Beschreibung
Es ist eine kleine Zeit vergangen, seitdem ich das letzte Mal korrespondiert habe, aber leider gibt es hin und wieder auch andere Dinge zu tun, als zu schreiben und zu veröffentlichen. So, jetzt soll es aber, nachdem ich die 20. Folge gefeiert habe, weitergehen. Mit Jahreszeiten. Also, denen in Berlin, versteht sich.
Berlin im Wechsel der Jahreszeiten
Eine ziemlich berlinerische und ziemlich erfolgreiche Band singt über Berlin sinngemäß, diese Stadt tue im Sommer gut und im Winter weh. Das ist gelungen formuliert, nicht nur weil sich „Spree“ so schön auf „weh“ reimt. Wer aus Gründen der Ganzheitlichkeit und Naturverbundenheit wert darauf legt, den Wechsel der Jahreszeiten ganz bewusst zu erleben, der kann dieses Erlebnis draußen „auf dem Land“ suchen – wo immer das noch sein mag im dicht besiedelten Deutschland – oder in Berlin. Wohnen in Berlin bietet gegenüber dem Wohnen auf dem Lande immerhin den Vorteil anderer Eindrücke als dem der wechselnden Jahreszeiten, dafür riecht es in der Stadt seltener nach Gülle und man muss nicht beim Schützenfest mitmachen, wenn man das nicht will. Und doch macht sich der Beginn des Winters in Berlin genau so gut bemerkbar wie, sagen wir mal: im Sauerland. Vielleicht sogar noch besser.
Zwei Faktoren dürften es sein, die vor allem dazu beitragen, dass in Berlin Frühling, Sommer, Herbst und Winter deutlich und unzweifelhaft voneinander zu unterscheiden sind: Erstens der in Berlin sehr starke Einfluss des kontinentalen Klimas und zweitens die hier schon vielfach als Berliner Besonderheit thematisierte Weitläufigkeit der Stadt. Das mit dem kontinentalen Klima ist etwas, was die Berliner immer im Munde führen, mit hörbarem Stolz. Einerseits sollte man das nicht zu ernst nehmen, schließlich liegt Berlin nicht in Sibirien, sondern kaum zweieinhalb Autostunden von der Ostsee entfernt. Andererseits kommt es auf die Entfernung zur Ostsee fürs Klima kaum an, denn unser Wetter kommt in der Regel aus Westen, und ab der Atlantikküste hat es eine weite Strecke bis Berlin vor sich, auf der sich die anfangs maritim milden Winde gehörig über dem europäischen Festland auskühlen können. Dreht der Wind ausnahmsweise einmal von West auf Ost, wird es noch kälter: Dann können polare Luftmassen nach Berlin strömen, ohne sich mit dem Stau an irgendeinem Gebirgen aufhalten zu müssen. In beiden Fällen, bei West- wie bei Ostwind kommen im Berliner Winter Bibbergefühle auf, die der an Mäßigung gewöhnte Deutsche schnell mit der Metapher „sibirisch“ zu beschreiben bereit ist.
Der zweite Faktor, die Weitläufigkeit der Stadt, tut zumal im Winter ein übriges dazu, dem Bewohner wie dem Besucher ein intensives Wettererlebnis zu bereiten. Die breiten und ewig langen Straßenachsen sind kein Hindernis für den eisigen Wind, sondern ideal Kanäle, in denen er so richtig Fahrt aufnehmen und noch kräftiger blasen kann als auf freiem Feld. Die großen Freiflächen mitten in der Stadt – der Tiergarten etwa oder das Tempelhofer Feld – lassen es nicht zu, dass sich die urbane Wärme aus Wohnungen und Autos länger hält. Der Neuköllner lebt, was den klimatischen Effekt angeht, deshalb nicht mitten in der Stadt, sondern an deren Rand. Und schimpft also über die Sch...-Kälte, die ihm erbarmungslos in die Knochen kriecht, wenn er auf Bus oder Bahn wartet, oder, schlimmer noch, aus einem der überheizten Fahrzeuge aussteigt.
