Maia ist leer. Seit ihr Freund Ben plötzlich und unerwartet gestorben ist, fühlt sie sich überflüssig und will am liebsten sterben. Die Erinnerung an die kurze, gemeinsame Zeit frisst sie auf, und es ist niemand da, der ihr hilft. Doch dann findet sie ein Mauskript. Bens Manuskript über ihren gemeinsamen Sommer. Dieses Mauskript verändert ihr Leben von neuem.
Die Blätter rascheln unter meinen Füßen. Es wird Herbst, der Sommer ist schon fast vorüber. Unser Sommer, der unendlich sein sollte, der in die Geschichte eingehen würde, als DER Sommer meines Lebens. ich höre Schritte hinter mir, drehe mich um, in der Erwartung dich zu sehen, wie sich ein Lächeln auf deinem Gesicht ausbreitet, du eine Augenbraue hochziehst, mich angrinst und sagst: wieder mal den Witz verpasst, Maia? In meinen Gedanken höre ich dich lachen, spöttisch und doch gleichzeitig so lieb,  höre, wie du mit der Stimme, die ich so liebe sagst: Maia, unser Sommer wird nie vorüber sein. und wenn er doch einmal endet, dann werden wir uns nur in die Augen schauen müssen und wir werden wissen: der Sommer ist nur zu Ende, weil noch etwas viel besseres angefangen hat!
doch als ich mich umdrehe sehe ich nicht dich, sondern einen alten Mann. in der Hand trägt er einen Leinenbeutel, wahrscheinlich war er beim Einkaufen. Sein Gesicht ist gezeichnet vom leben, tiefe Falten haben sich um Mund und Nase in die Haut gegraben. einen Moment denke ich, er ist du in alt, ich will ich losrennen, ihn schütteln und anschreien, damit er dich zurückbringt, bis mir einfällt, dass du nie wieder zu mir zurückkommen wirst. und dass der alte Mann dich wahrscheinlich nicht einmal kennt.
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 1000 Augenpaare starren mich an. Ich senke den Blick, lasse meine Haare nach vorne fallen, sodass sie mein Gesicht verdecken und such mir meinen Weg durch die Menge, die eine Gasse bildet, als wäre ich giftig. Um mich herum höre ich ein leises Wispern, das anschwillt, immer lauter wird und sich schließlich anhört, wie ein summender Bienenkorb. Unwillkürlich muss ich lächeln. Wie wichtig sie sich alle vorkommen. Sie haben keine Ahnung vom wirklichen Leben, keine Idee von Freiheit, von dem, was es heißt, sich unabhängig zu fühlen und einfach nur zu tun, worauf man gerade Lust hat. Ich erreiche mein Klassenzimmer und suche mir einen Platz ganz hinten. Letztes Jahr war ich noch der strahlende Mittelpunkt der Klasse, es wurde sich um die Plätze in meiner Nähe gestritten, jetzt bleibt sogar die Reihe vor mir frei. Was solls, ich bin sowieso nicht interessiert daran, die Freundschaft mit einem von ihnen noch länger aufrecht zu erhalten. ich sehe keinen Sinn mehr darin, ohne dich weiterzuleben. Die Lehrerin betritt das Klassenzimmer. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie die Sitzplatzverteilung unter die Lupe nimmt, einen Moment erstaunt ist, mich alleine in der letzten Reihe zu sehen. Dann gleitet der Schatten der Erinnerung über ihr Gesicht und augenblicklich bin ich unsichtbar. In meinen Ohren höre ich dich lachen.
