Ein wenig genervt legte Nora ihre Wäsche in den Spint der Duschräume. Den Kittel hatten die beiden Frauen schon zuvor gesondert abgeben müssen. Die wurden wahrscheinlich bereits durch die Zentralreinigung des Gebäudes gejagt, zusammen mit vielen anderen Kitteln. Auch andere Mitarbeiterinnen hatten sich zu dieser Stunde eingefunden, denn auch ihr 8 stündiger Arbeitstag war vorbei.
An dieser Stelle erlaube ich mir mich wieder erklärend einzumischen. Diese 8 stündige Arbeitsschicht ist keineswegs nur bestimmten Berufsgruppen vorbestimmt. In der Tat arbeitet jeder Arbeiter, egal was er macht, täglich nur 8 Stunden. Wieso das?
Nun, es hat in der Tat einen tieferen Sinn, wie alles in der neuen gesellschaftlichen Ordnung. Einerseits kann man so einen reibungslosen Betrieb aller Institutionen erreichen, ohne dass man den Menschen zu sehr überanstrengt. Hier folgt man Marx, indem man feststellt, dass der Mensch zur Herstellung, in einer perfekten Gesellschaft, nur 8 Stunden des Tages seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen muss. Dies ist korrekt, denn durch die Beschränkung der Bevölkerungszahl und den technischen Möglichkeiten in Verbindung muss man feststellen, dass eigentlich selbst so zu viel produziert wird. Was dies für die Wirtschaft an sich bedeutet möchte ich an anderer Stelle erläutern, also gedulden Sie sich bitte, geneigter Leser.
Da man nicht länger arbeiten muss, aber kürzere Arbeitszeiten ein zu hohes Maß an freier Zeit schaffen würden einigte man sich schließlich auf die Regelung der 8 Stunden, übrigens sehr zum Unmut der Industriestaaten, die, noch beherrscht vom kapitalistischen Wirtschaftsden-ken, in der Regelung eine zum Scheitern verurteilte Utopie sahen. Die Übung der letzten Jahrzehnte hat diese These widerlegt und die kritischen Stimmen vollkommen verstummen lassen.
Die Verfechter der noch kürzeren Arbeitszeiten haben indes erkannt, dass man dann zwar keine Eindämmung der Überproduktion erreichen kann, zudem die Grenzen der Kapazitäten an freien Arbeitskräften bedenklich schnell erreicht werden und die zu große unverplante Zeit ein Faktor ist, der der gesamtgesellschaftliche Ordnung nicht dienlich ist.
So bleibt man nach ganz herrschender Meinung bei den 8 Stunden und ist damit zufrieden.
Und nun wieder zurück zur Handlung.
„Schatz, was hast du denn?“, fragte Johanna besorgt, die sich gerade das Badetuch um den Körper legte.
„Ach, überhaupt alles. Diese hochnäsige Schnepfe bei den Neuen. Wie die die Nase hoch getragen hat. Und dann die Frage nach dem Nutzen des Ganzen. Ich frage mich ehrlich, wie solche Leute überhaupt durch das Leben kommen. Ich meine, das sind gesellschaftliche Grundsätze, die man einfach wissen sollte. Wir sind doch beide keine Juristen, die sich damit hauptberuflich beschäftigen, aber mal ehrlich, solche Sachen weiß man doch“, beschwerte sie sich, während sie zu den Duschkabinen gingen.
„Nora, jetzt mal Hand aufs Herz. Das ist es doch nicht, ich meine, das kann doch nicht der Grund für deine Missstimmung sein“, analysierte ihre Freundin, während sie beiden den Hahn aufdrehten und es den Körper hinunter fließen ließen. Zuvor hatten beide das Sprachloch geöffnet, welches man bei Bedarf nutzte um mit dem Duschnachbar ungestört reden zu können, denn die Kabinen waren vollkommen geschlossen und schalldicht. Ein großer Abzug über ihnen verhinderte, dass sich Feuchtigkeit in den Duschen ansammelte und so Schimmel bilden konnte. In jeder Dusche stand eine Flasche mit Dusch- und Haarwaschgel, dass jedes Unternehmen seinen Mitarbeitern, kostenlos, zur Verfügung stellte. Auch dies war ein weltweit eingeführter hygienischer Standard, der, nach stadttypischen Besonderheiten, erweitert werden konnte, aber niemals unterschritten werden durfte.
