Es verging die Zeit, die Erde drehte sich unverhohlen weiter. Was sollte sie denn sonst tun? Und so bewegten sich auch die Menschen auf ihr, in ihrem System, aus dem sie nicht ausbrachen, denn gemütlich auf den Bahnen zu sein, in denen man sich bewegt ist das menschliche Trägheitsgesetz. Dank dieses Prinzips hielten sich selbst Systeme, die man besser keine 5 Minuten auf diesem Planeten hätte dulden wollen.
Und so saß Frederik Delon immer noch in seiner kleinen Zelle, jedoch löschte man immer pünktlich das Licht und er schlief auf der harten Matte ein, die er nicht mehr als hart empfand. Sein Körper hatte sich erholt, der Geist war weich geworden. Der Schulmeister war wohlwollend ihm gegenüber geworden, denn Frederik war es, der jetzt allein die Grundsätze des fortschrittlichen Utilitarismus aufsagen konnte. Er war ein Musterknabe geworden in all den Jahren. Die Rationen für ihn waren reichhaltig und abwechslungsreich. Und er betrieb jetzt auch wieder im hauseigenen Fitnessraum jeden Tag intensiv Sport. Man erlaubte ihm sogar frei heraus zu gehen und von den zugewiesenen Wertmarken kleine Dinge zu kaufen. Nach jahrelangem Verschluss vor der Außenwelt erkannte ihn natürlich niemand mehr. Er war alt geworden, aber immer noch erstaunlich fit. Zudem war sein Gesicht verändert dank der Nasenoperation, von der alle Narben schon längst verheilt waren. Sunny, seine ständige Begleitung nabelte sich auch immer mehr von ihm ab, denn er bedurfte ihrer Dienste weniger, er war ja jetzt selbst ideologisch zu einer männlichen Ausgabe von ihr geworden. Sie verlebten nur noch angenehme Stunden zu zwein, wenn es sein musste. Doch hatte er sich schon mit dem Gedanken angefreundet, sollte er entlassen werden, auch ohne sie leben zu können.
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Schließlich war es soweit. Frederik Delon wurde nach exakt 25 Jahren aus der Besserungsanstalt entlassen. Allerdings nicht einfach so, sondern bestens ausgestattet. Das bedeutet, dass man ihm bereits eine Wohnung gestellt hatte, deren Adresse und Schlüssel er bei der Entlassung erhielt ebenso wie einen zugewiesenen Arbeitsplatz. Und das in dem Beruf, in dem man ihn während der Behandlung eingelernt hatte. Es war die Tätigkeit wie zuvor, doch in den Jahren hatten sich gewisse Abläufe geändert, die nun aber auch von ihm beherrscht wurden.
Und so begab er sich in seine neue Wohnung, welche bereits vollkommen eingerichtet war, anders aussah als seine Alte. Nichts sollte ihn mehr an früher erinnern, weshalb sich diese auch, genauso wie sein Arbeitsplatz irgendwo anders in Süßberlin befanden.
Und obwohl er damit glücklich leben konnte, ohne Berührung zur Vergangenheit holte diese ihn eines Tages doch noch einmal ein.
Es klingelte an einem Sonntag an seiner Tür, er öffnete und blickte in das Gesicht von Svetlana Bor. Er erkannte, dass dies eine Person war, die er früher einst kannte.
„Ich glaube Sie zu kennen“, sagte er frei heraus und sie begann zu weinen. Er hab sie hinein und sie setzte sich an den Küchentisch, doch beruhigen konnte sie sich nicht recht.
„Erkennst du mich nicht?“, schluchzte sie.
„Ich glaube, aber so recht weiß ich nicht.“
„Svetlana Bor, der Name sagt dir doch noch etwas, oder?“
„Es ist eine ferne Information, aber der Name an sich kommt mir vertraut vor. Ich kann ihn nur nicht zuordnen.
„Das bin ich!“, schrie sie ihn an und zeigte ein Bild aus der Zeit, in der sie zusammen waren.
„Das bin ich und das bist du, wir waren ein Paar, erinnerst du dich?“
Frederik erinnerte sich trübe, denn solche Informationen hatte man so gut wie möglich zu verdrängen versucht, doch es gelang nicht perfekt. Trotzdem sorgten diese nicht für eine Kettenreaktion, dass alles Erschaffene plötzlich wegbrach, das zeigte die Erfahrung.              Â
„Ja, wie schön dich wieder zu sehen, du siehst gut aus“, meinte er ehrlich, denn wirklich, Svetlana hatte sich sehr gut gehalten in all den Jahren. Nur ein paar Fältchen verrieten, dass sie nicht mehr Anfang 20 war.
„Aber dich erkenne ich nicht mehr recht. Du bist ein alter Mann, Frederik“, resümierte sie schonungslos und fuhr durch seine grauen Haare. „Was hat man dir für schreckliche Dinge angetan?“, fragte sie traurig und er wich zurück.