Draußen vor meinem Fenster wirbeln die Blätter auf und ab. Der Wind trägt sie davon, bringt sie zurück, er spielt mit ihnen. Ich sitze schon seit Stunden hier und beobachte, wie die dunklen Wolken immer schneller ziehen. Im Radio haben sie gesagt, dass es schneien soll, aber ich glaube es nicht. heute ist der 23. November. Aber Daten sagen mir nichts mehr. In meinem Kopf ist es immer noch Sommer, in meinem Kopf rennen wir noch immer über die Felder, auf der Flucht vor uns selber, auf der Flucht vor denjenigen, die uns zu erwachsenen machen wollen. Wenn ich die Augen schließe kann ich uns noch immer laufen sehen, ich blicke über meine Schulter zurück, meine Haare wehen mir ins Gesicht, ich krause die Nase und sehe einen wütenden Bauer der uns mit seiner Mistgabel droht. Ich lache laut, weil die Sonne scheint, und weil wir frei sind und diese Freiheit niemals aufgeben werden. Plötzlich schmecke ich etwas Salziges. Ich öffne die Augen und merke, dass es nur Tränen waren. Die blöden Tränen, die immer auftauchen, wenn ich mich hinreißen lasse, an dich und unsere gemeinsame Zeit zu denken. sie kommen und reißen mich aus den schönen Erinnerungen, bringen mich zurück in ein leben, dass mir nichts mehr zu geben hat, denn all das, was mir auf dieser Welt etwas bedeutete, wurde mir genommen.
24. November. gestern Nacht hat es geschneit. ich kann es nicht begreifen. es ist doch Sommer! Auf dem Schulweg muss ich meine Augen zusammenkneifen, und aus meinem Mund und meiner Nase dampft es. Ich stelle mir vor, du wärst jetzt hier. Sicher würdest du über meine rote Nase lachen, wir würden dampf ausstoßen als wären wir Eisenbahnen und dann würden wir durch den Schnee kugeln, einen Schneeengel machen und schließlich völlig verfroren und durchnässt zuhause ankommen. Probehalber öffne ich die Augen einen Spalt breit um zu schauen, ob du nicht doch da bist, doch ich werde enttäuscht. Ich stecke meine Hände in die Manteltaschen und stapfe weiter.
 Auf dem Heimweg muss ich an den Tag denken, an dem ich dich das erste Mal traf. Du kamst in die Klasse und ich war vom ersten Augenblick an fasziniert. Du hattest etwas wildes, verwegenes, etwas, das den anderen Jungs fehlte. In deinem Blick lagen Rastlosigkeit und Langeweile und automatisch warf ich mich in Pose. Ich spürte, wie dein Blick an mir hängen blieb doch er schweifte sofort wieder weiter. Du warst nicht interessiert an mir. Du warst der erste Junge in meinem Leben, der nicht sofort vor mir auf die Füße fiel und um meine Gunst bettelte. Du hattest meinen Ehrgeiz angestachelt und mein Interesse geweckt.
Meine Eltern machen sich Sorgen. Sie machen sich aber immer Sorgen. Mama spricht davon, mit mir zum Schulpsychater zu gehen. Lächerlich. Als ob ich einen Psychiater bräuchte. Ich brauche dich. Dich und deine gute Laune, dich und deinen Lebensgeist, deine Verrücktheit, deine Liebe, deine Rauheit. Ich sehne mich nach deinem Witz, deiner Zärtlichkeit, deiner Kreativität, deinem Körper und deinem Verständnis. Ich kann nicht weiterleben ohne deine Rastlosigkeit, deinen Erfindungsgeist, deine Freiheitsliebe und deinen Selbstbestimmungsdrang. Es war ein Sommer voller Erfahrungen, voller Erlebnisse und Erkenntnisse, ein Sommer voller Hoffnung und voller Angst vor dem Ende. Es war ein Sommer der Gegensätze. Mein Vater sitzt in seinem Sessel und liest Zeitung. Wo ist seine Freiheit? Sein Leben ist, getaktet, alles ist vorausbestimmt. Schon jetzt weiß er, was er morgen, in einer Woche, in einem Jahr machen wird. Nämlich Tag für Tag arbeiten, um Geld zu verdienen, damit er später mal, wenn er dann alt und krank ist, genug Geld hat. Aber was bringt ihm das Geld dann noch? Wenn er sein Leben verpasst hat, weil er immer nur im Büro saß, hat er keinen Nutzen mehr davon. Als 70 jähriger kann er nicht mehr nächtelang im Gras liegen und den Sternenhimmel beobachten, er kann nicht mehr spontan entscheiden, einfach mal für ein Wochenende wegzufahren und dann lostrampen, er kann nicht mehr am Strand übernachten und die Wellen zählen, er kann keinen wilden heißen Sex an verrückten Orten haben. Ihm ist das nicht bewusst, aber am Ende seines Lebens wird er dasitzen und nicht mehr wissen wohin mit seinem Geld. Und schlussendlich wird es mir vererbt werden, und dann hat er sein ganzes Leben gearbeitet ohne jemals etwas dafür zu bekommen.
