Beschreibung
Schon seltsam: Erst mache ich eine zweimonatige Pause von dieser Plattform hier, und dann, mitten im Winter, veröffentliche ich einen Text ausgerechnet über den Sommer in Berlin. Doch das von mir selbst gewählte Gesetz der Serie will es so, und außerdem ist es ja ganz schön, an Dinge zurück zu denken, die schon viel länger vergangen erscheinen, als sie es wirklich sind. Auf geht's also in die 22. Lieferung.
Berliner Sommer
So richtig gut ist es ja eh nie ganz. Jedenfalls mir ergeht es in dieser Weise immer, wenn ich versuche, mich auf die Temperatur in einer Stadt einzustellen. Auf dem Land ist es anders, seltsamer Weise, da ist draußen und drinnen klarer voneinander geschieden, und beim Rausgehen greife ich recht bewusst zum dann tatsächlich geeigneten Kleidungsstück. Aber in der Stadt: Schwierig. Zumal in einer Stadt wie Berlin, in der das Draußen nicht selten eine Erweiterungsfläche des Drinnen ist. Es soll ja doch nur eben der Gang um die Ecke zum Bäcker oder Pizza-Mann oder Supermarkt sein; oder nur der kurze Abstecher auf den Spielplatz; und da gehe ich den richtigen Umgang mit der Temperatur recht fahrlässig an. Im Sommer bedeutet das: Es ist mir in Berlin fast immer zu warm. Mit Ausnahme des kühlen Schattens im Tiergarten vielleicht wird es in Berlin schnell flächendeckend drückend heiß. Besonders in den S-Bahnen und Bussen, die ja auch so ein seltsames Zwischending zwischen Drinnen und Draußen sind.
Aber Temperatur, pah, was will mir das schon? Ist doch nur ein Indikator für einen bestimmten energetischen Zustand, in dem ich mich durch die Stadt bewegen muss. So heiß kann es gar nicht werden, dass man sich nicht durch das in der jeweiligen Saison gerade angesagte Erfrischungsgetränk nicht einige Linderung verschaffen könnte. Auch deshalb ist der Sommer die am stärksten ausgeprägte Jahreszeit Berliner Lebens. Die Hitze in der Stadt, mal verhalten, mal drückend, mal einfach nur brennend, zwingt Bewohner wie Besucher geradezu unwiderstehlich zu den Genüssen, die in die vielen Tausend Restaurants, Kneipen, Biergärten und Kiosken locken.
Klingt übertrieben? Unmäßig Berlin-schwärmerisch? Nach einer verfehlt überladenen Metapher? Ach ja? Nun, dann muss die Empirie über das Vorurteil siegen. Aufgabe an den skeptischen Leser: Sie oder er wähle im Juli, August oder frühen September ein Hotel auf dem Kurfürstendamm, und zwar so, dass die nächste U-Bahn-Haltestelle entweder Kurfürstendamm oder Uhlandstraße ist. Nach einem faulen Ausschlafen an einem Samstagmorgen und flüchtigen Frühstück lautet der Marschbefehl auf eine Fahrt mit der U1 bis zum Nollendorfplatz. Dort gilt es, den Winterfeldtplatz zu finden, und zwar ohne einen Ortskundigen zu fragen. Schon dreißig Minuten später besteht die ehrliche Chance, den Markt zu finden. Er oder sie gräme sich nicht, denn der Markt liegt zwar nur knapp dreihundert Meter von der U-Bahn-Station entfernt, aber die U1 kommt dort im Untergeschoss an und entlässt ihre Fahrgäste in der falschen, gerade nicht zum Nollendorfplatz und zum Winterfeldtplatz führenden Richtung. Egal, jetzt ist die Straße der Cafés und Terrassenrestaurants (es ist übrigens die Maaßenstraße) endlich gefunden und beschritten. Es ist jetzt so gegen halb zwölf Uhr, die Plätze an den Tischchen und Bierbänken füllen sich, dicht überwabert von einer