„Man hat mich kuriert von den falschen Ansichten, von den falschen Ideen, die in meinem Kopf waren. Ich bin jetzt ein richtiger Mensch. Das solltest du nicht bedauern, sondern darüber solltest du dich freuen, denn jetzt bin ich das, was so viele schon von Geburt an sich und nie verlernen zu sein.“
Svetlanas Hand griff nach seiner.
„Nein! Nein! Das ist eine Lüge! Das bist doch nicht du!“, rief sie entsetzt.
„Was meinst du denn?“
„Na, solche Sachen hast du früher nie geträumt, nicht mal in deinen Albträumen kamen solche Dinge von deinen Lippen. Hier, ich hab dir ein Buch mitgebracht in das du Gedichte von dir reingeschrieben hast, ich dachte es würde dir gefallen.“
Sie schob es über den Tisch und Frederik Delon blickte hinein. Er blätterte, er las und doch schien es, als würde er Schriften eines fremden Autoren lesen. Zudem gefiel ihm der Inhalt ganz und gar nicht.
„Nimm es bitte wieder mit. Das gefällt mir nicht“, äußerte er sein Unbehagen.
Svetlana blickte ihn erschrocken an.
„Das hast du nicht gerade ernst gemeint? Ich meine, das hast du selbst verfasst!“, rief sie vollkommen verzweifelt aus.
„Mag sein, aber das war ein anderer Frederik Delon, der unreife Frederik Delon. Heute geht es mir besser und ich muss sowas nicht wieder schreiben. Ich fühle mich auch nicht berufen dazu irgendetwas zu dichten, oder sonstige Zeitverschwendung zu bertreiben“, äußerte, was Svetlana die Tränen in die Augen trieb.
„Diese wunderschönen Dinge nennst du Zeitverschwendung!“, rief sie, als wäre es der Hilferuf des Ertrinkenden. So sah sie nur noch ein Mittel. Sie umschlang ihn so schnell, dass er nicht reagieren konnte und küsste ihn lang. Doch dem Kuss fehlte jede Magie, es war die Erwiderung von kalten Lippen, die nur küssten, weil sie mussten. Und da wusste sie es endgültig; sie hatte ihn verloren, er war ein anderer Mensch geworden. Der von ihr geliebte Frederik Delon war tot.
„Was sollte das?“, fragte er verwundert.
„Nichts, es war nur der alten Zeiten willen“, meinte sie kühl, nahm das Buch und verließ die Wohnung. Zwar versprach sie nochmals wieder zu kommen, doch wussten beide insgeheim, dass dem nicht mehr so würde sein. Und so lebten sie ihre eigenen Leben. Svetlana hatte natürlich einen Freund, einen Mann gehabt, doch war sie bereit gewesen diesen zu verlassen, wenn Frederik der Alte wäre geblieben. Doch da dem nicht so war schloss sie mit dem Kapitel ab und wurde eine glückliche Ehefrau.
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Johanna Niedermeyer und Fjodor Mandzukicz heirateten schließlich. Es war gut so, dass sie ihre Leidenschaft begraben hatten. Johanna versuchte danach weiterhin zu den Historikern wechseln zu dürfen und sie erreichte es dank der Aufzeichnungen, die sie weiterhin betrieben hatte schließlich doch. Und so fand sie eine berufliche Passion zusätzlich zur privaten. Fjodor war nun so zufrieden, dass er auf seinem Sitz immer ruhiger und besser wurde. So stieg er schließlich immer weiter auf und trug dann schließlich zwei Orden als Oberabschnittsbevollmächtigter von Nordberlin. Man gründete eine Familie, Johannas Schriften verschwanden in den Archiven der Historiker und bis heute wurden die Erkenntnisse nicht verwertet, weil sie zu brisant sind. Doch sie regte sich darüber nicht auf, denn lieber arbeitete sie große Erkenntnisse heraus, die nie entdeckt wurden, als dass sie weiterhin etwas tat, was ihr keine Freude machte.
Was man nun daran sehen kann ist, dass, obwohl, wir zu Beginn 3 dem System kritische Charaktere beschrieben wurden sie am Ende doch zu tauglichen Bürgern der Weltgesellschaft. Zu welchem Ergebnis führt uns das, geneigter Leser? Doch wohl zu keinem anderen als dem, dass das System immer über das Individuum siegt. Dass der allgemeine Wille der Gemeinschaft niemals durch kleine Nadelstiche gebrochen werden kann, wenn er selbst verfestigt ist. Und solche Proben machen ihn nur stärker und veredeln ihn ins Unermessliche. So werden vielleicht die Leser nicht mehr erleben dürfen, wie diese Welt aussieht, aber vielleicht ihre Enkel und sie werden in einer guten Welt leben, in der doch alle zufrieden sind und alles besser ist als in den ihm bekannten chaotischen Zeiten. Oder kommen Sie zu einem anderen Schluss geneigter Leser?
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ENDE