Ich weiß noch genau wie wir nachts auf einem Dach hoch über Berlin saßen und über den Sinn des Lebens diskutierten. Ich erinnere mich beinahe wörtlich daran, wie du mir widersprochen hast, ich höre uns lachen, kann die laue Sommerluft, die immer ein bisschen nach Teer und Sonnencreme riecht, auf meiner Haut spüren, ich schmecke deine Küsse, spüre deine Finger, die liebevoll durch mein Haar fahren, deine Hände, die mich an dich drücken, deinen Mund der meinen sucht...
Samstagmorgen, halb 6. Mein Handy reißt mich mit einem Song der Toten Hosen aus dem Schlaf. Müde blicke ich aufs Display, bin aber sofort hellwach als ich sehe, wer da meinen heiligen Schlaf stört. "Ben!" ich weiß genau, dass meine Stimme atemlos und aufgeregt ist, doch es stört mich keinen Deut. Ich bin einfach nur froh, dass er anruft. "Maia!"blechern klingt sein Lachen aus dem Hörer. "Pack dir einen Pulli, zieh dich an und komm raus. Ich sitze im Baumhaus." Schon hat er aufgelegt. Mein Herz pocht schnell vor Aufregung und als ich aufspringe wird mir prompt schwindelig. Ich bleibe eine Minute stehen und stütze mich an der Wand ab. Dann schlüpfe ich in Windeseile in meine Klamotten und verlasse das Haus. Ben steht schon vor der Haustüre, ungeduldig küsst er mich und zieht mich dann eilig fort. "Beeil dich, der Zug ist gleich weg!" Ich weiß nicht wovon er redet, aber ich frage nicht nach. Ich bin einfach nur glücklich hier zu sein, an diesem schönen Sommermorgen mit ihm den Waldweg entlang zu laufen, auch wenn es meiner Meinung nach ein bisschen langsamer gehen könnte. Alles ist so friedlich. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, die Sonnenstrahlen suchen sich einen Weg durch das dichte Blätterdach und die Luft ist angenehm warm auf meiner Haut. Doch Ben will nicht stehen bleiben, er drängt mich zu Eile. Bald erreichen wir völlig außer Atem den Bahnhof. Ein Zug steht am einzigen Gleis, gerade schließen schon die Türen, doch wir hechten noch hinein. Trotz oder vielleicht gerade wegen der frühen Uhrzeit ist der Wagon gut gefüllt und wir landen schließlich auf einem engen Zweiersitz im Großraumabteil. Ich sehe Ben an und muss lachen. Seine Haare sind total verwuschelt und er versucht verzweifelt, das Fenster zu öffnen, um sich seine Zigarette anzünden zu können und dabei nicht den gesamten Zug zu verpesten. Lachend streckt er mir die Zunge raus. Ich lehne mich in meinen Sitz und bin glücklich. Einfach so, ohne irgendeinen besonderen Grund verspüre ich dieses ganze besondere Glück, obwohl ich nicht einmal weiß, wohin wir fahren. Doch ich bin müde und deshalb lehne ich mich im Sitz zurück und schlafe ein.
