Die Bar an der Ecke entdeckte ich am ersten Tag meines Umzuges nach New York. Das ist jetzt ein Jahr her. Doch die Erinnerung an die Jahre davor, umgenau zu sein, vierzig Jahre meines bisherigen Lebens, sind gelöscht. Bis auf die Tatasache, dass ich einundvierzig Jahre alt bin und meinen Namen weiß kommt mir mein Gehirn wie das eines Neugeborenen vor. Gehirnmasse, die erst darauf wartet mit Eindrücken gefüllt zu werden. Das ist unheimlich aber in gewisser Weise wieder nicht. Ich lebe sorglos in den Tag hinein, denn ich habe einen Koffer voller Geld bei mir, mit dem ich vorerst über die Runden komme. Später? Seltsamerweise lässt mein unberührter Verstand Grübeleien über die Zukunft nicht zu.
Tags über laufe ich viel herum, gehe in Museen und wenn abends die Schatten über die Häuserfluchten fallen wird jene Bar zu meinem Unterschlupf. Sie ist nur ein kleines Lokal, das von einer riesigen Fensterscheibe von der Außenwelt abgeschnitten ist. Dort sitze ich bei Tony dem Barkeeper und beobachte die vorbeiziehenden Menschen. Menschen mit einem geordneten Leben und Erinnerungen, die draußen vor der Scheibe sind, ich bin hinter der Scheibe, eingeschlossen und eingelullt durch leise Musik und Unterhaltungen.
Meistens treffe ich ich paar Bekannte, aber nie ist die Bar so voll, dass ich es als störend empfinde. Wenn ich Dienstags einkehre weiß ich mit Sicherheit, dass ich Molly treffe. Ihr gehört der Waschsalon zwei Häuserblocks weiter und eine große Dogge. die sie immer begleitet. Pünktlich jeden Abend zehn Uhr betritt Ryan Doryl die Bühne, trinkt drei Gläser Scotch und erzählt mir von seiner Familie. Manchmal höre ich zu oder seine Stimme verschmilzt mit dem Gemurmel der anderen Besucher. Am Wochenende treffe ich mich mit Cedric Lee, der aus Kanada stammt. Ich liebe es, wenn er mir von den Wäldern erzählt und den harten Wintern. Oft gesellt sich auch Molly dazu und nicht nur einmal sind wir erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gewankt.
An so einem Sonnabend schießt mir plötzlich ein absurder Gedanke durch den Kopf. Cedric Lee und Molly lachen über eine Anekdote als mich dieser Gedanke ereilt und seitdem nicht mehr los lässt. Sie sollten nicht so lustig sein, dass kann etwas Böses anziehen. Etwas, das hinter der Scheibe lauert. Die Fensterscheibe ist viel zu groß. Wenn das Licht an ist, kann uns jeder von draußen deutlich sehen.
Ich schaue verstohlen aus dem Fenster. Ein paar lachende Teenager laufen vorbei und zwei grell geschminkte Frauen, die trotz ihrer Kleider eher wie Männer aussehen und es wohl auch sind.
"Alles in Ordnung mit dir, Eddi?" fragt mich Cedric Lee.
"Ich war nur in Gedanken", antworte ich ihm. Doch ich könnte schwören, dass ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Schatten wahrgenommen habe. Die riesige Scheibe. Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller.
Seit dem Abend fühle ich mich nicht mehr wohl in der Bar, gehe aber trotzdem hin.Die Macht der Gewohnheit und außerdem will ich meine Freunde treffen. Wenn sie sich nur um ein paar Minuten verspäten bin ich so besorgt wie eine Mutter, deren Tochter dass erste Mal ausgegangen ist und weit nach Mitternacht immer noch nicht zu Hause ist. Ich habe keine vernünftige Erklärung für mein Verhalten. Die Unruhe überfällt mich bei den harmlosesten Unterhaltungen. "Wie teuer ist denn die Hüftoperation, die deinem Hund bevorsteht?" frage ich Molly und im gleichen Atemzug denke ich: Dann kann er Molly nicht beschützen, wenn sie abends nach Hause geht. Hinter der großen Scheibe kann sie von jedem beobachtet werden.
