Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben und die Dunkelheit schien durch die Ritzen des alten Holzhauses ins Innere zu sickern. Die blasse Mondsichel schimmerte durch die Bäume und malte bizarre Muster auf den Boden. Meggie konnte nicht schlafen. In eine dicke Decke gewickelt saß sie auf dem Fensterbrett und wartete auf den Morgen. Wie in Trance hing ihren Gedanken nach. Seit ihr Vater einige Tage zuvor so eilig aufgebrochen war, hatte sie mit niemandem mehr gesprochen. Sie hielt das immer so. Schon seit sie denken konnte, verschwand ihr Vater immer wieder für einige Tage. Früher war sie dann aufs Sofa geklettert und hatte sich solange Bücher angeschaut, bis er wieder gekommen war. Wenn er länger als einen Tag verschwunden blieb, war sie immer zum Supermarkt gelaufen und hatte sich soviele Chips und Süßigkeiten gekauft, wie sie nur tragen konnte. Und immer immer war er wieder gekommen, ein Buch, eine CD oder eine kleine Kuriosität für sie in der Tasche, hatte sie in den Arm genommen und gemurmelt: "Meine arme Meggie. Meine arme, arme Meggie." Diese einsamen Stunden waren schon immer etwas ganz besonderes gewesen. Schaurig zwar, aber doch voller Magie. Sie konnte tun und lassen, was immer sie wollte. Stundenlang durch den Wald und über die Wiesen laufen, Tiere beobachten oder im Bach spielen- niemand hinderte sie daran. Irgendwann begann sie, diese Stunden schätzen zu lernen. Sie schwänzte die Schule, wenn David mal wieder verschwand. Ging nicht ans Telefon, öffnete die Haustüre nicht und lies den Computer ausgeschaltet. Mit der Zeit wurden diese Ausprägungen immer stärker. Sie sprach nicht mehr. Verlies das Haus nicht mehr und las nicht mehr. Wenn ihr Vater nicht da war, hing sie nur ihren Gedanken nach, vergas alles um sich herum. Damit versuchte sie sich zu schützen, gegen die Angst, die seit einigen Jahren Besitz von ihre ergriff, wenn Ihr Vater mal wieder verschwand, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Ein leises Motorengeräusch in der Ferne riss sie aus ihren Gedanken. Das war er, er kam wieder, hatte sie nicht vergessen. Was er ihr wohl diesmal mitgebracht hatte? Eine Muschel vom Strand, die CD einer Straßenband, ein Armband, ein Buch- ihr ganzes Zimmer war gefüllt mit Dingen, die ihr Vater ihr mitgebracht hatte. Wie ein lange, blasse Finger strichen die Scheinwerfer zwischen den Bäumen entlang. Nur noch wenige Sekunden, und er würde da sein, würde sie in die Arme schließen und in ihr Haar murmeln: "Meine arme Meggie. Meine arme, arme Meggie." Dann würden sie sich Kaffee kochen, den Ofen anzünden und gemeinsam Musik hören, lesen, oder worauf sie sonst Lust hatten. Als der alte VW Bus vor dem Haus hielt, sprang Meggie vom Fensterbrett und lief auf Socken aus ihrem Zimmer. Gerade hatte sie den Hausflur erreicht, als die Türe von außen aufgestoßen wurde und ein Schwall kalter Herbstluft hereindrang, der sie in ihrem dünnen T-shirt frösteln lies. Meggie rannte los und wollte ihrem Vater um den Hals fallen, als sie jedoch sah, das hinter diesem eine zweite Person das Haus betreten hatte, stoppte sie abrupt ab und wäre beinahe hingefallen. Noch hatte sie niemand bemerkt. Ihr Vater, der einen riesigen Trolley neben sich stehen hatte, schüttelte sich die Tropfen aus dem Haar. Es war eine so typische Davidbewegung, dass Meggie am liebsten losgesprungen und ihrem Vater um den Hals gefallen wäre, aber die junge Frau neben ihrem Vater hatte sich umgedreht und das was Meggie im fahlen Licht der Außenlampe erkennen konnte, hielt sie zurück. Das Mädchen hatte die selben ebenmäßigen Gesichtszüge