könnte der Behälter her sein. Oder?"
Mops wechselte das Thema. "Ihr Name ist Helena? Auf dem Formular sieht er etwas seltsam geschrieben aus."
"Nein. Das ist schon richtig. Ich heiße Hel-Ena. Ein Doppelname." Sie lächelte doppeldeutig.
"Wo bekommt man so einen Namen genehmigt?"
"Ach, wissen sie Herr Inspektor, hinter der GRENZE sieht man das nicht so eng wie hier."
Irgendwie gefiel Mops der Satz nicht. Er blickte sich im Raum um. Seltsam, der Geist der Toten war nicht zugegen. Die ließen sich das eigentlich nie entgehen.
"Wie gut kamen sie mit ihrer Schwester aus? Entschuldigung, aber es ist eine Standardfrage", versuchte Mops das Gespräch wieder in FLUSS zu bringen.
Hel-Ena lächelte erneut. "Wir sind ein Herz und eine Seele. Seit ich mich erinnern kann, haben wir alles schwesterlich geteilt."
Wieder hatte Mops das deutliche Gefühl, dass die Antwort mehr sagte, als das was man sofort hörte. Er wandte sich an den Mann.
"Herr Möbius, seit wann sind sie verheiratet?"
Möbius zögerte, was ihm einen drohenden Blick seiner Angetrauten einbrachte. "Seit sieben Jahren. Aber wir kennen uns schon länger. Also ich, Hel und Gretchen. Eine Ewigkeit eigentlich."
Mops fröstelte. Erinnerungen, die er nicht haben konnte, stiegen in ihm hoch. In seinem Kopf tauchte Gretchen auf, wie aus einer NEBELWAND heraus. Er deutete auf das Glas. "Daraus wurde der SCHIERLINGSBECHER zubereitet. Ihre Schwester ist, wie es aussieht, allein gestorben. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sie kein ALIBI haben, obwohl sie beide zusammen waren, als der - Übergang - passierte."
Hels Augen blitzten. "Ja, das ist dann wohl die GRETCHENFRAGE. Übrigens, es waren natürlich HERBSTZEITLOSE. Diese plumpe Fangfrage hätten sie sich schenken können. Ich muss es wissen, denn ich war dort. Allein. Sehen sie Mops, und ich weiß, dass sie es sehen, unsere Existenz ist wie eine PERLENKETTE, ohne Anfang und ohne Ende. Meine Schwester und ich können es steuern. Gelegentlich streiten Gretchen und ich uns, aber glauben sie mir, es kommt alles wieder ins Lot. Mit der Zeit." Sie lachte leise und zog eine Fotografie aus ihrer Handtasche. "Hier, sehen sie. Ein Foto von der Hochzeit."
Möbius warf einen faszinierten Blick darauf. "Ja, das war eine Feier! Das stolze Paar vor dem Standesamt, im Vordergrund die Schwester als Brautjungfer. Ein Moment für die Ewigkeit." Er hauchte Hel einen Kuss zu.
Mops sah auf das Foto. Dann sah er noch einmal hin, um seinem Kopf zu bestätigen, was nicht sein konnte. Die Frau neben Möbius war Gretchen.