Als Benjamin gerade 19 Jahre alt war, entschloss er sich von Zuhause auszuziehen, zumal er sich mit seinem Vater nie richtig verstanden hatte. Nun wollte er dem Stress entgehen und nahm sich eine kleine Einzimmerwohnung in der nächstgelegenen größeren Stadt.
Nach und nach brachte er mit Hilfe seines jüngeren Bruders seine Sachen, zu denen auch ein 12-teiliges Ess- und Kaffeegeschirr, das er geschenkt bekommen hatte, gehörte, in diese kleine Wohnung. Zwischendurch fragte er mich ab und zu: „Mama, hast du zufällig ein paar Handtücher für mich und auch etwas Bettwäsche?“ Mama hatte und Mama gab gern. Die Möbel aus seinem Zimmer reichten für diese kleine Wohnung völlig aus. Eine Küche war schon vorhanden. Einige Töpfe und eine Pfanne konnte ich auch ohne weiteres entbehren. Immer wieder erwischte ich mich dabei, dass ich vom Einkaufen Kleinigkeiten mitbrachte, an die er sicherlich nicht denken würde, die man aber in einer eigenen Wohnung unbedingt braucht, wie z. B. Putzmittel, Besen, Handfeger, Schaufel und dergleichen.
Dann kam der Tag des endgültigen Abschieds. Es tut weh, wenn ein Kind geht. Da ich aber wusste, dass es für ihn gut und wichtig war, ließ ich ihn ziehen. In der ersten Zeit war er trotzdem mehr Zuhause als in seiner Wohnung. Wenn ich ihn fragte, wann er dann losmüsse, meinte er oft: „Ich habe mir überlegt, dass ich heute Nacht hier schlafe. Ich schlafe auf dem Sofa. Was essen wir?“ Es ist nicht einfach, wenn Kinder flügge werden.
Nach ungefähr zwei Wochen fragte mich mein Sohn, ob ich zufällig auch noch Vorhänge hätte, die er in seiner Wohnung unbedingt bräuchte, weil sonst jeder, der vorbeiging, in sein Zimmer gucken könnte. Selbstverständlich hatte ich auch die. „Wie groß ist denn dein Fenster?“ fragte ich und breitete mehrere Vorhänge auseinander. „Die müssten passen“, meinte er, zog mir den Stoff aus den Händen und von dannen.
Wieder einige Tage später rief Benjamin mich an und erklärte mir, dass er jetzt alles fertig hätte. „Willst du jetzt gucken kommen?“ Natürlich wollte ich. Also fuhr ich mit seinen beiden kleineren Geschwistern zu seiner Wohnung. Dabei platzte ich ehrlich gesagt fast vor Neugier, wie gut mein Sohn ohne die Hilfe seiner Mutter zurechtgekommen war. Eine allzu große Herausforderung war das bis jetzt ja noch nicht, da er sich immer noch mehr Zuhause aufhielt, als in seiner Wohnung. Aber ich bemerkte auch seinen Stolz und wollte das natürlich unterstützen.
Wir gingen durch einen kleinen Flur und betraten Benjamins Wohn- und Schlafzimmer. Mein Blick fiel sofort auf die Vorhänge. Was war das? Waren die nicht ursprünglich viel länger? Und vor allen Dingen waren sie, als er sie von mir bekam, am unteren Ende gerade und umgenäht. Jetzt aber hingen sie in unebenen Wellen über der Heizung. „Was ist das?“ fragte ich entgeistert und zeigte auf den unteren Rand dieser Vorhänge. „Weißt du“, klärte mein Sohn mich auf: „Die hingen über der Heizung, so dass die Wärme gar nicht richtig ins Zimmer kommen konnte. Also mussten wir sie kürzer machen. Dirk hat mir geholfen. Er hat am einen Ende festgehalten, während ich am anderen Ende angefangen habe sie abzuschneiden. Jetzt sind sie kurz genug. Sind aber nicht ganz gerade, nicht.“ Nein, das waren sie wahrlich nicht. Sie waren völlig hinüber. Nicht einmal gleichmäßige Wellen hatte er in die Vorhänge geschnitten. Er hatte sie einfach nur gekürzt, nicht umgesteckt, umgenäht oder zumindest gerade abgeschnitten. Es war eine Katastrophe.
Ich schüttelte den Kopf, sagte aber nichts weiter. Das brachte jetzt sowieso nichts mehr. Die waren hinüber.
„Zeig mal deine Küche“, murmelte ich und ließ mich von meinem Großen in seine kleine Küche führen. Dort öffnete ich nach und nach die Schränke, nicht um zu kontrollieren, wie gut er Ordnung halten konnte, sondern um festzustellen, ob ich seinen Vorrat auffüllen müsste, damit mein armes Kind nicht verhungert. Als ich einen der Hängeschränke öffnete, traf mich förmlich der Schlag: Dort stand die Pfanne, auf der sich eine ca. 5 cm. hohe Schimmelschicht gebildet hatte. Benjamin bemerkte meine Reaktion und sagte schnell: „Ups, das sind die Nudeln.“ „Benjamin, das waren die Nudeln“, gab ich zurück. „Die räum ich nachher weg“, wandte er sofort ein. „Nicht nachher, sofort.“ Er schien die Spannung zu spüren, denn sofort nahm er die Pfanne, verließ damit die Wohnung und kam kurz darauf mit einer leeren Pfanne zurück.
Damals hätte ich nie gedacht, dass mein Sohn jemals in der Lage sein würde, in einer eigenen Wohnung zurechtzukommen. Am liebsten hätte ich ihn überredet, umgehend den Mietvertrag zu kündigen und mit mir nach Hause zu kommen. Aber er brauchte diese Phase, also sollte er sie auch haben.
Mittlerweile wohnt er nun schon seit mehreren Jahren nicht mehr Zuhause. Er kommt mich zwar regelmäßig besuchen, aber es zieht ihn dann auch wieder in seine eigenen vier Wände. Pfannen mit Nudeln, die schon seit längerer Zeit keine mehr waren oder abgeschnittene Vorhänge gibt es nicht mehr. Sicher gibt es auch heute noch Phasen, in denen er es mit der Ordnung nicht so genau nimmt, aber es ist sein Leben und er soll damit zurechtkommen. Ich lasse ihm diesen Freiraum, den er braucht.
Um die Vorhänge tut es mir im Nachhinein schon ein wenig leid. Es wäre so einfach gewesen. Einfach nur sagen, dass die zu lang sind, dann hätte man die Länge ausmessen, die Vorhänge kürzen, umnähen und wieder aufhängen können. Es hätte auch nicht lange gedauert.
Als Benjamin aus dieser Wohnung auszog, ließ er die Vorhänge zurück. Ich wünsche seinem Nachmieter viel Spaß damit. Solche Zierde vor den Fenstern hat wirklich nicht jeder.