Wobei der Augen- und Ohrenzeuge eines solchen Aufeinandertreffens von Klima und Stadt im Hinterkopf behalten sollte, dass der Begriff des „gefühlten“ Wetters wie gemacht ist für Berlin, vielleicht genau dort erfunden wurde. Der Berliner ist immer wieder überrascht von der Feststellung, dass seine Stadt bei aller Infrastruktur eben doch kein riesenhafter überdachter Wintergarten ist, sondern sich drinnen und draußen doch spürbar voneinander unterscheiden. Tritt der Berliner aus seiner großen Mietskaserne heraus, um sich auf den Weg zu machen zum Beispiel zum Einkaufen in einer der wunderbaren voll überdachten Einkaufsarkaden, dann trifft ihn die Wucht der Elemente unvorbereitet aber zuverlässig. Über die Selbstverständlichkeit, dass es im Winter nun einmal draußen kälter ist als drinnen, so kalt, dass Mütze und Schal nicht mehr modisches Accessoire sind, sondern wichtige Hilfsmittel im Überlebenskampf, über all das kann der Berliner schimpfen, als sei er nur knapp einer alpinen Lawine entgangen.
Aber nicht nur der legendär kalte und dunkle Berliner Winter ist gut spürbar, die anderen Jahreszeiten sind es auch. Denn auch ein Berliner Winter geht einmal zu Ende, nämlich in genau dem Augenblick, wenn der frierende, bleiche Hauptsdtädter schon aufgehört hat, daran zu glauben. Im Februar werden die Tage wieder merklich länger, lange Frostperioden machen Atempause und lassen einen Nieselregen zu, der auch nicht wärmer ist, als der im November, der aber nach dem Winter geradezu mild erscheint. Dann wird es doch noch einmal kalt, dafür aber auch wieder majestätisch sonnig, und in solcher Prachtbeleuchtung machen sich die Bäume im Charlottenburger Schlosspark bereit, die ersten Knospen zu treiben. Wenn es dann soweit ist, drei oder vier Wochen später, dann können die ersten warmen Tage kommen, an denen sich die vielen Terrassen der Restaurants schlagartig bevölkern. Noch sind die Bäume abgesehen von den zart grünen Knöspchen kahl, aber Weizenbier und Pommes und Steinofen-Pizza dürfen eine vorläufige Form der lange vermissten Düfte des Frühlings verbreiten. Das Gedränge in den Biergärten und auf den Restaurant-Terrassen ist gewaltig groß in diesen ersten warmen Tagen des Berliner Jahres, denn die Einheimischen wissen ganz gut, wie wenig verlässlich und wie kurz diese erste pseudo-sommerliche Pracht ist. Drei oder vier warme Tage, manchmal auch nur einer, und dann wird es wieder kalt und grau.
Aber der Frühling hat dann nun einmal Anlauf genommen, und es ist sein allerältester Trick und vielleicht der am stärksten abgenutzte Sensationseffekt der Schöpfung überhaupt, dass die Tage spätestens im April lang genug sind für einen warmen Sonnenuntergang. Dann kommen auch die Vormittage, an denen es sich – endlich wieder – lohnt, die Doppelfenster zum Innenhof weit zu öffnen und die Wärme und den aromatischen Frühlingsduft herein zu lassen. Draußen vor dem Fenster treibt der einzige Baum kräftig aus, schließlich hat er Luft und Licht ganz für sich allein. Im Angesicht solcher Blätterpracht hält es dann den Stubenhocker auch nicht mehr am Fenster, nein, er macht sich auf den Weg an einen der vielen Orte, an denen sich der Berliner Frühling vollendet genießen lässt – in einen der vielen Parks, zum Beispiel, von denen hier schon so viel die Rede war.
