In Berlin im Park: Tegler Schlosspark
Tegel, das ist ja nicht nur ein Berliner Flughafen, der eigentlich schon längst hätte geschlossen werden sollen und der nur wegen der märchenhaften Langsamkeit, mit der neue Großflughafen vorankommt, noch ein Gnadenbrot in der erlesenen Gesellschaft der ganz großen europäischen Flughäfen fristet. Weil freilich der Berlin-Reisende ebenso wenig Anlass hat, sich den Stadtteil Tegel anzusehen, wie jeder Flugreisende nicht auf die Idee kommen würde, irgendeinen namensgebenden Stadtteil oder Vorort zu besichtigen, weil also Tegel dasselbe Luxusproblem mit dem florierenden Flughafen hat wie jeder andere erfolgreiche Flughafen-Standort auch, steht der Flughafen pars pro toto für einen ganzen Stadtteil, der wie viele andere Berliner Bezirke eine kleine autarke Stadt in sich ist.
In Tegel freilich ist dieser Flughafen-Effekt deshalb so befremdlich weil erstes der Flughafen wirklich eher klein (und einfach nur unglaublich überlastet) und die Tradition und Geschichte Tegels eher groß und jedenfalls viel älter als die des Flughafens ist. Tegel entstand als Ortschaft schon im Mittelalter. Über Jahrhunderte hinweg durchlief der Ort, dessen Name vermutlich etwas mit der seltsamen Form des dortigen Havel-Sees zu tun hat, eine wechselhafte Geschichte. Die Nähe zu Spandau tat Tegel nicht gut, der Dreißigjährige Krieg noch weniger. Der Aufschwung kam im frühen neunzehnte Jahrhundert und dann ganz besonders durch die Anbindung an die nahe Residenzstaat Berlin mit der Eisenbahn.
In der großen, leider schon seit einiger Zeit vergangenen Tradition Berlins als Industriestandort, namentlich für den Maschinenbau, nahm Tegel eine herausgehobene Stelle ein. Der Firmenname Borsig ist, nicht erst seit dem Untergang des gleichnamigen Konzerns, nur noch als Erinnerung in Tegel vorhanden. Mit den „Borsigwerken“ ist heute ein schön hergerichtetes Viertel mit attraktiven Büro- und Wohnflächen gemeint. Die Wohnflächen übrigens verdanken einen erheblichen Anteil ihres Wertes der Erwartung, bald werde der Flughafen geschlossen und es mit dem in Tegel doch wahrnehmbaren Fluglärms vorbei sein. Hoffen wir für die Bewohner dieses beschaulichen Stadtteils das Beste, wenngleich wir als Flugreisende natürlich egoistisch genug sind, um uns jeden Monat mehr zu freuen, in dem wir eine nur ganz kurze Anreise bis Tegel haben und dort in unglaublich kurzer Zeit in unsere Flüge in die ganze Welt einchecken können. Nun, man wird sehen.
Einen ruhigen, friedlich vergessenen Ort bietet Tegel aber schon jetzt, und weil es in dieser Korrespondenz noch einmal um einen Berliner Park gehen soll, sind wir überhaupt nur wegen dieses ruhigen Fleckchens nach Tegel gekommen. Die Rede ist vom Tegeler Schlosspark. Ruhig deshalb, weil er so gut wie gänzlich unbekannt ist in den marktüblichen Reiseführern und weil sich deshalb so gut wie keine Touristen dorthin verirren. Das wiederum mag seinen ganz einfachen Grund darin finden, dass der Tegeler Schlosspark versteckt liegt – so gut, wie man einen ganzen Park eben verstecken kann.
Es gibt jedenfalls keinen repräsentativen oder überhaupt nur zweifelsfrei erkennbaren geschweige denn ausgeschilderten Eingang in den Park. Der Besucher muss sich vielmehr ein Herz fassen und ein wenig Abenteuerlust und Entdeckermut dazu, um den Park zu finden. Vor allem gilt es ein Schild zu ignorieren, das den Reisenden darüber aufklärt, dass der dahinter liegende Weg nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei. Genau diesen Weg muss der Reisende nämlich wählen, um um das Tegeler Schloss herum und schließlich in den Park zu gelangen. Warum dann aber dieses Schild über den nicht-öffentlichen Charakter des Weges? Und warum hat der durchaus kundige Reisende noch nie von einem Tegeler Schloss gehört und deshalb, anders als bei Charlottenburg, Sanssouci oder sogar beim vormaligen Stadtschloss überhaupt kein Bild des Tegeler Schlosses vor Augen?
