Schmerz
Trübes Mondlicht dringt durch einen Schlitz im Vorhang in ein Zimmer ein und zeichnet einen silbrigen Streifen auf das Gesicht eines jungen Mannes, der mit tränenverschleiertem Blick auf einem Sessel hockt und sich nicht rührt. Das Ticken einer Uhr ist das einzige, das der Stille Klang verleiht. Er macht sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Das ist auch nicht notwendig. Denn obwohl seine Augen auf ein altes Foto gerichtet sind, ist sein Blick nach innen gewandt. Die Spuren von vertrockneten Tränen sind an seinen Wimpern und Wangen zu erkennen und sie werden getränkt von
weiteren salzigen Rinnsalen, die unaufhörlich seine Augenwinkel verlassen.
Fast unmerklich zittert sein Körper, jedoch nicht aufgrund der Kühle, die den Raum gefangen hält. Der Leib des jungen Mannes wird geschüttelt ob der Gefühle, die in ihm toben wie ein frisch erwachter Sturm. Der Schmerz schnürt ihm die Kehle zu, Verzweiflung erstickt ihn, Trauer stiehlt ihm den Atem… und den Willen zu leben. Er weiß nicht wohin, warum, wie lange? Alles ist bedeutungslos, wird es doch im Nichts enden, wie er weiß. Kein einziger Gedanke, niemandes Wort, keine Tat wird Bestand haben.
Sein Blick richtet sich auf das Bild einer Frau, die viel zu früh gegangen ist. So lange ist es her und doch ist der Schmerz frisch, wie am ersten Tag. Eine Pein so tief in ihm verwurzelt, dass selbst die glücklichsten Stunden sie nicht gänzlich vertreiben können.
Sein Schluchzen zerschneidet scharf die Stille.
Von Sekunde zu Sekunde scheint die Welt ein dunklerer Ort zu werden, ein kalter Ort, an dem glücklich zu sein nicht möglich ist. Denn jenes, was einem Kraft geben, was einen schützen und träumen lassen sollte, verletzt einen doch stets nur tiefer, als man es verdient hat. Sobald man sein Herz an jemanden
bindet, liefert man dem Leben gleichzeitig ein Messer mit, das einem irgendwann ins Fleisch gestoßen wird. Nicht klar wann, nicht klar, wie,…aber irgendwann bestimmt und nichts kann mehr schmerzen.
Durch leichten Wind bewegt, verschiebt sich der Vorhang und das Mondlicht wandert vom Gesicht des Mannes weiter und legt sich auf kalten Stahl. Der Lufthauch kühlt die Tränen, doch das Feuer, das in ihm tobt, kann er nicht besänftigen.
Sein Blick wandert weiter, genau wie seine Gedanken.
Er hätte es verhindern können, hätte er es nur wahrhaben wollen. Jener könnte
noch am Leben sein, wenn er nicht so ignorant gewesen wäre. Es war seine Schuld…seine Schuld allein.
Wiederum schluchzt er auf.
Es war so sinnlos…egal was er tat, er machte es falsch. Selbst wenn er nichts tat, war das nicht richtig. Er war sinnlos.
Bedächtig fahren seine Finger über die Waffe, die vom Mond in fast gespenstisches Licht getaucht wird. Es wäre so einfach…niemand würde ihn vermissen…niemand würde sich darum scheren….die Welt hätte nur eine unnütze Seele weniger. Wen kümmerte das schon?
Sein Blick fällt auf das Mobiltelefon, das
nur wenige Zentimeter von seinen Fingern entfernt liegt. Er wagt es fast nicht, die Hand danach auszustrecken und doch zwingt ihn etwas dazu. Er kann nicht einfach so gehen. Nicht ohne noch einmal mit ihr gesprochen zu haben.
Ob seiner tränennassen Finger muss er mehrmals tippen, um die Nummer zu finden. Der Verbindungston klingt unnatürlich laut in der ihn umgebenden Stille.
Sein ohnehin schon gebeutelter Körper spannt sich an, als er die Stimme auf der anderen Seite der Leitung hört.
„Hallo. Wie geht es dir?“, fragt er leise und bemüht sich so natürlich wie möglich zu klingen, was nicht einfach
ist, in Anbetracht der Tatsache, dass ihm immer noch Tränen über die Wangen laufen.
„Auch gut“, spricht er weiter. „Ich wollte nur deine Stimme hören.“ Er muss ein Schluchzen unterdrücken, bevor er sagt: „Ich vermisse dich.“
Seine Tränen scheinen noch schneller zu fließen, als er dieselben Worte zu hören bekommt. Schwerlich gelingt es ihm weiterzusprechen. „Ich…erinnerst du dich an das Lied, das ich dir gezeigt habe? In dem es heißt, „Engel fliegen einsam“…?“ Er wartet keine Antwort ab, bevor er sagt: „Flieg einsam, Engel. Und vergiss mich nicht.“
Damit legt er auf.
*
Hunderte Kilometer entfernt hört eine junge Frau nur noch ein Tuten. Ihre Stirn ist gerunzelt…ihre Augen feucht ob der dunklen Gedanken, die diese letzten Worte in ihr wachsen haben lassen. Unverzüglich drückt sie auf die Rückruftaste und wartet voller Anspannung. Je länger sie wartet, desto nervöser wird sie, desto mehr schmerzen die Ahnungen, desto mehr Tränen verlassen ihre Augenwinkel. Und es dauert lange,…viel zu lange…
*
Zurück in der Dunkelheit des kleinen Zimmers läutet ein Mobiltelephon. Es läutet,…läutet,…läutet, während das Mondlicht verblasst; durchbricht die bleierne Stille. Es läutet, läutet….
*
Am nächsten Morgen geht die Sonne auf. Die Vögel singen ihre schönsten Lieder. Keine Wolke trübt die Sicht. Die Kirschbäume stehen in voller Blüte. Die Welt erwacht durch sanften Windhauch und das Rauschen klarer Bäche.
Die Zeit hat nicht angehalten…wird sie auch nicht. Unaufhaltsam, unbarmherzig läuft sie weiter, kennt weder Schmerz
noch Freude.
Ganz anders als der Mensch.
© Fianna 13/03/2013