Nora Teichmann stöhnte.
„Also schön. Ja, es ist nicht nur das, der Grund ist Benny.“
„Dein Freund?“
Schweigen war die Antwort.
„Der arbeitet jetzt immer länger, seitdem er Abteilungsleiter geworden ist. Wir haben jetzt einen geringfügig größeren finanziellen Spielraum, was sehr schön ist. Aber ehrlich gesagt macht da allein nicht glücklich. Ich komme nach Hause und er ist da. Aber er nimmt mich nicht in die Arme, er küsst mich nicht. Er grüßt kurz und vertieft sich in seine Bücher und arbeitet weiter. Johanna, ich habe das so satt!“
„Wie viele Monate habt ihr noch?“, fragte sie, während sie ich einseifte.
„Was?!“
Offensichtlich begann Nora zu weinen.
„Ich wollte wissen wie viele Monate ihr noch habt, bis du mit ihm auseinander gehen kannst.“
„In einem Monat haben wir unser 2-jähriges Jubiläum. Aber darum geht es nicht, ich liebe ihn ja, aber anscheinend er mich nicht so sehr, wie er seine Arbeit liebt. Er hat 8 Stunden, dann macht er seine gemeinnützige Beschäftigung. Klar, manchmal sitze ich auch noch über einem Aufsatz, aber das hält sich in Grenzen. Aber er! Er sitzt nur über irgendwelchen Sachen! Neulich hat Benny sogar im Bett ein Buch gelesen! Johanna, im Bett! Das ist doch unanständig!“, beschwerte sie sich lautstark. Zum Glück waren die Kabinen schalldicht.
„Nora. Wir duschen jetzt und dann gehen wir Tennis spielen, wie jeden Montag. Das wird schon wieder“, konnte Dr. Niedermeyer bloß antworten und ließ sich dann wieder das Wasser über den Körper laufen.
Wenn man doch bloß alle Sorgen einfach abwaschen könnte, wenn es immer dieses heilende und reinigende Wasser gäbe, dachte sie bei sich. Dann entstiegen beide der Dusche, Nora hatte sich wieder gefangen. Wortlos traten die beiden unter die Wärmestrahler und zogen sich an, als sie vollständig getrocknet waren.
„Fahren wir mit der Straßenbahn?“, fragte Nora wie üblich. Es war eigentlich eine sinnlose Frage, denn in allen Städten gab es fast nur Straßenbahnen als Fortbewegungsmittel. Erst in beruhigteren Bezirken dieser Städte waren Automobile von Nutzen. Doch beide lebten in diesem Ballungsgebiet, also war eine andere Fortbewegung nicht denkbar, außer sich zu Fuß fort zu bewegen.
„Auf einem Besen reiten wir bestimmt nicht!“, antwortete ihre Freundin lachend, während sie sich das Kleid überzog. Beide betrachteten sich eingehend. Sie hätten von der Arbeit auch direkt zu einem Galaempfang gehen können, so schön war ihre Garderobe heute. Ãœber diese Eingebildetheit mussten beide laut lachen, dass sich die anderen Frauen bei den Spinten nach ihnen umdrehten. Â
Â
Wenige Minuten später bewegten sich die beiden durch eine der großen tennishallen von Berlin. Der Flachbau mit dem halbrunden Dach bot Platz für 500 separate Courts. Durch feste Wände waren die einzelnen Spielfelder voneinander abgetrennt. Wie immer drängelten sich ein paar Personen ungeduldig am Eingang herum, weil sie ihre Zeit, die sie zum Nutzen der Gemeinschaft aufbringen sollten, nicht mit langen Wartezeiten verderben wollten.