wie sie, das volle Haar glänzte im gleichen braunrot wie ihres und die Augen- die großen grünen Augen blickten Meggie so voller Erstaunen an, dass sie sich für einen Moment nicht sicher war, ob sie in einen Spiegel sah. In diesen Augen konnte Meggie all das Sehen, was sie fühlte. All die Vorwürfe, Fragen und Wünsche, die sie niemals aussprach schienen in diesem Blick zu liegen. Es waren die selben Augen, die Meggie jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickten. Wie erstarrt blieb sie stehen und starrte das fremde Mädchen an. Die starrte zurück, schien genauso unfähig, ein Wort von sich zu geben oder sich zu bewegen. David brach das Schweigen. "Meggie?" fragte er mit leiser Stimme. "Willst du herkommen und jemanden kennenlernen, den ich dir mitgebracht habe?" Er brachte öfter Leute mit, die dann ein oder zwei Nächte bei ihnen blieben und genauso plötzlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Mit der Zeit hatte Meggie ein gutes Gespür dafür entwickelt, wer willkommen war, und wem ihr Vater nur einen Gefallen schuldete. Doch dieses Mädchen schien in keine der Kategorien zu passen. Zögernd trat Meggie einen Schritt auf die beiden zu, dann noch einen und noch einen. Das Mädchen schien noch immer völlig geschockt, stand nur da und starrte auf eine Stelle. David hingegen hatte sich sichtlich entspannt. Er schloss die Türe, schlüpfte aus seinem Mantel und breitete die Arme aus, damit Meggie sich hineinwerfen konnte. Doch Meggie blieb stehen. Sie stand da und starrte die Fremde an, die ihr so bekannt erschien, die das gleiche Gesicht trug wie sie, die sich überhaupt gar nicht von ihr zu unterscheiden schien. "Achso." drang die Stimme ihres Vaters zu ihr vor. "Ihr kennt euch ja noch nicht. Meggie, das ist deine Zwillingsschwester Kate. Kate, das ist Meggie.
*
Unruhig lief Meggie in ihrem Zimmer auf und ab. Draußen graute bereits der Morgen und die ersten Sonnenstrahlen krochen schüchtern über die Rot und Geld gefärbte Eiche vor ihrem Fenster. Es zog sie nach draußen, die Natur schien sie zu rufen und es juckte sie in den Finger, die alte Strickleiter aus dem Schrank zu holen und einfach zu verschwinden. Doch da war dieses Mädchen, das in ihrer Küche gesessen hatte und so verloren gewirkt hatte. Kein Wort hatte sie gesprochen, einfach nicht auf Meggie oder David reagiert. Dieses Mädchen, das ihre Zwillingsschwester sein sollte. Schwester. Familie. Das war für Meggie völliges Neuland. Es hatte immer nur sie und David gegeben, immer nur David und sie. Sie waren eine Einheit, na klar, aber eine Familie? Für Meggie bedeutete Familie etwas heiles, ganzes. Und das war es mit ihr und David nie gewesen. Eine Mutter hatte immer gefehlt, und vielleicht noch Geschwister. Doch Meggies Mutter war schon vor langer Zeit verschwunden. Weggelaufen, munkelten die Leute aus dem Dorf. Verschwunden, behauptete David. Im Himmel, sagte Meggie. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter wirklich tot war, doch für Meggie war sie gestorben. Sie verschwendete keinen Gedanken an diese fremde Frau, die sie neun Monate lang im Bauch getragen hatte. Sie hatte keine Vorstellung von dem, was eine Mutter bedeuten konnte. Manchmal bekam sie einen flüchtigen Eindruck davon, wenn sie ein kleines Kind auf dem Spielplatz weinend zu seiner Mutter rennen sah, wenn eine besorgte Mama dem Kind in der Eisdiele den Mund abwischte oder wenn sich Kinder nach Schulschluss freudestrahlend in die Arme ihrer Mami warfen. Immer dann verspürte sie einen leichten Stich, doch das Wort Mama machte für sie keinen Sinn, es hatte keine Bedeutung.