Nach weiteren drei Wochen beginne ich an meinem Verstand zu zweifeln. Gegenüber der Bar steht ein unbewohntes Haus. Die Rollos der toten Fenster waren stets herunter gelassen, seit ich ich täglich hier vorbei komme. Als ich heute nach oben blicke, ist eines der Fenster nicht verhangen und ich sehe ein weißes Gesicht mit leeren Augen. Erschrocken weicht es zurück, als es meinen Blick bemerkt. Mein Herz klopft dumpf gegen die Brust und ich atme tief ein, damit es seinen normalen Rhythmus wieder findet. Am liebsten würde ich umkehren aber Molly hat mich entdeckt und winkt mir von drinnen aufgeregt zu. Wenigstens sitzt sie so, dass ich das Fenster im Auge behalten kann und ich ihm nicht den Rücken zukehren muss.
"Ryan Doryl ist gestern überfallen worden!" ruft sie mir zu, noch bevor ich mich setzen kann.
"Er ist wie immer gegen elf Uhr von hier nach Hause gegangen und heute morgen fand man ihn nicht weit von seinem Haus entfernt in den Büschen. Er soll entsetzlich ausgesehen haben." Molly zieht die Schultern nach oben, als ob sie fröstelt.
"Auch unser ruhiges Viertel bleibt nicht von Verbrechen verschont", sagt Tony, als er mir mein bringt.
"Weiß die Polizei schon, wer es war?" frage ich.
"Nein. Ich werde wohl am Wochenende zu Hause bleiben. Es ist so nah an meiner Haustür geschehn."
Ich biete Molly an, sie nach Hause zu begleiten, aber sie lacht mich aus.
"Es ist noch nicht einmal zwanzig Uhr und die Straße voller Leute. Schau."
Das war das letzte, was ich von ihr höre. Molly ist seitdem verschwunden. Nachbarn haben die Polizei gerufen, weil ihr Hund jämmerlich in der Wohnung jaulte. Er hat sie nicht begleiten können, weil er sich noch von seiner Operation erholte. Niemals würde Molly ihre Dogge allein lassen. Jemand hat sie an dem Abend durch die Scheibe gesehen.
In den folgenden Tagen geht es mir nicht gut. Ich habe rasende Kopfschmerzen und meine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Watte, wenn ich mittags im Park spazieren gehe. Mein Gesicht ist fast so blass wie jenes, dass ich an dem Abend in dem leeren Haus gesehen habe, als Molly verschwunden ist. Ich kann überhaupt nicht mehr essen und beschließe, zum Arzt zu gehen. Ich habe zwar keine Erinnerung aber eine Sozialversicherungsnummer. Der Arzt untersucht mich und schickt mein Blut ins Labor. Nach drei Tagen gehe ich wieder hin, um zu erfahren, was mir fehlt. Mir ist noch schwindliger als in den Tagen zuvor und als mich die Schwester ins Behandlungszimmer ruft, kann ich gerade noch einen Sturz verhindern, indem ich mich am Türrahmen festhalte.
"Sie leiden unter Anämie. Ihre Hämoglobinkonzentration ist stark herab gesetzt. Hämoglobin befindet sich in den roten Blutkörpern und transportiert Sauerstoff", fügt Doktor Brown hinzu, weil ich ihn ansehe, als ob ich ihn nicht verstehe. Doch seltsamerweise verstehe ich sofort und ich weiß, dass ich mich auf keine Behandlung einlassen darf, wenn ich überleben will. Ich stehe auf und gehe zur Tür, ohne auf seine eindringlichen Worte zu hören. Schwankend wie ein Betrunkener laufe ich nach Hause, ziehe die Vorhänge zu und lege mich schlafen bis es dunkel wird. Als ich erwache kehrt ein winziger Teil meiner Erinnerung zurück und ich überlege, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, durch die Behandlung zu sterben. Diese Erinnerung ist so grässlich, dass mir der Tod in dem Moment als Erlösung erscheint. Ein Jahr lang bin ich ahnungslos durch die Gegend gelaufen, habe sogar Freunde gefunden.