Es fällt mir schwer, morgens aufzustehen. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben und nichts tun. Aber ich will auch nicht schlafen. Ich habe Angst vor dem Aufwachen, vor diesem Moment in dem ich merke, dass du nicht neben mir liegst, dem Moment, in dem mir einfällt, dass du nie mehr neben mir liegen wirst. Früher war ich nicht leicht zu erschrecken. Heute zucke ich beim Geräusch der Klospülung zusammen, habe Angst vor Autos, Bahnen, Menschen. Ich ertrage keine fröhlichen Personen in meiner Nähe. Ständig will ich rufen: geht weg, lasst mich in Ruhe! doch ich beiße die Zähne zusammen und mache weiter. Tue so, als wäre es in Ordnung, dass sie mich nicht mögen. Doch das ist es nicht. Hätte ich noch Freunde, wäre ich nach deinem Tod wieder die alte Maia geworden, hätte mein Leben vielleicht noch einen Sinn. Ich würde mich irgendwann aufraffen und versuchen, weiterzuleben. Aber so? Wofür soll ich jeden Tag hier sitzen? Am Ende werde ich doch sowieso sterben, und ob das früher oder später passiert interessiert auch keinen. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich von mir selber in der Vergangenheit denke. Aber von dir denke ich noch immer in der Gegenwart. Ich kann nicht glauben, dass du nicht mehr da bist. Es ist einfach nicht logisch.
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Schon wieder ist fast ein Monat vergangen. Es geht auf Weihnachten zu. Ich weiß noch, wie ich letztes Jahr mit meinen Freundinnen Wunschzettel geschrieben habe. Jeder schrieb das auf, was er sich am allerallermeisten wünschte und anschließend tränkten wir die zettel in Alkohol und verbrannten sie in einem Topf. Weißt du was auf einem Zettel stand? Nur ein Wort, ein Name. Ben. Mein Wunsch ging in Erfüllung nur wenige Wochen nach dem ich den Zettel verbrannt hatte. Silvester zweitausendundelf. Das neue Jahr würde unsere Namen tragen, das versprachen wir uns. Niemals mehr würden wir uns aus den Augen verlieren. Dieses erste Zusammentreffen unserer Körper. Es war unbeschreiblich. DU warst unbeschreiblich. Ich weiß noch, wie du mich ansahst und sagtest: so etwas wie dich habe ich nicht verdient. und ich dachte: wie sehr du doch recht hast. etwas viel besseres hast du verdient. Doch du warst immer der Überzeugung, der böse von uns beiden zu sein. Dabei war es doch gar nicht böse. Warum hast du nur nie darüber gesprochen? ich wäre für dich dagewesen, bedingungslos, immer.
Ben sitzt in seinem Zimmer. Deutlich zeichnet sich seine dunkle Silhouette gegen das hellerleuchtete Fenster ab. Es ist mitten in der Nacht, doch ich kann nicht schlafen. Er ist komisch gewesen in den letzten Tagen. Hat kaum ein Wort gesprochen. Es verunsichert mich, wenn er nicht so ist wie sonst, nicht mein fröhlicher, lachender Ben.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier in seinem Garten stehe und das Fenster anstarre, ich weiß nur, das etwas mit ihm nicht in Ordnung ist. Er will nicht darüber reden, möchte in Ruhe gelassen werden, doch das kann ich nicht akzeptieren. Ich nehme all meinen Mut zusammen und werfe einige kleine Steine gegen sein Fenster. Er reagiert nicht. Noch einmal. Und nochmal. Und nochmal. Ben bleibt einfach sitzen. Und schließlich weiß ich mir nicht mehr anders zu helfen: Ich klettere auf den Apfelbaum, der hier schon steht, seit wir Kinder waren und der seine dicken Äste bis zu Bens Fenster streckt. Ich sitze nur wenige Zentimeter von Ben entfernt im Baum, und