Ein leises Tappen am Fenster riss Meggie aus ihren Gedanken. Kaya, ihre Katze saß auf dem Fensterbrett, ihr schwarzes Fell glänzte in der Sonne und sie miaute vorwurfvoll. Leise öffnete sie ihr das Fenster und lies sie ein. Die Katze schmiegte sich sofort in ihre Arme und begann zu schnurren. Meggie merkte, wie sie unmerklich zur Ruhe kam. Ob Katzen wohl auch verwirrt sein konnten? So verwirrt, wie Meggie jetzt war? Verwirrt auf die Art und Weise, bei der die Verwirrtheit beginnt, in dein Immunsystem einzugreifen und dich wachhält und beginnt deinen Körper zu verändern? Meggie war sich relativ sicher, dass Katzen diese Art von Verwirrtheit nicht kannten. Tatsächlich war sie sich nicht mal richtig sicher, ob alle Menschen sie kannten. Schließlich gab es auch unter ihren Bekannten recht pragmatische, geradlinige Leute, die sich nicht immer stundenlang Gedanken über alles machten wie Meggie, sondern einfach taten. "Du magst Katzen?" sie zuckte so sehr zusammen, dass Kaya verärgert von ihrem Schoß sprang und einen Buckel machte. Kate lehnte im Türrahmen. Sie hatte sich komplett umgezogen, war geschminkt und ihre Haare waren nichtlänger wild und lockig. Auf einmal schien Meggie die Ähnlichkiet zwischen ihnen gar nciht mehr so groß. Hatten vorher noch Unsicherheit und Einsamkeit im Blick des Mädchens gelegen, wirkte sie jetzt seltsam kalt und unnahbar, als wäre sie nicht real. Doch das war sie. Sie starrte Meggie mit ihren grünen Augen durchdringend an. "also was ist jetzt?" ihre stimme klang gelangweilt, abweisend." hast du vor mir heute noch zu antworten oder muss ich bis morgen warten?" Demonstrativ kehrte Meggie ihr den Rücken zu. "Katzen sind genau wie ich, deshalb mag ich sie so." Ärgerlich bemerkte sie, dass ihre Stimme dünn und unsicher klang. Wer war dieses Mädchen? Woher kam sie und warum fühlte sich Meggie in ihrer Gegenwart so unwohl? Ihr schien es beinahe, als sei dieses Mädchen gekommen, um ihr zu zeigen, wer sie hätte sein können. Und dabei tat die Fremde doch gar nichts, außer in der Tür zu stehen und perfekt zu sein. Und doch, sie war Meggie einfach unheimlich. Ihr Spiegelbild, nur... anders. Meggie war stolz darauf, etwas besonderes zu sein, jemand der Charakter hatte und nicht so leicht verwechselt wurde. Doch der Weg zur Einzigartigkeit war lang und steinig und schon mehr als einmal war Meggie gestrauchelt und wäre beinahe gefallen. Und jetzt kam sie daher, die Unnahbare, die Fremde, kam an und zeigte Meggie eine Art zu leben, zu existieren, zu sein, den sie auch hätte wählen können. Vielleicht wäre sie am Ende dieses Weges nicht zufrieden mit sich, aber sie wäre glücklich. Denn sie würde viele Freunde und Bewunderer um sich haben, Jungs würden die Beziheungen mit ihr nciht immer so ernst nehmen, sie könnte aufgehen wie ein strahlender Stern. Doch war das das, was Meggie wollte? Nein. Meggie wollte ein erfülltes Leben, sie wollte etwas erreichen, andere Leute an ihrem Leben, ihren Begabungen und Möglichkeiten teilhaben lassen, sie wollte den Leuten die vielen Fassetten zeigen, die in ihr schlummerten. Als Meggie sich umdrehte, war die junge Frau aus demTürrahmen verschwunden, zwei Zimmer weiter hörte Meggie eine Türe klappen, und dort, wo die Fremde gestanden hatte, schien nun etwas zu fehlen. Der Platz, den sie ausgefüllt hatte, wirkte so groß, so leer.