Ich meide die Bar bis zum Wochenende, doch dann zieht es mich unweigerlich dort hin. Bald stehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Bar und das Gesicht im Fenster des leeren Hauses schaut auf mich herab, als hätte es auf mich gewartet. Diesmal sind die Augen nicht leer, sondern blau wie meine. Ein dunkler Schatten umgibt die Lider und der Blick hat etwas hungriges an sich. Der volle sinnliche Mund lächelt mich an und ich lächel zurück. Ich begrüße mein verlorenes Ich. In dem Moment schiebt sich der Vollmond hinter einer Wolke hervor und ich gehe über die Straße. Das Gesicht spiegelt sich in der großen Scheibe der Bar. Drinnen sitzt Cedric Lee und schaut zu mir heraus. Ich gebe ihm ein Zeichen, dass er zu mir kommen soll. Er blickt etwas skeptisch, doch dann lehnt er sich zu Tony hinüber und bezahlt. Sein halb volles Bierglas leert er mit großen Schlucken. Schaum tropft ihm dabei von den Lippen und er wischt ihn mit dem Handrücken ab. Jetzt steht er auf, sagt noch etwas zu Tony, sie lachen. Ich sehe alles durch die riesige Glasscheibe, nichts entgeht mir. Komm schon! Was macht er denn? Die Tür neben der Theke führt zu den Toiletten und Tony öffnet sie, blickt noch einmal zu mir heraus und verschwinde dahinter. Als er nach einer Weile wieder auftaucht, atme ich erleichtert auf. Cedric Lee kommt endgültig zum Ausgang. Stimmengewirr aus der Bar folgt ihm in die Nacht, dann ist alles wieder still.
Cedric Lee spricht mit mir, doch die Laute erreichen mich nicht. Unbändiger Hunger hält meine Sinne gefangen. Sein Blut schmeckt besser als das von Molly und Ryan Doryl. Es schmeckt wie die unberührte Erde der Wälder von Kanada, von denen er mir so oft erzählt hat. Jetzt sind seine Geschichten auch meine. Sie gehören mir wie sein Blut. Die leere Hülle lege ich hinter einer Mauer ab und gehe hinüber zu dem Haus. Die Tür ist unverschlossen und langsam setze ich den linken Fuß auf die erste Stufe. Die Treppe knarrt, als ich den anderen Fuß nachziehe und vorsichtig steige ich in den ersten Stock hinauf. Auf einem Tisch liegt ein Buch. Staub schimmert in der Aura des Mondes und ich halte den Atem an. Dort drin steht die Wahrheit über meine Vergangenheit. Ich muss nur aufpassen, dass mein Ebenbild, das einen Stockwerk über mir lauert, nicht herunter kommt. Wegen ihm wird meine Vergangenheit in bestimmten Abständen immer wieder lebendig. Sie schlummert in mir wie ein Virus. Die Inkubationsteit verbringe ich wie ein normaler Mensch, doch wenn der Virus ausbricht, bringe ich allen meinen Freunden den Tod. Ich muss solange töten, bis niemand mehr lebt, mit dem ich irgendwann ein Wort gewechselt habe. Danach setzt der Gedächtnisschwund ein und ich komme irgendwo wieder zu mir, ohne zu wissen, was ich getan habe. Für kurze Zeit bin ich dann wieder ein ganz normaler Mensch. So will ich nicht mehr leben! Mit zitternden Händen schlage ich die Seiten um, die leise rascheln. Da steht mein Name auf einer Seite. Durch Lilith, der Frau ohne Bauchnabel, wurde ich einst gerettet. Sie hatte die Freiheit aus der Dunkelheit errungen und mir das Blut aus den Augen fort geküsst. Doch ihre Rettung brachte mir nicht die Freiheit, sondern teilte mich. Nur für eine gewisse Zeit war ich frei, dannverschlang mich wieder die Dunkelheit. Dieses dunkle Selbst muss ich besiegen, hier und jetzt. Plötzlich schiebt sich eine Wolke vor den Mond und taucht die Buchstaben in Finsternis. Leise Schritte lassen mich herum fahren. Das blasse Gesicht ist bereits im Zimmer. Eine kalte Hand packt mich im Genick und zieht mich fort, hinein in einen Sternenregen, der die Eisekälte absorbiert und ich falle in ein Nichts. Ich schwimme in einem Strom aus Blut und ich fühle mich leicht und beschwingt. Das Rauschen des Blutes ist wie das Brodeln der Stadt. Einer Stadt, die nie schläft, genauso wenig wie ich. Die Stadt der Nachtschwärmer. Cedric Lee ist nur noch eine leere Hülle, aber ich bin immer noch hungrig. Ich gehe zurück zur Bar. Hunger, ich habe unersättlichen Hunger. Der Mond lächelt mir zu und ich sehe durch die riesige Glasscheibe.