Hier sei eine kurze Erklärung eingefügt. Sie werden sich bereits gefragt haben, wie man mit so viel Tagesfreizeit umgehen kann. Nun, die freie Zeit wurde, zum Wohle der Gesellschaft, stufenweise, weiter beschnitten. Es gibt nach Arbeitsschluss für alle mehrstündige Veranstaltungen an jedem Tag in denen man sich selbst einbringt und auch der Gesellschaft einen Dienst tut. Diese Möglichkeiten sind mannigfaltig, jedoch suchen sich viele einen ganz bestimmten Wochenrhythmus aus und gehen dann jeden Tag immer genau der vorgesehenen Tätigkeit nach. Das Fernbleiben solcher Veranstaltungen wird registriert und führt zu Abmahnungen. Nach 3 Abmahnungen wird man für einen Monat suspendiert und in eine „Besserungsanstalt“ gebracht. Bisher ist jeder, der dort war, als ein besseres Glied der Gesellschaft herausgekommen. Natürlich gibt es solche Veranstaltungen auch für Gruppen, die nachts arbeiten, ebenfalls jeden Tag, aber verständlicherweise zu anderen Zeiten als die Tagarbeiter.
Nun wird sich aber trotzdem noch die Frage aufdrängen, wieso das spielen von Tennis, oder allgemein eine sportliche Tätigkeit ebenso positiv auswirken soll, wie Kinderbetreuung oder das Unterstützen von Senioren. Sportliche Tätigkeiten, das verwundert in der ratio selbst nicht, sind sogar ausdrücklich gefordert. Einmal in der Woche soll man einer sportlichen Tätigkeit für die Gesellschaft nachgehen. Denn Sport fördert die eigene Gesundheit, aber gleichzeitig auch die Gesundheit der Gesellschaft. Und eine gesunde Gesellschaft ist besonders beständig und langlebig, demnach ist auch dies gesellschaftsdienlich.
Lässig gingen sie an den Wartenden vorbei und zeigten ihre Pässe. Durch einen gesonderten Eingang gelangten sie sofort zu den Umkleideräumen.
Nachdem sie ihre Sportsachen übergeworfen hatten, die weißen Hemden, die kurzen Tennisröckchen und die Schuhe mit den nicht abfärbenden Gummisohlen begaben sie sich zu ihrem reservierten Court.
Dabei beobachteten sie durch Hochsicherheitsglas wie bereits andere Paare oder gar Vierergruppen dem weißen Sport nachgingen. Das Tenniscenter war jeden Tag vollständig gefüllt. Tennis war ein äußerst beliebter Sport.
In ihrem Raum angekommen schnappten sie sich die bereitgelegten Schläger und die Filzbälle und spielten sich erst einmal locker die Bälle zu.
„Sag mal Johanna, wie ist das eigentlich mit dir und Chris gelaufen?“, fragte Nora, während sie ihren Schlagarm aufwärmte.
„Ach, wie immer. Abendessen, bei mir gewesen, im Bett und festgestellt, dass er doch blöd ist. Also keine Beziehung, fertig.“
Nora seufzte.
„Ich weiß nicht, Schätzchen. Du solltest doch langsam mal nach jemandem Ausschau halten, mit dem du eine Beziehung beginnen kannst.“
Johanna versuchte einen Aufschlag und war mit dem Ergebnis zufrieden.
„Ich hatte doch schon welche.“
„Ja, aber die hielten nie länger als nötig“, warf ihr Nora vor.
„Also bitte, nur weil du es mit Gerhard 8 Monate ausgehalten hast und nicht 6“, kam es ungerührt von ihren Lippen.
„Du kennst doch die Regel. Innerhalb von 24 Stunden zweimal treffen und die Beziehungsuhr beginnt zu laufen!“
Nora schlug auf, nachdem sich die beiden Frauen in Position begeben hatten. Johanna antwortete mit einem flachen Schlag, der nur knapp hinter dem Netz aufkam, welchen Nora ihrerseits quer auf die andere Seite spielte, so dass Johanna ihn nicht mehr erreichen konnte.
