Ich erinnere mich, dass ich schon im zarten Alter von vier bis fünf Jahren nur einen einzigen brennenden Wunsch hatte: Ein echtes Indianerzelt zu besitzen, und darin zu wohnen. Diesen Wunsch teilte ich mit meiner großen, weil fast zwei Jahre älteren, Schwester.
Woher dieser Wunsch kam, und warum er so mächtig war, ließ sich nicht wirklich erklären damals, wenn ich auch heute ahne wo diese Idee ihren Ursprung hatte:
Ich hatte mir bereits mit vier Jahren das Lesen und Schreiben selber beigebracht, indem ich heimlich dabei zusah wie meine Mutter mit meiner Schwester Leseübungen machte.
Bücher selber lesen und auch schreiben können war nämlich mein anderer Lebenstraum.
Dazu muss man erwähnen, dass meine Mutter uns Kindern schon sehr früh angefangen hat Geschichten vor zu lesen, da sie selber wohl einen genetischen Leserattendefekt hatte, den sie an uns weiter vererbt hat.
Bis zum heutigen Tage ist sie der bücher-verschlingenste Moloch, der mir je begegnet ist, und obwohl ich mich redlich bemühte sie später einzuholen gelang es mir nie.
Wohl las ich in meiner J u g e n d bis zu drei Bücher am Tag, und das JEDEN Tag. Niemand in meinem A l t e r schaffte das. Meine Mutter jedoch las immer noch mehr als ich.
Zurück nun zur eigentlichen Geschichte: Ich besaß mit fünf Jahren also schon einige eigene Bücher, dazu gehörten zwei Bände von Michael Endes ‘Lukas der Lokomotivführer’ und der ‘Michel in der Suppenschüssel’ von Astrid Lindgren. Die zwischen den Zeilen versteckte P h i l o s o p h i e dieser beiden Schriftsteller hat mich entscheidend geprägt und ich liebe ihre Werke heute noch.
Dazu hatte ich vier Märchenbücher: Grimms Märchen, Märchen von H. C. Andersen, und zwei seeehr dicke Sammelbände, die mir eigentlich zu schwer waren (Das Gewicht, nicht der Inhalt). Den kleinen Prinzen hatte ich bereits mehrmals gelesen, und wusste wie eine Schlange aussah, die einen Elefant gefressen hatte. Ich konnte auch den altdeutschen Druck lesen, denn ich hatte die ‘Biene Maya’ (der Trickfilm existierte noch nicht) in einer bebilderten sehr alten Ausgabe gelesen.
Eines meiner Taschenbücher hieß: ‘Sinopah und das Pony’. Es handelte von den Erlebnissen und E r f a h r u n g e n eines Indianerjungen aus der Zeit, als die Europäer wohl das Land dieses Indianer-Stammes noch nicht erreicht hatten.
Das dort beschriebene L e b e n erschien mir so vertraut und natürlich, dass ich das Gefühl hatte dort mehr zu Hause zu sein, als in meiner realen Welt in die ich hinein geboren war.
Immer wieder spielten meine Schwester und ich die Indianerwelt nach, saßen unter mit Decken verhängten Tischen, die unsere Zelte waren, jagten mit selbstgebastelten ‘Pfeil und Bogen’, sammelten ‘Beeren’ und ritten auf unseren ‘Pferden’.
Nun war es so, dass wir im Vergleich zu anderen Kindern in unserem A l t e r , die wir kannten, sehr wenig Taschengeld bekamen. Es waren fünfzig Pfennig in der Woche, die dazu gedacht waren dass wir uns Süßigkeiten oder kleinen Spielkram kaufen konnten. Daheim bekamen wir nämlich keine Bonbons, Schokolade oder ähnliches, außer zu Weihnachten und Ostern.
Dennoch haben meine Schwester und ich unser Geld nie für diese Dinge ausgegeben.
Nachdem wir nämlich immer wieder u m s o n s t um ein Indianerzelt gebettelt hatten, erklärten meine Eltern, dass wir ja - wenn es uns denn so wichtig sei - unser Geld aufheben und auf die Bank bringen und darauf sparen könnten, so lange bis wir dieses aus eigener Tasche zahlen könnten.
Damit, glaubten sie die Angelegenheit erledigt und den Wunsch beerdigt. Welches Kind war schon so verrückt über einen, in der Kindheit unendlich erscheinenden Zeitraum hinweg, auf Süßigkeiten zu verzichten, während alle anderen sich die Bäuche voll schlugen?
Sie dachten, dass wir den Wunsch rasch vergessen würden, oder Einsicht gewinnen würden, dass er nicht erfüllbar sei.