Beide Rätsel finden eine einzige Erklärung: Das Tegeler Schloss befindet sich schon seit jeher in Privatbesitz und wird von seinen privaten Eigentümern auch bewohnt. Das bedeutet, dass interessierte Reisende mit höflicher Zurückhaltung geduldet aber keineswegs werbend angelockt werden. Außerdem, und nur deshalb kann es dieses Schloss überhaupt in Privatbesitz geben, handelt es sich nicht im eigentlichen um ein Schloss, sondern, selbst bei großzügiger Betrachtungsweise, um einen Herrensitz, allerdings um einen ziemlich sehenswerten.
Das Tegeler Schloss wurde schon im 16. Jahrhundert erstmals errichtet, damals natürlich noch als Renaissance-Herrenhaus. Im 18. Jahrhundert gelangte es in den Besitz der Familie derer von Humboldt. Ja, genau die Humboldts, die beiden berühmten Entdecker- und Forscherbrüder, Alexander und Wilhelm, lebten dort. Damals hatte das Schloss allerdings noch nicht seine heutige Gestalte, denn es wurde später nochmals umgebaut, und zwar im 19. Jahrhundert im Stil des Klassizismus, weswegen es nun dasteht, als habe sich ein Palais aus Mitte in einen Park in Tegel verirrt.
Vom Inneren des Schlosses wird der Reisende in aller Regel nicht viel zu sehen bekommen. Die Eigentümer öffnen es nur ganz selten für kleine Besuchergruppen, etwa für Humboldt-Abende, und auch dann nur für kleine Besuchergruppen. Denn die Eigentümer leben dort nicht nur, wie gesagt, sie arbeiten auch im Schloss selber und in einem der großzügigen Nebengebäude.
Der Besucher des Tegeler Schlossparks sollte sich über so viel exklusive Zugangsbeschränkung nicht grämen. Erstens muss sich der Besucher – ebenso wie der Hauptstadtkorrespondent selbst, der nur Berliner auf Zeit ist – damit abfinden, zu längst nicht allen sehenswerten Orten der Stadt Zutritt zu erhalten. Und zweitens ist es ja schon eine dankenswerte Freundlichkeit der Eigentümer an sich, den Schlosspark überhaupt für jedermann zu öffnen. Darüber belehren übrigens auch ein paar Aushänge, auf denen die Eigentümer um die Wahrung von Ordnung und gutem Benehmen bitten und sich vorbehalten, jeden hinaus zu komplimentieren, der sich nicht daran halten sollte; oder womöglich den Park gleich ganz und gar dicht zu machen, wen es ihnen, den Eigentümern, zu bunt wird.
Das Verrückte an diesem Zustand: es funktioniert! Der geneigte Leser möge sich einmal dreierlei ausmalen: Zum einen, dass er einen Garten, und zwar einen verdammt großen, mehrere Hektar umfassenden Garten hat. Eine schöne Vorstellung, oder? Gut, macht viel Arbeit, so eine Latifundie, dafür ist es auch kein langweiliges Hobby, zur Gartenarbeit so weit rauszufahren, dass das eigene Haus außer Sichtweite gerät. Des weiteren möge sich der Leser ausmalen, seine Familientradition gebiete es ihm, grundsätzlich jedermann zu gestatten, den Garten zu betreten, um dort spazieren zu gehen. Und das, obwohl die eigenen Vorfahren auch da draußen sind, nämlich am hinteren Ende des Gartens begraben, genau genommen beigesetzt in einer imposanten Grabanlage; und dafür von jedermann begafft, der dem Geheimtipp eines zweifelhaften Hauptstadtkorrespondenten folgt und den eigenen Garten besichtigt. Eine beängstigende Vorstellung, oder? Von den Freaks, die es in Berlin allerorten so gibt, wird noch zu reden sein, das ist wirklich ein ganz hübsches Gruselkabinett. Und diese Leute sollen einfach so im imaginären Garten des (hoffentlich nicht ganz so imaginären) Lesers umher laufen? Bloß weil es die Familientradition so will? Puh, dann vielleicht doch lieber eine andere Familie, und dann bitte ohne Schloss und Park und so. Schließlich versetze sich der Leser in die Lage, wie es wäre, wenn das Defilee der Besucher dezent ausfällt – und überhaupt nicht stört. Ganz einfach weil sich jeder gut benimmt, niemand Bierdosen mitbringt und auch kein einziger eine Hecke mit einem Camping-Klo verwechselt. Revolutionär, diese Vorstellung, und auch sehr ermutigend, nicht wahr? Aber, kein Scherz, genau so läuft es im Tegeler Schlosspark.