ausgesuchten Geruchsmischung aus Frittenfett, frischem Kaffee und scharfem indischen Curry. Wer kann noch widerstehen? Der Berlin-Besucher natürlich, der die knappe Zeit in der Hauptstadt nicht in Gaststätten vertrödeln will. Es ist nicht mehr warm, es wird schon heiß, nur gut, dass das Halbliterfläschchen stillen Mineralwassers dabei ist. Aber das schmeckt lauwarm bald nach eingeschlafenen Füßen und neigt sich noch schneller dem Ende zu. Auf dem Markt auf dem Winterfeldtplatz, über den sich dichtgedrängte Menschenmassen schieben, gibt es hier und dort biologisch nachhaltige Säfte, pfälzische Weine und oberpfälzisches (biologisch nachhaltiges) Bier – doch nein, weiter, weiter, wir sind ja nicht zum Fressen und Saufen an die Spree gekommen. Apropos Fressen: Der libanesische Kichererbsenbrei, hier als die edle Variante des allgegenwärtigen Hummus angeboten, wird an einem adretten Stand aufgewärmt und mit Gewürzölen garniert, deren Duft auch dem charakterstarken Asketen das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Noch aber obsiegt der Verzicht, ebenso wie am Stand mit dem Lammgyros und dem mit den italienischen Leckereien in Öl und Essig. Glücklich ist das südliche Ende des Marktes erreicht, die dortigen Stände mit Esoterik-Kram sind eher interessant als lecker, und dann steht man in der Goltzstraße. Das bedeutet, dass nicht nur der Markt vorbei ist, sondern auch der Widerstand. Denn in der Goltzstraße reiht sich ein Restaurant an das andere, noch exotischer und noch gepflegter als die in der Maaßenstraße. Ganz vorne ein Perser, der Variationen von Linsengerichten so lecker und so günstig zubereitet, dass es gar nicht anders geht, als Platz zu nehmen, ein Berliner Pils zu schlürfen und ohne jede Zurückhaltung das Lamm mit den Erbsen zu futtern. Nachdem Durst und Hunger in ihrer schlimmsten Form gestillt sind, beobachtet der Besucher das Flanieren und bemerkt – erst jetzt – die sommerliche Leichtigkeit auf den Gesichtern aller Passanten. Ja, es ist Sommer in Berlin, da sollte es sich wirklich jeder nach Kräften gut gehen lassen.
Freilich verwandelt sich Berlin im Sommer keineswegs vom ächzenden Moloch zum Paradies auf Erden. Es ist allein die Zahl der schönen Augenblicke, die absolut und im Verhältnis zu den beschwerlichen Alltagsmomenten im Berliner Sommer sprunghaft ansteigt. Neue, sommerliche Beschwerlichkeiten kommen allerdings noch dazu. Unser nunmehr gelabter und geletzter Berlin-Tourist in der Goltzstraße merkt das schnell, wenn sie oder er nach dem Essen wieder zurück zum Hotel strebt. Um der schönen Rundtour willen, lenke der Tourist seine Schritte nicht etwa zurück zum Winterfeldtplatz, sondern weiter nach Süden, um dort an der Station Eisenacher Straße in die U7 einzusteigen und bis zum Adenauerplatz zum Ku’damm zurück zu fahren. Die Luft in der U-Bahn, nicht nur auf der ohnehin etwas anstrengenden Linie U7, ist stickig, die Stimmung gereizt. Die krassen Checker schlendern noch raumgreifender als sonst über die Bahnsteige und Treppen und schlagen in der endlich angekommenen Bahn noch mehr Krach. Dazwischen einer der unvermeidlichen U-Bahn-Musiker, dem die Hitze auch schon den Hirnkasten geröstet hat, obendrein zwei ökologische Fahrradfahrerinnen mit viel Körpergeruch und wenig Geschick beim Verladen ihrer Drahtesel. Auch das ist Berliner Sommer.