Diese Parks verwandeln sich gerade im beginnenden Berliner Frühling in einen zusätzlichen, nach dem langen Winter schon gar nicht mehr erwarteten Lebensraum der Städter, die sich – bei aller Liebe zur Stadt – immer beengt fühlen und immer nach Freiraum lechzen. Das ist das Gartenleben der Berliner, das ist ihr Grün zwischen viel Grau und Putz und Stein. Eigentlich sind sie Habenichtse, diese Mieter der Altbauwohnungen, denn sie beanspruchen im Grundbuch keinen Quadratmeter Freifläche als ihr Eigentum und auch ihr Mietvertrag überlässt ihnen keine einzige Blumenrabatte zur Nutzung. Doch mit Witz und weltanschaulicher Überhöhung – dies der Treibstoff der ganzen Berliner Gedankenwelt – wandeln die Berliner ihr Dasein als Habenichtse in eines von Fürsten und Königen. Sie betrachten ganz einfach die Gärten als ihnen gehörend, die früher Herrschern und Geldadeligen vorbehalten waren. Heute ist Eigentümerin die Stiftung preußischer Schlösser und Gärten. Eine liebe alte Tante ist das, die sich reizend und mit Hingabe um ihr viel zu groß gewordenes Gartenland kümmert, und das auch noch mit sehr kleinem Budget – und die trotzdem oder gerade deswegen im Frühling die Tore zu ihren Gärten weit öffnet und alle einlädt zum Spazieren und Verweilen, zum Picknicken und Kindergeburtstagfeiern, die Altbauwohnungen mögen aber ein bisschen Grün halt auch. Diese zahlreichen Gäste danken es der alten Tante nur wenig, dass sie sie so herzlich aufnimmt, einen Obolus geben sie ihr nicht für ihre Mühen, höchstens einmal dann und wann ein kleines freiwilliges Almosen. Der Frühsommer lockt schließlich immer wieder in die Gärten, da kann man nicht jedes Mal ein Zwei-Euro-Stück zücken.
So liegt man da auf einer wasserdichten Picknick-Decke, denn von unten her kann es immer noch empfindlich klamm sein. Mit ein wenig Glück döst man ein, und wenn man aufwacht ist es Sommer. Berliner Sommer. Was für ein Sommer! Den Wintertagen mit strengen Frostgraden entsprechen im Sommer Hitzewellen, in denen Temperaturen deutlich oberhalb von dreißig Grad Celsius ganz normal sind. Im Schatten, wohlgemerkt, und der ist auf dem Alex oder dem Gendarmenmarkt gar nicht so leicht zu finden. Denn in der Hitze strahlt majestätisch die Sonne, von früh morgens bis spät abends, von keiner Wolke gehindert, tagelang kann das so gehen. Irgendwann einmal, ja, das schon, braut sich ein Gewitter zusammen, doch das lässt sich Zeit. Wenn es losbricht, dann kann es die berühmten taubeneigroßen Hagelkörner setzen, doch das kündigt sich so rechtzeitig an, dass der Berliner es locker bis in seine angenehm kühle Altbauwohnung schafft und sich hinter dem Fenster am Spektakel erfreut und darüber, dass Eier von Tauben immerhin kleiner sind als von Straußen.
Der Sommer in Berlin ist also, von den Plagen der Hitze einmal abgesehen, eine einzige Freude. So viele schöne Biergärten und Terrassen-Restaurants, so viele Schwimmbäder, so viele Wälder und Parks, so viele Geschäfte zum Schaufenster-Gucken – kein Berliner Sommer ist lang genug, um alle Attraktionen der Stadt mitnehmen zu können. Zum Glück endet der Sommer nicht abrupt. Er kumuliert vielmehr in der vielleicht allerschönsten Jahreszeit der Stadt, nämlich im Frühherbst. Die Hitze ist dann abgeklungen, doch die Tage sind immer noch warm genug, um sie vollständig im Freien zu verbringen. Der Berlin-Marathon rauscht durch die Stadt, versehen fast schon mit einer Garantie auf sonniges Wetter, und die Berlinerinnen freuen sich darauf, die halb legere, halb elegant Herbstmode aus den Schränken zu zaubern. Endlich wieder Stiefel tragen können, ohne einen Hitzschlag zu riskieren, ach herrlich!
So angetan lässt sich der Übergang vom frühen in den eigentlichen Herbst gut meistern. Irgendwann allerdings fängt es an zu regnen und es hört dann in etwa zwei Wochen nicht mehr richtig auf. Dann ist der Sommer endgültig vorbei und das Laub fast vollständig von den Bäumen herunter. Der Winter ist da und er wird bleiben, drei oder vier Monate lang, mit Nachdruck. Wohl dem, der sich am Frühling, am Sommer und am Herbst sattgesehen hat und dem diese Erinnerungen in den kalten und dunklen Wintertagen leuchten.
Es wird ja wieder losgehen mit dem Reigen der Jahreszeiten, ganz bestimmt sogar, nur Geduld – bis denne!