So gut können Menschen sich tatsächlich benehmen, wenn sie in den Park gehen, wer hätte das gedacht? Allerdings tut die Atmosphäre des Tegeler Schlossparks das ihrige dazu. Magisch ist diese Atmosphäre zu nennen, auch ohne die enthusiastische Übertreibung, mit der der Hauptstadtkorrespondent allem Schönen in Berlin gerne begegnet. Vom Tegeler Schlosspark aber geht eine friedliche Ruhe aus wie von keinem anderen Park in Berlin, ja, wie von vielleicht keinem anderen Ort in dieser großen Stadt. Gartenbaulich ist der Park eigentlich nichts Besonderes und mit einem Park wie Charlottenburg ungefähr so gut zu vergleichen wie das Tegeler mit dem Charlottenburger Schloss, bei Lichte betrachtet also so gut wie gar nicht. Charlottenburg, das ist eine Prachtentfaltung des aufgeklärten Absolutismus, Tegel ist hingegen Ausdruck zugleich großzügigen wie auch bescheidenen Glanzes des preußischen Adels in seiner besten Zeit.
An die Rückseite des Tegeler Schlosses schließt sich eine Abfolge großer Wiesen an, seitlich und am hinteren Ende eingerahmt von Hainen aus uralten und teils riesengroßen Bäumen. Während auf der rechten Seite (vom Schloss aus gesehen) ein einfacher Pfad zu Füßen einer kleinen, bewaldeten Anhöhe verläuft, geht der Weg auf der linken Seite durch eine Doppelreihe alter Laubbäume hindurch. Ein ganz seltenes Beispiel für eine Allee, die allein dem Lustwandeln dient und ganz bestimmt nicht als Schmuck einer veritablen Straße. Ein Weg ist das, der zum gemessenen Auf- und Abschreiten einlädt, und der moderne Stadtmensch mit Handy in der Hosentasche und elektronischem Kalender im Büro wünscht sich Zeit und Gelegenheit, einmal in ein anregendes, Ideen gebärendes Gespräch verwickelt zu sein und dabei peripathetisch diesen Weg entlang zu gehen. Ein Wunschtraum, leider.
Ach ja, an einer Stelle wird diese Denker-Allee von einem Pfad, der bei Bedarf durch einen verlegbaren Drahtzaun abgetrennt werden kann. Dort wird nämlich ab und zu Vieh von der Weide eines benachbarten Bauernhofs auf eine Weide inmitten des Parks getrieben. Preußische Pracht hat eben auch immer etwas sehr Handfestes an sich. Weil der Besucher des Tegeler Schlossparks in fast allen Fällen weder Landwirt noch Philosoph ist, bleibt diese Allee für ihn eine interessante – und schöne – Kuriosität. Sie ist nicht die einzige in diesem Park.
Die andere Kuriosität und eigentliche Sehenswürdigkeit des Parks befindet sich an dessen ganz hinterem Ende, noch hinter dem rückwärtigen Hain, der die Folge von Wiesen abschließt. Denn dort hinten, im friedlichsten Winkel des ohnehin schon überaus friedlichen Parks, befindet sich die Grablege der Familie Humboldt. Ja, die Einladung zu der Vorstellung, wie es wäre, die eigenen Vorfahren im Garten und beschaut von vielen Besuchern zu wissen, entsprang keiner krankhaften Phantasie des Hauptstadtkorrespondenten. Genau so verhält es sich im Tegeler Schlosspark. Bis der Besucher allerdings bis zur Grablege gelangt, ist er lange und weit genug durch den Park geschritten, um in eine feierliche Stimmung zu kommen. An der Grablege selber verweilen die Besucher dann wie von selbst andächtig und denken sich bei dem klangvollen Namen der Humboldts so dies und das. Ob es stimmt – ist auch egal, denn wahre Andacht ist schließlich kein Geschichtsunterricht.
Dann geht es zurück durch die Allee und der Besucher weiß, dass es sich in Berlin manchmal lohnt, unbekannte und gar als nicht-öffentlich gekennzeichnete Wege zu gehen.
Aber sonst ist hier alles öffentlich und eindeutig als Touristen-Attraktion gekennzeichnet. Sie werden schon sehen – bis denne!