er sieht mich einfach nicht. Ich muss beinahe lachen, doch dann strecke ich meinen Arm aus und klopf sacht gegen die Scheibe. Ben hebt den Kopf, sieht mich, lächelt und öffnet das Fenster. "Ich hab mir schon gedacht, dass du vorbeikommst" Seine Stimme klingt rau und seine Augen scheinen mir bis auf die Seele schauen zu können. "Ben!" Atemlos lasse ich mich in seine Arme fallen, er lächelt und küsst mich. Als unten im Haus eine Tür klappert und Stimmen laut werden, tritt ein ungeduldiger Ausdruck in sein Gesicht. "Lass uns von hier verschwinden!" raunt er mir zu und zieht mich zum Fenster. Er hilft mir hinaus, klettert selbst hinterher und lachend verschwinden wir in die Dunkelheit. Als wir auf der Straße stehen, sehe ich Bens Mutter in seinem Fenster stehen. Sie schaut sich um, schüttelt missbilligend den Kopf und schließt das Fenster. "Tja." Ben grinst mich frech an "Da werde ich wohl heute Nacht bei dir schlafen müssen." Ich lache, schlinge ihm den Arm um die Hüften und bin so froh bei ihm zu sein, in dieser Nacht, in diesem Sommer, in diesem Leben. Wir fahren aufs Feld hinaus, noch immer ist die Luft weich und warm, die Grillen zirpen und der Mond am Himmel taucht alles in sein blasses, ehrliches Licht. Es herrscht eine ganz besondere Stimmung. Wir legen uns auf eine Wiese, schauen in den Sternenhimmel und sind einfach da. Der Himmel ist von Sternen übersät, die Luft riecht nach Sommer, im Gebüsch streiten sich zwei Vögel... Alles ist so friedlich. Fast habe ich Bens Schweigsamkeit in den letzten Tagen vergessen und der Teil von mir, der sich daran erinnert, ignoriert die Sorge und gibt sich ganz dem Moment hin, denn das scheint das einzig wichtige zu sein. Ich und Ben, Ben und ich, wie wir auf dieser Wiese liegen, das Zentrum des Universums, unseres Universums und uns doch in genau diesem Augenblick so sehr darüber bewusst, wie klein und unbedeutend wir doch sind. Es ist einer dieser magischen Augenblicke, über die man ständig und überall liest, von denen man hört, die man aber ganz selten nur selbst erlebt, und man muss es erlebt haben, um zu verstehen, worin die besondere Magie dieser Augenblicke besteht.
Weihnachten. Fest der Liebe. Ich weiß, dass ich mich eigentlich freuen sollte. Geschenke kaufen, Schlittschuh fahren, Glühwein trinken und Weihnachtslieder singen. So wie jedes Jahr. Aber es ist nicht so wie jedes Jahr. In mir drin ist es einfach... leer. Wie soll ich denn ein Fest der Liebe feiern, wenn meine große Liebe tot ist? Wie soll ich mich freuen und Spaß haben, wenn derjenige, mit dem ich immer am meisten Spaß hatte, nie wieder kommen wird? Alles duftet nach Zimt und Tannenreißig, alle haben gute Laune und ich sitze hier und muss mich zusammenreißen, um nicht laut zu schreien. Tränen habe ich schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich bin ich innerlich ausgetrocknet, wie ein Brunnen in der Wüste, und wenn ich dann endlich sterbe, zerfalle ich innerhalb weniger Tage wie ein welkes Blatt. Ich muss daran denken, wie du mich immer in den Arm genommen hast, wenn ich traurig war, wie du mir die Tränen von Gesicht geküsst hast und ganz verwundert warst, dass ich immer noch mehr hatte. Es ist, als würdest du vor mir stehen, deine Hand streicht sanft über mein Haar, dein Mund wispert mir zärtlich ins Ohr: Scht, scht, alles gut... doch dann blinzele ich und bin wieder allein. Nicht einmal die Enttäuschung, allein zu sein kann ich noch spüren.
