In dieser Nacht schliefen die drei Storchenkinder sehr unruhig, nicht nur, weil ein Gewitter mit grellen Blitzen und lautem Donner, das sehr nah war, sie sehr erschreckte, sondern auch weil jedes von ihnen sich Gedanken darüber machte, wie es mit Stefan weitergehen sollte. Ab und zu zitterten die Storchenkinder. Sven und Silvia breiteten schützend ihre Flügel über die drei und sprachen beruhigend auf sie ein. Sie konnten ja nicht ahnen, was ihre Kinder wirklich bedrückte.
Schon früh am Morgen strahlte die Sonne heiß vom Himmel. „Sven“, murmelte Silvia schlaftrunken: „Wir müssen uns jetzt beide auf den Weg machen, um Futter zu suchen. Sieh dir mal die Sonne an, es wird heute sehr heiß werden. Da wird es schwer werden, für unsere Kinder genug Futter zu finden. Außerdem müssen wir ihnen bei dieser Hitze auch noch Wasser bringen, das weißt du.“ Sven stand langsam auf. Er war noch sehr müde, zog erst das eine, dann das andere Bein an, um es gleich danach weit von sich zu strecken, hob seinen Kopf weit nach oben, klapperte ein wenig, erhob sich dann vom Nest und flog mit starken Flügelschlägen hoch in die Luft. Ach, wenn ich doch auch einmal so fliegen könnte, dachte Stefan, der seinen Kopf tief ins Nest gedrückt hatte, aber aus den Augenwinkeln heraus seinen Vater beim Fliegen beobachten konnte. Wenn ich nur nicht solche Angst hätte. Bei dem Gedanken an seine Angst zitterte er ein wenig. Bevor sich Silvia auch vom Nest erhob, zupfte sie zärtlich an Stefans Gefieder und flüsterte: „Das Gewitter ist vorbei, du brauchst jetzt keine Angst mehr haben.“ Wenn die wüsste, dachten die drei Geschwister. Schnell flog Silvia hinter Sven hinterher, denn solange die Wiesen noch feucht waren, war die Wahrscheinlichkeit, Regenwürmer zu finden größer. Später, wenn es richtig heiß war, würden sich die meisten Tiere verkriechen. Dann müssten die Storcheneltern weiter fortfliegen, um Futter für ihre Kinder zu besorgen.
Kaum waren die Eltern weg, ging das Beratschlagen los. „Stefan, sieh mal“, flüsterte Stina: „So hoch ist das doch gar nicht.“ Dabei beugte sie sich über den Rand des Nestes hinaus. Stefan steckte schnell seinen Kopf unter einen Flügel. „Stina, nicht, “ klang es ängstlich: „Wenn du aus dem Nest fällst, dann….“
Stella machte erst einmal den Vorschlag, dass Stefan in der Mitte des Nestes seine Flügel ausprobieren könne, dann würde er merken, wie stark er war und vielleicht dadurch seine Angst verlieren. „Wir setzen uns auf deine Füße, so dass dir gar nichts passieren kann“, schlug sie vor und nickte ihrer Schwester ermutigend zu. Ganz sicher war Stefan sich nicht, aber er wollte seine Schwestern auch nicht enttäuschen, also stimmte er zu. Er spreizte seine Füße nach außen, so dass seine Schwestern sich darauf setzen konnten. Nun war es für ihn zwar nicht so leicht aufzustehen, aber ein wenig erheben konnte er sich schon. Je höher er kam, desto weiter konnte er sehen. Er sah aber nicht nur in die Weite, sondern auch, wie hoch das Nest war. Schnell sackte er wieder in sich zusammen. Zitternd raunte er: „Das ist soooo hoch, das schaff ich nie.“ „Du schaffst das, wir helfen dir, wir passen auf dich auf. Denk dran, wir sind deine Schwestern, wir lassen dich nicht allein. Wenn du gar nicht fliegen lernst, dann bleiben wir eben alle hier.“ Die Stimmen der Storchenschwestern klangen trotzig.
Keiner von den dreien hatte bemerkt, dass Sascha und Sebastian vom Nachbarnest sie interessiert beobachtet und belauscht hatten. Die Geschwister hatten gedacht, dass sie nur ganz leise gesprochen hatten, aber der Wind trug ihre Stimmen zu dem anderen Nest hinüber. Nun klapperten die anderen Jungen von gegenüber: „Seht euch mal den Angststorch an, hat Angst vor der Höhe, hat man so was schon mal gehört? Ich lach mich schlapp. Wenn das die anderen Störche erfahren! Wie peinlich.“ „Peinlich“, wetterte Stella: „Ihr seid peinlich. Seht euch doch mal an, wie ruppig ihr ausseht. Wenn ihr eure Federn nicht besser pflegt, werdet ihr gar nicht fliegen können. Außerdem hat Stefan gar keine Angst, er ist nur so klein. Aber er ist mein Bruder. Wehe euch, wenn ihr was erzählt, dann kriegt ihr es mit uns zu tun. Wartet nur, bis wir ein bisschen größer sind, dann könnt ihr was erleben, ihr…..“ Sie war so wütend, dass ihr kein geeignetes Wort für diese Bande einfiel.
Auch ihre Eltern mochten diese Storchenfamilie nicht sonderlich. Das Nest sah aus, als würde es jeden Moment zusammenbrechen, so schlecht war es gebaut. Die Storchenkinder sahen ruppig und ungepflegt aus. Manchmal blieben die Eltern dieser beiden jungen Störche sehr lange weg. Sven hatte erzählt, dass sie sich erst immer selbst dafür sorgten, dass sie satt waren, bevor sie sich um ihre Kinder kümmerten. Bei dieser Familie hatten ursprünglich vier Eier im Nest gelegen, aber ein Junges war in den ersten Tagen gestorben, ein weiteres ist wenig später aus dem Nest gefallen oder von den beiden Jungstörchen geschubst worden, meinten die Storcheneltern. Eine furchtbare Storchenfamilie: „Seht da lieber gar nicht hin“, hatte Silvia ihren Kindern geraten, die sind kein gutes Vorbild für euch, aber Nachbarn kann man sich leider nicht aussuchen.
Manchmal, wenn Stefan, Stella und Stina sich um die saftigsten Futterbrocken stritten, merkten sie, wie die Nachbarskinder sehnsüchtig zu ihnen hinübersahen. Dann taten sie ihnen direkt leid.
Jetzt aber war von Mitleid keine Spur. Es war schon schlimm genug, dass die drei Geschwister ihren Eltern gegenüber ein Geheimnis hatten, aber jetzt, da die Nachbarskinder davon wussten, war die ganze Sache noch viel schlimmer. Nun würden auch bald ihre Eltern davon erfahren. Wie sollte das bloß weitergehen.
„Setzt euch auf meine Füße“, meinte Stefan jetzt mutig: „Ich probier das noch einmal. Denen werde ich beweisen, dass ich das kann.“
Gerade als sie es noch einmal versuchen wollten, sahen sie ihre Eltern auf das Nest zufliegen und verschoben ihren Plan auf später.
Wichtig war doch nur, dass sie Geschwister waren, die fest zusammenhielten.