Überhaupt die Hitze und das Drückende: Der kontinentalen Kälte des Winters entspricht die ebenso kontinentale Hitze des Sommers. Verglichen mit anderen sommerheißen Regionen Deutschlands ist es wenigstens viel seltener schwül – aber wehe wenn! Dann kann sich binnen Kurzem ein Gewitter über der Stadt zusammenbrauen, in dem sich schließlich die ganze aufgestaute Hitze und, so mag es scheinen, der ganz aufgestaute aggressive Frust über das Zuviel an Sommer schlagartig entladen. Buchstäblich taubeneigroße Hagelkörner (kein Witz! der Hauptstadtkorrespondent war kurz davor, eines von den Dingern im Tiefkühler aufzubewahren zum Schrecken der Nachwelt) zerfetzen das Laub der altehrwürdigen Straßenbäume, die freilich schon Schlimmeres überstanden haben. Empfindlicher trifft es da schon die Berliner Kanalisation, deren Schwachpunkt übrigens nicht die öffentlichen Leitungen, sondern die Hausanschlüsse sind. In wenigstens einer kaum renovierten Mietskaserne jedes Kiezes verabschiedet sich dann anlässlich eines solchen Wolkenbruchs dann das Verbindungsrohr zum Abwasserkanal, so dass sich der ganze große Keller mit dem füllt, was im Sommer noch unangenehmer riecht als in kühleren Jahreszeiten.
Doch was soll’s? Erstens ist es ja eh nie ganz richtig gut, wie gesagt, zweitens geht der Gewitterregen so schnell wieder vorbei, wie er gekommen war und drittens hat der Berlin-Tourist, am Nachmittag wieder glücklich in seinem klimatisierten Hotelzimmer angekommen, in der Hauptstadt keinen Keller, um den sie oder er sich Sorgen machen müsste. Vielmehr heißt es noch ein wenig abwarten bis die Regennässe von Straßen, Gehsteigen und Bänken weggedampft ist, und dann nichts wie raus in die seidene, vom Gewitter gereinigte Luft des frühen Abends. Auf dem Ku’damm genauso wie auf allen anderen großen Straßenzügen, leuchtet die Stadt jetzt in Farben, die an französische Impressionisten erinnern. Die Blätter, die der Hagel nicht zerfetzt hat, machen die Farbtupfer aus, die zu großen Flächen lebendigen Grüns verschmelzen. Durch dieses Grün hindurch strahlen die satten Farbtöne der Fassaden, an nicht so schönen Stellen im Grau und Chrom moderner Gebäude, an den schöneren Ecken in den pastellartigen Farben der stuckverzierten Häuser. Darüber das sich vertiefende Blau des Himmels und die verwehenden Schleier der nur noch wenigen Wolken. Farben sind das, die noch nachleuchten, wenn der Besucher die Augen schon geschlossen hat.
Was nun unternehmen in all dieser sommerlichen Pracht? Das ist schwierig und leicht zugleich. Es gäbe ja so viel, was zu tun und zu sehen wäre, aber die Zeit drängt, beim Besucher genauso wie beim Einheimischen. Da hilft nur radikale Entspannung. Alles ist schön im Berliner Sommer, was im Freien unternommen werden kann. Das Picknick im Tiergarten, warum nicht auch eine Bootsfahrt, oder mit dem Buch in der Hand auf die Bank im Schlosspark. Etwas weniger alltäglich sind dann Events wie Live-Übertragungen allfälliger Sportveranstaltungen vor dem Brandenburger Tor oder auch der Karneval der Kulturen in Kreuzberg. Nur draußen sollte es stattfinden, unbedingt unter dem freien Himmel über Berlin.
Viel Spaß also bei was auch immer irgendwo da draußen – und bis denne!
Hinweis des Hauptstadtkorrespondenten an den Leser
Soviel also zum Sommer in Berlin. Der geht, wie kaum anders zu erwarten, irgendwann natürlich in einen Herbst über. Das wie dieses Übergangs ist in Berlin allerdings schon der Rede wert - in der nächsten Korrespondenz, versteht sich. À bientôt, C.