Doch unsere Eltern hatten nicht mit unserer Zähigkeit und Ausdauer gerechnet. Kinder werden von den Erwachsenen oft unterschätzt und ihre Bedürfnisse nicht ernst genommen. Doch mitunter haben sie mehr Verständnis für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, und größeren M u t für diese zu streiten, als die - ach so starken und wissenden - Erwachsenen.
Woche für Woche, über ein ganzes - gefühlt unendliches - Kinderjahr lang, sammelten wir eisern unsere Fuffziger und ließen unsere Eltern den Betrag auf ein Sparkonto anlegen. S c h o n u n g s l o s mit uns selbst, sahen wir dabei den anderen Kindern auf die Lippen, die es sich leisten konnten, wundervolles Zuckerwerk zwischen diesen verschwinden zu lassen.
Wir hätten sicher noch ewig so weiter gemacht, zumindest so lange bis wir gelernt hätten, Geld und Zeit einzuschätzen und in ein Verhältnis zu setzen. Wir wussten ja nicht einmal, wann der benötigte Betrag erreicht werden würde, wie hoch er war, und wie wir den erträumten Gegenstand dafür erwerben konnten.
Heute frage ich mich wie viele verpasste Gelegenheiten noch aus dieser Situation entstanden wären, hätte es nicht eine unerwartete V e r ä n d e r u n g gegeben, die zwar nicht unseren Traum erfüllte, uns aber von der selbstauferlegten Klammer des Sparens erlöste.
Unerwarteter Weise streckten meine Eltern die Waffen zuerst. Vielleicht deswegen, weil wir unschuldig jedem der es wissen wollte - auch den Eltern unserer Spielkameraden - erklärten, dass wir uns leider nichts kaufen könnten, da unser Taschengeld fürs Sparen auf ein Indianerzelt drauf ging.
Nach einem Jahr war das sicher peinlich, gegenüber Verwandten und Bekannten, dass sie die Kinderwünsche nutzten, um sich die Taschengeld-Ausgabe zu sparen.
Mitten im Spiel wurde wir von unseren Eltern mit der Ankündigung unterbrochen: “Zieht euch an, wir gehen jetzt das Indianerzelt kaufen!”
Meine Schwester und ich befanden sich gerade auf einer wichtigen Schiffsreise, wobei uns das Bett als Ozeandampfer diente und unsere Kuscheltiere als Besatzung und Passagiere. Ich war der Kapitän (Eine ‘Kapitänin’ gibt es ja wohl nicht) und meine Schwester der erste nautische Offizier. Unter meiner kundigen Anleitung hatte sie gerade das dazu nötige O f f i z i e r s p a t e n t erworben und durfte bereits einmal die volle Verantwortung für das Schiff übernehmen, als ich auf die Toilette musste. Eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, denn das Krokodil wollte gerne die Matrosen fressen und in der Ferne zog ein Sturm auf. Dazu noch das beunruhigende Schiff mit roten Segeln und Totenkopf-Fahne, welches seit einer geraumen Weile achtern aufgetaucht war und immer näher kam.
Wir wollten gerade wild gegen die plötzliche, unberechtigte Störung unseres Spieles protestieren,
doch unsere aufgerissenen Münder blieben offen stehen, als der zweite, entscheidende Teil der Botschaft in unseren Ohren und Gehirnen ankam: ‘...WIR GEHEN JETZT DAS INDIANERZELT KAUFEN!”Konnte das denn wahr sein? Hatten wir denn nun endlich, am heutigen Tage das ganze Geld beisammen, das wir zum Kauf benötigten?
Hatten wir nicht.
Siebzig deutsche Mark waren da und meine Eltern hatten beschlossen den Rest selber drauf zu legen, koste es was es wolle, um nur den vermaledeiten Kinderwunsch los zu werden, dieses nagende Gefühl im Inneren und die Peinlichkeit nach außen, ihn nach über einem Jahr noch immer nicht erfüllt zu haben.
Wenn ich mir nämlich heute ausrechne, dass wir zusammen pro Woche eine Mark gespart haben, dann waren das siebzig Wochen, ergibt ein Jahr und viereinhalb Monate!
Ausnahmsweise ließen wir uns ohne Widerstand in unsere Jacken und Schuhe stopfen, und ab ging’s im Auto Richtung Kaufhaus, wo es das Indianerzelt geben sollte, welches wir dringend brauchten um ein so wunderschönes friedliches geborgenes Leben führen zu können, wie die Indianer von denen wir gelesen und geträumt hatten.