Ich öffne die Haustüre. Draußen ist es klirrend kalt, doch es ist eine schöne und klare Nacht und ich kann einfach nicht anders. Es ist, als würde mich deine Stimme rufen, sie zieht mich an, wie ein Magnet, ruft: Maia, Maia, komm zu mir, komm her, lass uns Spaß haben, lass uns nicht an morgen denken! Ich trete aus dem Haus und ziehe die Türe hinter mir zu. Es ist Vollmond, und am klaren, dunkelblauen Himmel kann ich 1000de von Sternen sehen. Bist du jetzt dort? Leuchtest du für mich? Oder liegst du einfach nur in der Holzkiste auf dem Dorffriedhof und existierst nicht mehr? Ich weiß es nicht. Aber wenn du vielleicht noch irgendwo bist, dann will ich so schnell wie möglich zu dir. Ich laufe los. Meine Schritte knirschen im Schnee. Vor mir, auf dem Feld bewegt sich etwas. Ein Hase. Machen Hasen nicht Winterschlaf? Ich laufe weiter. Der Mond leuchtet mir meinen Weg und ich bin voller Vertrauen. Beinahe, aber nur beinahe, bin ich sogar glücklich. Ich fühle mich dir nah in dieser verwunschenen, eiskalten Winternacht. Meine Füße hinterlassen Spuren im Schnee. Werde ich irgendeine Spur hinterlassen? Oder werde ich einfach weg sein? Natürlich, meine Eltern werden mich vermissen. Aber es wird nicht schlimm für sie werden, bloß ein kleiner Kratzer, kleb ein Pflaster drauf und bald ist nichts mehr zu sehen.
Wir sind auf einem kleinen Campingplatz, irgendwo im Wald, den ganzen Tag sind wir zuerst mit dem Zug und dann mit dem Fahrrad gefahren, und jetzt sind wir hier. Wir trinken lauwarmen Rotwein, lauschen dem Zirpen der Grillen und beobachten die Glühwürmchen. Plötzlich seufzt Ben. Er legt einen Arm um meine Schultern und zieht mich an sich. "Maia." seine Stimme klingt ernst. Plötzlich, ohne einen wirklich Grund dafür zu haben, bekommen ich Angst. "Maia, würdest du mich vermissen, wenn ich jetzt gehen würde?" Ich sehe ihn an und weiß nicht, was ich antworten soll. Unverwandt blickt er mir in die Augen. "Ja" flüstere ich und meine Stimme klingt ganz heißer. Ärgerlich räuspere ich mich und wiederhole mit lauter, kräftiger Stimme:"JA, würde ich." Er entspannt sich merklich, lässt sich auf den weichen Waldboden sinken und zieht mich neben sich. "Ach Maia..." Er vergräbt den Kopf in meinem Haar, seine Hände streicheln meinen Rücken, meine Arme, scheinen überall zugleich zu sein. "Maia, Maia, Maia... Ich liebe dich." Seine Stimme klingt traurig, aber ein Hauch von Stolz schwingt darin mit. Kurz bin ich irritiert, weiß nicht worauf er stolz ist, doch er beantwortet meine unausgesprochene Frage: "Weißt du eigentlich, wie toll es ist, hier mit dir zu liegen?" Sein Mund berührt meine Ohrmuschel. "Ich kann es einfach nicht fassen, manchmal merke ich, wie ich beginne, dich als selbstverständlichen Teil meines Lebens zu betrachten, doch in Momenten wie diesen merke ich, dass das was uns verbindet, viel zu besonders ist um selbstverständlich zu sein." Seine Hände schieben sich langsam unter mein Top, sein Mund sucht meinen, unsere Beine sind ineinander verhakt. Und in diesem Moment, der so perfekt ist, schießt mir auf einmal eine dunkle Vorahnung durch den Kopf. nur für Sekunden sehe ich mich an einem Krankenhausbett stehen, es ist mit einem grünen Tuch zugedeckt, Bens Mutter steht daneben und weint, sein Vater steht verlegen an der Türe, weiß nicht wie er sich verhalten soll, eine Krankenschwester am Ende des Bettes. Doch dann ist das Bild wieder verschwunden und ich gebe mich ganz der Realität hin.
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