„Ja, weiß ich. Bis zum 16. Lebensjahr interessiert sich kein Schwein dafür, ob und wie lange du eine Beziehung hast.“
Nora knallte den Aufschlag ins Netz.
„Süße, da ist man ja auch noch nicht unbedingt soweit um so etwas wie eine Beziehung dauerhaft zu führen, zumindest die Herren nicht, wobei ich das bei denen auch in späteren Altern bezweifle.“
Beide mussten lachen.
Der nächste Schlag ging über das Netz, aber zu weit.
„Natürlich. Aber ab dem 16. Geburtstag passen plötzlich alle auf, mit wem du wie oft zusammen bist. Und dann geht es los. 2 Monate mindestens zusammen sein bis man 19 wird. Von da an 6 Monate, nach dem 26ten 1 Jahr und mit 30 plus sind es dann 2 Jahre. Nora, dass musst du mir nicht sagen. Da hatte ich schon genug Stress mit meinen Eltern wegen diesem Mist.“
Johanna schlug einen unerwiederbaren Aufschlag.
„Das ist kein Mist! Was ist denn der Sinn dahinter?“, imitierte ihre Freundin die hochnäsige Absolventin.
„Die Gesellschaft muss auf Stabilität gegründet werden. Nur durch stabile Beziehungen kann die Gesellschaft selbst stabil bleiben. Ständig wechselnde Partner sorgen für eine persönliche Unruhe, die sich negativ auswirkt. Um dem vorzubeugen erließ man diese moralischen Regelungen, die strafrechtlich nicht verfolgbar sind, aber zu gesellschaftlicher Missbilligung führen, sollte man sich ihnen dauerhaft widersetzen. Hab ich das schön aufgesagt?“, fragte Johanna Niedermeyer, die einen Schlag ihrer Freundin nicht erwider konnte.
„Perfekt! Eins plus!“, unkte Nora, die ihre alte Lehrerin imitierte. „Heil Bentham!“, rief sie aus, genau wie diese es dann immer zu tun gepflegt hatte, was alle Schüler, widerwillig natürlich, erwiderten.
„Ja, es hat schon seinen Sinn und seine Richtigkeit, aber weißt du, ich habe einfach diesen Man noch nicht gefunden. Und weißt du was ich glaube? Benny ist schon der Richtige für dich. Weißt du noch, wie er war, bevor er befördert worden ist? Da bist du doch praktisch auf Roten Rosenblättern gewandelt, die er für dich ausstreute. Klar, der Umbruch ist heftig. Aber lass ihn doch mal ein wenig Zeit, gib du ihm doch mal und bald wird er wieder der alte Romantiker sein, der er vorher war. Jede Beförderung bringt Extrastunden mit sich, weißt du doch, es war doch bei uns damals nicht anders. Außerdem“, begann Johanna und trat zu Nora ans Netz, „du erinnerst dich doch an Jimmy, deinen ehemaligen Freund. Als wir damals aufstiegen hast du auch Sonderschichte geschoben zu Hause und kaum war das Jahr um hatte er dich verlassen. Die Gründe waren wohl die Gleichen, die du jetzt Benny zur Last legst. Aber, das sage ich dir jetzt als Freundin und Außenstehende: ihr seid ein tolles Team. Die Klippe umschifft ihr doch bestimmt auch noch.“
Nora blickte sie lange an und zog sie dann fast über das Netz, als sie sie umarmte und auf die Wange küsste.
„Du bist eben doch meine beste Freundin! Was wäre ich doch ohne dich! Danke, du hast mir unglaublich geholfen!“
Vorsichtig, aber bestimmt, entwand sich Johanna dem Griff von Nora.
„So genug geredet. Lass uns endlich unserer gesellschaftlichen Pflicht nachkommen.“