Hannelore saß im Wartezimmer des Frauenarztes. Sie schloss die Augen. Die Zeitschrift war in ihren Schoß gesunken mit dem Foto des Babys nach oben. Sie schniefte mehrmals als Folge ihrer Tränen und begann zu träumen. Sie sah sich, Peter und ein Baby. Ein Baby wie auf dem Bild, klein, rosig, sauber und lächelnd. Ein kleines Wesen, das sie liebte so wie sie war mit all ihren Schwächen und Fehlern. Sie träumte davon mit ihrer kleinen Familie spazieren zu gehen. Gemächlich schob sie einen wunderschönen Kinderwagen, knallrot. Rot war ihre Lieblingsfarbe, so musste der Kinderwagen aussehen. Peter ging neben ihr, strahlte vor Stolz, blickte ab und zu in den Kinderwagen, strich dem Baby über die Wange, steckte ihm den Schnuller in den Mund, zupfte das Deckchen zurecht und sagte zu Hannelore: „Das ist wirklich das schönste Baby, das ich je gesehen habe und als Arzt habe ich schon viele Babys gesehen, das kannst du mir glauben, aber unser Kind ist wirklich das schönste von allen.“
Plötzlich wurde Hannelore grob aus ihren Träumen gerissen. Die Illustrierte rutschte zu Boden. Ihre Mutter kam aus dem Sprechzimmer des Arztes gerauscht, hastete auf Hannelore zu, riss sie grob am Arm hoch und sagte: „Komm jetzt, wir müssen uns was überlegen.“ Daraufhin drehte sie sich zum Arzt um und fauchte: „Wie wollen Sie das denn beurteilen? Sie kennen uns doch gar nicht. Sie ist noch viel zu jung. Sie mit Ihren schönen Worten können mich mal…“ Diesen Satz vollendete sie nicht, zog Hannelore grob hinter sich her, immer noch zeternd. Sie sprach so schnell, dass Hannelore sie nicht richtig verstehen konnte. Nur einige Wortfetzen drangen an ihr Ohr wie: Wer soll das Balg denn ernähren? Er oder wir? Der hat gut Reden, Kohle ohne Ende, bleiben sie ruhig, sie tun ihrem Kind keinen Gefallen damit. „Ruhig bleiben, leicht gesagt in einer solchen Situation, “ zischte sie und rauschte Hannelore, die mehr stolperte als das sie lief, hinter sich herziehend.
„Mama, Mama, was ist denn los? Renn doch nicht so. Ich will das Kind, ich habe mir das genau überlegt und Peter…“ Abrupt blieb Hannelores Mutter stehen, drehte sich um, puterrot im Gesicht schrie sie: „Ach, du hast dir das genau überlegt? Du kannst gar nicht überlegen. Das Kind muss weg, so oder so, keine Widerrede.“
Und schon wieder liefen Hannelore Tränen über das runde Gesicht. Das war ihre einzige Waffe, denn mit Worten konnte sie nicht so gut umgehen. Sie riss sich von ihrer Mutter los und schrie jetzt auch: „Das ist mein Kind. Du hast mir gar nichts zu sagen. Ich behalte das Kind, das wirst du schon sehen.“ Dann drehte sie sich um und lief. Sie lief und lief ohne ein bestimmtes Ziel, einfach nur weg, weg von dieser Arztpraxis, weg von ihrer Mutter, weg von… ja, irgendwie weg von allem. Es war zuviel für ihren begrenzten Verstand. Sie konnte nicht viel, sie wusste nicht viel, aber eines wusste sie in diesem Moment genau: In ihrem Bauch wuchs ein Kind heran, ihr Kind, ihres und das von Peter und das wollte, das musste sie behalten. Sie würde es sich nicht wegnehmen lassen, niemals.
Schon lange war Hannelore nicht mehr so viel und so schnell gelaufen. Völlig außer Atem blieb sie stehen. Ihre Mutter war weit und breit nicht zu sehen und das war auch gut so. In diesem Stadtteil war sie noch nie gewesen. Sie wusste eigentlich gar nicht, wo sie war, aber egal, nach Hause gehen wollte sie ja sowieso nicht und ins Jugendaufbauwerk zurück, wo sie niemand mochte, wollte sie auch nicht.
In der Ferne hörte sie Kinderlachen. Sie ging diesem Geräusch nach und befand sich letztendlich vor einem großen roten Backsteingebäude. Das Grundstück war durch einen hohen Gitterzaun umrandet. Hannelore sah mehrere sehr junge Mädchen, die mit ihren Kindern auf einem Spielplatz waren. Einige saßen mit den kleinen Kindern im Sandkasten, andere schoben Kinderwagen schaukelnd hin und her. Sie unterhielten sich, lachten, alberten und schienen alle sehr glücklich zu sein. Hannelore strich mit der Hand über ihren gewölbten Bauch und dachte: Ich wäre auch gerne glücklich.
Plötzlich tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter: „Willst du zu uns?“ Erschreckt drehte Hannelore sich um. Vor ihr stand eine Frau mit dunkelbraunen Augen. Leichte Falten zogen sich durch das Gesicht. Die Haare waren zu einem Zopf gebunden und bereits leicht ergraut. „Du bist schwanger, stimmt doch?“ Hannelore nickte. Wer war diese Frau, was wollte sie von ihr? Wollte sie ihr auch das Baby wegnehmen? Sollte sie lieber wieder weglaufen? Aber irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie hier gut aufgehoben war.
„Wer hat dich geschickt?“ fragte die freundliche Frau: „Ach, komm am besten erst einmal mit rein, du bist ja ganz aufgeregt.“ Hannelore zögerte. Sollte sie wirklich mit dieser fremden Frau mitgehen? Auch wenn sie nicht viel gelernt hatte in ihrem Leben, so doch das eine: Gehe nie mit Fremden mit, denn die wollen dir etwas Böses.
Da hörte sie hinter sich am Zaun eine Stimme: „Bist du neu hier? Willst du auch dein Baby hier bekommen? Es wird dir gefallen, ist echt geil hier. Ich bin Nicole.“ Eine blasse Hand wurde durch den Zaun geschoben. Nicole strahlte sie aus hellen blauen Augen an. Blonde Locken umrahmten ihr rundes Gesicht. Auch ansonsten war sie eher rund, aber sehr fröhlich. „Wir können Freundinnen werden, wenn du magst“, sagte sie. Freundinnen, dachte Hannelore, hatte sie jemals eine Freundin gehabt? Sie konnte sich zumindest nicht daran erinnern. „Aber Peter“, stammelte sie. „Ach, meinte die freundliche Frau mit beruhigender Stimme: „Die Väter sind hier ganz gerne gesehen, solange sie sich benehmen. Nun komm.“
Zögernd folgte Hannelore ihr durch das große Tor. Sie stieg die Stufen hinauf und mit jedem neuen Schritt steigerte sich das Gefühl in ihr: Hier wird es dir gut gehen.