So verging der erste Tag im jungen Leben der Storchenkinder. Sie kuschelten sich eng aneinander unter Vater oder Mutter, je nach dem, wer gerade auf dem Nest saß und schliefen selig ein, wie nur Kinder schlafen können.
Am nächsten Morgen schickte die Sonne schon früh ihre warmen Strahlen auf die Erde. Verschlafen blinzelten die kleinen Störche unter dem Gefieder ihrer Mutter hervor. Sven hatte sich schon längst auf den Weg gemacht, um Futter für seine Kinder zu suchen. Auf der Wiese traf er auch noch andere Störche. Sie unterhielten sich angeregt über ihren Nachwuchs. „Drei sind es“, sagte Sven voller Stolz und alle kerngesund. Das werden einmal wunderschöne kräftige Störche.“ „Wir haben sogar vier“, erzählte der Storch neben ihm. „Ach“, meinte Sven. „Drei sind völlig in Ordnung. Die sollen wir ja auch alle satt bekommen, das wird noch ein hartes Stück Arbeit. Aber was tut man nicht alles für seine Kinder.“ Gerade hatte er eine Maus entdeckt, die sich unvorsichtig zu weit hervorgetraut hatte. Bevor einer der anderen Störche es bemerkte, hatte er sie schon gefangen und noch ehe ihm jemand seinen Fang streitig machen konnte, erhob er sich und flog schnell zum Nest. Seine Familie würde schon hungrig sein und sehnsüchtig auf ihn warten.
Als Silvia ihn kommen sah, klapperte sie laut zur Begrüßung und stand auf. Das war für die Storchenkinder die Gelegenheit, zaghaft einen ersten Blick auf die große Welt um sie herum zu werfen. Stella war die vorwitzigste von den dreien. Unbeholfen watschelte sie an den Rand des Nestes, um sich umzusehen. „Stina“, sagte sie: „Sieh dir bloß mal an, wie groß die Welt ist. Toll, wie weit man von hier aus gucken kann. Siehst du da drüben den Kirchturm? Der ist noch viel höher als unser Nest.“ Stella war ganz aufgeregt, aber auch hungrig. Jetzt waren die jungen Störche neugierig, was ihr Vater ihnen schönes zum Fressen besorgt hatte. Sie reckten die Hälse und öffneten ihre Schnäbel, damit Sven merkte, wie hungrig sie waren. Gerecht verteilte er das Futter auf alle drei. Silvia hatte sich derweil schon vom Nest erhoben, um sich nun auch auf Futtersuche zu machen.
In den ersten Lebenstagen der Jungstörche lassen die Eltern ihre Kinder nie allein. Entweder Sven oder Silvia blieben beim Nest, um auf ihre Kinder aufzupassen. Damit ihnen nicht langweilig wurde, erzählten sie schon von der langen Reise, die sie in wenigen Wochen vor sich hatten. Sie erzählten, dass sich dann sehr viele Störche treffen würden, um den langen Flug nach Afrika anzutreten. „Ihr müsst kräftig fressen und aufpassen, dass ihr eure Muskeln trainiert. Schon bald werden eure Flügel kräftig genug sein, so dass ihr die ersten Flugversuche starten könnt. Wir helfen euch dabei und werden euch zeigen wie es geht.“
Stella und Stina blickten aufgeregt zu ihren Eltern hoch. Ach, wenn es doch endlich soweit wäre, dass sie auch fliegen könnten. Stefan aber fühlte sich bei dem Gedanken an das Fliegen gar nicht wohl. Wenn Stella ihm erzählte, wie hoch das Nest war, vergrub er sich nur noch tiefer in die Nistkuhle und tat so, als wäre er müde und wolle schlafen. Das war es aber nicht. Er hatte ehrlich gesagt Angst. Er traute sich auch nicht, über den Rand des Nestes hinauszusehen. Einmal hatte er es versucht. Aber plötzlich drehte sich alles um ihn. Der Hof verschwamm vor seinen Augen und ihm wurde schwindelig. Er traute sich aber auch nicht, seinen Eltern oder seinen Geschwistern davon zu erzählen. Er hatte Angst, sie würden ihn auslachen und sagen: „Ach Stefan, du spinnst, ein Storch, dem schwindelig wird, wenn er aus dem Nest auf die Erde sieht, das gibt es gar nicht.“ Gab es aber doch, nämlich ihn. Was sollte er bloß machen? Im Moment konnte er sie noch täuschen. Im Moment konnte er sich in die Mitte des Nestes zurückziehen, wo er sich am sichersten fühlte, aber schon bald würde der Platz für ihn zu klein werden. Und dann die Reise nach Afrika. Stella und Stina unterhielten sich aufgeregt darüber. Stina meinte dann: „Ich werde viel höher fliegen als du, Stella, du wirst sehen. Und viel schneller fliegen werde ich auch. Ich werde bestimmt auch viel früher fliegen lernen als du. Guck doch mal, wie gut ich jetzt schon mit meinen Flügeln schlagen kann.“ Stella lachte sie aus: „Das werde wir ja sehen. Ich bin größer und besser als du. Ich bin die Beste überhaupt.“ Die beiden Storchenmädchen schlugen aufgeregt mit ihren Flügeln. Dadurch brachten sie Stefan ins Trudeln, so dass er an den Rand des Nestes rollte. „Ohhhh“, stöhnte er: „Gleich fall ich raus. Ich hab so Angst.“ Jetzt war es raus. „Du hast Angst?“ fragten seine Schwestern ungläubig. „Ja“, sagte er trotzig mit tränenerstickter Stimme: „Ich habe Angst – und – lacht ihr mich jetzt aus?“ „Aber Stefan, du bist doch unser Bruder, wir lachen dich nicht aus. Wir haben dich doch lieb. Wir müssen uns jetzt überlegen, wie wir dir helfen können. Du musst doch bald mit nach Afrika.“ „Nein“, weinte Stefan: „Ich komme nie mit euch nach Afrika. Ich habe viel zu große Angst. Ich schaffe das nie.“
Es war das erste Mal, dass Sven und Silvia ihre Kinder für einen Moment allein gelassen hatten. So bekamen sie von diesem Gespräch auch nichts mit. Stefan bat seine Schwestern, ihren Eltern nichts zu sagen: „Noch nicht, bitte, ich werde mir überlegen, wie es weitergeht. Im Moment weiß ich das aber selber noch nicht. Bitte, nichts sagen.“ Stella und Stina versprachen ihrem Bruder, seine Angst erst einmal für sich zu behalten. Beruhigt schlief Stefan ein. Stella flüsterte Stina zu: „Wir müssen uns unbedingt etwas einfallen lassen. Ein Storch, der Angst vor der Höhe hat, das geht doch gar nicht. Was machen wir jetzt nur?“ „Erst einmal schlafen“, schlug Stina vor, denn es war schon spät geworden und sie sahen, wie ihre Eltern zum Nest zurückkamen. Sicherlich hatten sie leckeres Futter für ihre drei Kinder mitgebracht. Nach dem Fressen würden sie erst einmal schlafen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.