Nach langem Suchen hatte meine Mutter endlich eine Parklücke in der Nähe des Kaufhauses entdeckt. Wir Kinder durften aussteigen und während meine Schwester meiner Mutter half die Münzen in den Parkautomaten zu werfen, studierte ich die Auslagen der Schaufenster, in der Hoffnung hinter den glänzenden Scheiben bereits ein Indianerzelt zu entdecken. Dort war allerdings nur eine, lediglich mit einer winzigen, glitzernden Unterhose bekleidete, Dame zu sehen. Ich versuchte die Schrift über dem Laden zu lesen. Vielleicht war das ja eine Indianerin, lange dunkle Haare hatte sie ja und Indianer haben ja auch oft wenig an. “Mama, was heißt ‘ E r o t i k ’, ist das ein Indianerstamm?”
“Das erkläre ich Dir, wenn Du größer bist”, war die unbefriedigende Antwort, damit wurde ich am Arm gepackt und von der Schaufensterscheibe weg gezogen.
Im angrenzenden großen Kaufhaus durften wir viele Rolltreppen fahren, bis wir in der Zelt- und Camping-Abteilung ankamen.
Hier waren nun wirklich jede Menge aufgestellter Zelte zu sehen, die dekorativ in kleine künstlichen Landschaften und Gärten platziert waren. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre das eine herrliche Spielwiese gewesen. Doch jetzt mussten wir uns um Wichtigeres kümmern: Wo war UNSER Zelt?
Gemeinsam mit unseren Eltern inspizierten wir den ‘Zelt-Garten’. Doch bei jedem der aufgespannten Stofftempel schüttelte ich bei der Frage danach, ob dieser denn das Richtige sei, den Kopf, und meine Schwester verneinte ebenfalls. Unser Mut sank in dem gleichen Maße, wie der Unmut meines Vaters stieg. In der Not wurde ein Verkäufer zu Rate gezogen, der sich unseren Wunschtraum explizit beschreiben ließ: “Es ist groß, weiß, unten rund und oben spitz, man kann darin wohnen, eine ganze Familie, und auch ein Feuer darin machen!”
Der Verkäufer durchschaute sofort, dass es ein solches Zelt in seinem Kaufhaus nicht gab, verriet das aber nicht. Stattdessen versuchte er uns zu alternativen Lösungen zu überreden, wie einem Camping-Hauszelt, in dem man als Familie wohnen könne. Es war aber weder kegelförmig, noch konnte man ein Feuer darin machen. Außerdem war es grell-orange.
Schlussendlich führte uns der bereits leicht genervte Verkäufer zu einem ...Ding...und sagte zu meinem noch genervteren Vater: “Das ist ein Indianerzelt für Kinder, ein anderes haben wir nicht!”
Das DING war zwar nun kegelförmig, und anhand der kitschigen aufgemalten Indianerfiguren in knallbunten Farben sollte man erkennen, dass es sich um ein Indianerzelt handelte.
Doch es war winzig klein: Meine Schwester und ich hatten kaum darin Platz. Wie sollte eine ganze Familie darin leben? Die Zeltstangen waren aus Metall, anstatt aus Holz und - als würde das alles nicht reichen - hatte das Zelt an der Unterseite einen dicken, grauen, stinkenden PVC-Boden, der sich nicht heraus nehmen ließ. Wie sollte man in diesem Ding da die Erde spüren, Decken und Felle auslegen, ein Feuer an machen und ...
“Das oder Keines!”, entschied mein Vater, “allerletztes Wort!”
Erschrocken sahen wir uns an. Wir ahnten, dass unser erspartes Geld verfallen würde, und so stimmten wir in unserer Verzweiflung zu.
Was soll ich sagen - das Zelt war ein Desaster: Von uns zwei Kindern ließ es sich kaum alleine aufstellen mit den vielen schweren Stangen, es war eng, stickig und zu klein zum Spielen, zu künstlich um damit in der Natur zu wohnen. Nun wurden wir auch noch ausgeschimpft, weil wir mit dem ‘teuren’ Zelt nicht spielten.
Gelernt habe ich daraus vielleicht, dass man die Erfüllung seiner tiefsten Träume niemals aus seiner eigenen Hand geben darf. So habe ich ja auch mit Lesen und Schreiben nicht auf die Schule gewartet. Und sobald ich ein wenig älter war, habe ich mir von meinem selbst (nicht auf der Bank) gesparten Geld, ohne meine Eltern zu fragen im Blumenladen lange Bambusstangen gekauft. Zusammengenähte alte Laken und Vorhänge dienten als Zeltstoff, und fertig war die Laube.
Als ich dann selber eine Familie hatte, mietete ich mit Anderen zusammen einen alten Bauernhof, wo wir sechs ‘richtige’ Tipis aufstellten, einrichteten, im Sommer darin wohnten und Gäste beherbergten.
Es ist zum Glück nie zu spät die verpassten
Gelegenheiten seines Lebens nach zu holen und eine glückliche Kindheit zu erleben, und sei es in den Augen der eigenen Kinder.