Ich habe eine Freundin, deren Mutter ist 80 Jahre alt und leidet an Altersdemenz. Das ist im Grunde genommen ein trauriges Thema, aber so, wie Dörte es schildert, bringt sie mich damit immer wieder zum Lachen. So entstand die Geschichte dieser Stickjacke.
Eine Kollegin von Dörte hatte, wie Frauen es eben ab und zu mal machen, ihre Kleidung durchsortiert und all die Kleidungsstücke, die sie nicht mehr brauchte, Dörte angeboten mit den Worten: „Vielleicht kannst du ja etwas gebrauchen. Da ist sicherlich etwas dabei, das deiner Tochter passen könnte.“ Also entschied Dörte sich für einige Kleidungsstücke, darunter auch eine hübsche hellblaue Markenstrickjacke von der sie glaubte, dass sie ihrer Tochter gut gefallen könnte. Dörtes Tochter allerdings teilte die Meinung ihrer Mutter gar nicht. Das ist bei 12-jährigen Mädchen oft so. Also dachte Dörte bei sich: Meine Mutter hat so schön abgenommen, der würde diese hübsche Jacke ganz bestimmt gefallen.
Gesagt getan, sie nahm das gute Stück, besuchte ihre Mutter, zeigte ihr die Jacke und sagte: „Zieh doch mal an.“ Dörtes Mutter schlüpfte also in die hellblaue Strickjacke mit Zopfmuster und Reißverschluss, den man bis hoch zum Hals schließen konnte. Der Reißverschluss wurde hochgezogen. Die alte Frau meinte: „Wenn ich die Jacke ganz zumache, ist es etwas eng am Hals, aber ich kann den Reißverschluss ja auch etwas offen lassen, dann passt sie sehr gut, sie gefällt mir gut. Danke, wo hast du die denn her.“ Um ausschweifende Diskussionen zu vermeiden und auch, um ihre Mutter nicht noch mehr zu verwirren, antwortete Dörte kurz: „Gekauft. Ich wasche dir die Jacke durch, dann kannst du sie in deinen Kleiderschrank hängen.“ „Gut“, antwortete ihre Mutter kurz.
Wie ich schon sagte: Dörtes Mutter leidet an Altersdemenz, das bedeutet, dass sie einige Dinge entweder nicht behält oder schnell wieder vergisst. Kurz bevor Dörte ihrer Mutter diese schöne Jacke brachte, war ihre Schwester mit Familie zu Besuch gewesen. Zu diesem Besuch gehörte ebenfalls eine ältere Frau.
Der Besuch war wieder weg, Dörte der Meinung, dass ihre Mutter sich sehr über die Jacke freute, als sie einen Anruf von ihr erhielt: „Dörte, komm mal schnell, ich glaube, Gertrud hat ihre Jacke hier bei mir vergessen.“ Dörte lief sofort quer über die Straße zum Haus ihrer Mutter. Als sie das Haus betrat, stand dort ihre Mutter aufgelöst, eine hellblaue Strickjacke in der Hand, mit Zopfmuster und Reißverschluss und empfing Dörte aufgeregt mit den Worten: „Dörte schau mal, ich glaube, Gertrud hat diese Jacke hier bei mir vergessen.“ „Aber Mama“, beruhigte Dörte ihre Mutter: „Die gehört doch dir, zieh doch mal an.“ „Ach, mir gehört die? Naja, etwas eng, wenn ich sie ganz zumache, aber das brauch ich ja nicht, ich wasch sie dann mal durch und häng sie in den Schrank.“ Zufrieden mit sich und der Welt ging Dörte wieder nach Hause.
Zwei Tage später klingelte das Telefon, ihre Mutter war ganz aufgeregt, wie es Leuten mit dieser Erkrankung oft ergeht. „Dörte, komm mal schnell, ich glaube, deine Tochter hat ihre Jacke hier vergessen.“ Dörte nahm wieder einmal den Weg quer über die Straße zu ihrer Mutter, die mit einer hellblauen Strickjacke mit Zopfmuster und Reißverschluss schon auf dem Flur auf sie wartete. „Die gehört doch deiner Tochter, oder?“ fragte die alte Frau.“ „Ja“, drückte Dörte heraus, riss ihr die Jacke aus der Hand und verließ fluchtartig das Haus.
Wenige Tage später fuhr Dörte mit ihrer Familie, also mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern für einige Tage nach Dänemark. Auch eine Nachbarfamilie reiste mit. In Dänemark war es kälter, als sie alle erwartet hatten. Also gab Dörte ihrer Nachbarin eine hübsche blaue Strickjacke mit Zopfmuster und Reißverschluss, die etwas eng am Hals ist, wenn man den Reißverschluss ganz zumacht, aber man kann ihn auch ein Stückchen offen lassen, dann ist sie sehr bequem. „Gefällt dir die Jacke?“ fragte Dörte. Als ihre Nachbarin das bejahte, meinte sie nur erschöpft: „Dann behalt die bloß.“
Dörte war mit ihrer Familie erst wenige Stunden wieder Zuhause, als das Telefon klingelte. Dörtes Mutter war dran und bat eindringlich: „Dörte, kannst du bitte mal ganz schnell rüberkommen?“ Pflichtbewusst machte Dörte sich auf den Weg quer über die Straße zum Haus ihrer Mutter. Die stand auf dem Flur, zeigte auf ihre Flurgarderobe und sagte: „Guck mal, da hängt ein hellbrauner Blazer.“ „Wem gehört denn der?“ fragte Dörte. Ihre Mutter trat dicht an sie heran, so dass sie ihr ins Ohr flüstern konnte: „Weiß ich nicht.“
Zwei Tage später war der Blazer wieder verschwunden, wie und wohin, kann ich aber nicht sagen.
Wie gesagt: Altersdemenz ist eigentlich ein eher trauriges Thema. Vielleicht ist es für Dörte auch gut, auf diese Art und Weise mit der Erkrankung umzugehen. Zumindest sorgt sie mit ihren Geschichten bei uns immer wieder für Erheiterung, auch wenn ich nicht mit ihr tauschen möchte. Ich möchte die Krankheit auch nicht herunterspielen oder irgendjemanden bloßstellen, eigentlich ist es mir eher wichtig zu übermitteln, dass man viele Schwierigkeiten im Leben mit Humor wahrscheinlich viel besser meistern kann.