Beschreibung
Das Buch / eBook: Perfekt defekt oder ein perplexes Paradoxon ist unter meinem Pseudonym Johanna S. Bach veröffentlicht
Es war September geworden, genau genommen der 16., also mein unausweichlich letzter Arbeitstag. Bis zum Geburtstermin waren es nur noch wenige Tage, die ich in Ruhe genießen wollte. Tatsächlich hatte ich nun keine Lust mehr zum Arbeiten und brachte zum Abschied noch einen Kuchen für meine Arbeits-Kollegen mit. Mein Leben war in Ordnung, mein Geldbeutel stimmte und warum sollte ich in meinem Zustand nicht auch einmal Nichts tun? Das vor mir liegende Wochen-ende wollte ich ganz allein meinen Mann widmen. Wir frühstückten im Bett und genossen jede Minute, so als ob es unsere Letzte sein könnte. Wir nahmen mit einer Schnur meinen Bauch Maß und waren erstaunt, dass dieser stolze 109 cm Umfang hatte. Kein Wunder, die Waage zeigte 67 kg, rund 20 kg mehr als vor neun Monaten. Bei einer Körpergröße von 1,57 cm kam ich mir kugelrund vor und ich glaube, wenn ich umgefallen wäre, hätte man mich rollen können. Doch Spaß beiseite, mein unheimlicher Appetit auf Hamburger musste ja irgendwo sichtbar werden. Dass Schwangere unmögliche Gelüste entwickeln ist ja bekannt, bei mir waren es eben diese Dinger. Dieses Wochenende hatten wir auch endlich genug Zeit, uns endlich auf einen Namen für unseren Sohn zu einigen. Mein Favorit war Johann Sebastian, wobei Abol eher den Namen Siegfried oder Philip bevorzugte. Als ich dann alle mir bekannten Persönlichkeiten aufzählte, blieben meine Worte bei dem Vornamen Viktor hängen. Irgendwie schien uns der Namen gleichermaßen zu gefallen und so entschieden wir uns für Viktor, mit „k“. Was ja auch „der Siegende oder Sieger“ bedeutet und uns äußerst treffend erschien. Denn er war ja der eigentliche Grund, warum unser Leben nun einen gemeinsamen Nenner hatte und sich alles zum Guten wendete. Viel zu schnell vergingen die Stunden dieses Wochenendes, unser wahrscheinlich letztes geruhsames zu Zweit. Schließlich sollte in ein paar Tagen der Geburtstermin unseres Babys sein. Nachdem Abol an diesem Montagmorgen zur Arbeit gefahren war, wollte ich den letzten Untersuchungstermin beim Frauenarzt hinter mich bringen und machte mich auf den Weg. Keuchend quälte ich mich aus meinem Auto und schleppte mich die Treppenstufen zur Arztpraxis hoch. Dass es allen hochschwangeren Frauen so ginge, war für mich ein kleiner Trost. Doch bald hätte ich es ja hinter mich, redete ich mir tapfer ein und nahm auf dem Untersuchungsstuhl des Arztes Platz. Wegen der Kälte des Ultraschallgels zuckte ich kurz zusammen und spürte, dass es auch Viktor nicht mochte. Mit einem kräftigen Tritt gegen meine Bauchdecke machte er sich bemerkbar, so kräftig, dass man es deutlich sehen konnte. Der besorgte Gesichtsausdruck meines Arztes ließ vermuten, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein musste. Er zeigte mir auf dem Monitor, dass Viktors Köpfchen noch immer nicht im Geburtskanal war, obwohl sich dies normalerweise schon seit einiger Zeit dort befinden sollte. Auch würden die Maße des Kindes nicht altersgerecht sein und er wäre der Auffassung, dass ich sofort ins Krankenhaus müsste. Er schrieb mir einen rosa Einlieferungsschein für die Klinik aus und riet mir, unbedingt mich in-nerhalb der nächsten zwei Tage dorthin zu begeben. Dort sollte ich unter Überwachung die Geburt meines Babys einleiten lassen. Diese Tatsache machte mir Angst. Wie viele Gruselgeschichten über Geburten hatte ich mir in den letzten Wochen, vor allem bei der Schwangerschaftsgymnastik, anhören müssen? Bei diesen Geburtsvorbereitungskursen gab es natürlich auch Mütter, die schon mehrere Kinder geboren hatten und die erzählten, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Genauso übrigens meine eigene Mutter! Anstatt mir Mut zu machen und mir die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen, betonte sie mit Nachdruck immer wieder, dass man bei einer Geburt denken würde vor lauter Schmerzen zu sterben. Beruhigende Vorstellung oder? Natürlich hatte ich Angst, doch bisher dachte ich, dass meine Furcht immer noch Zeit hatte und hob sie für später auf. Doch nun war unweigerlich der Termin gekommen und mir lief es heiß und kalt den Rücken hinunter. Am liebsten wäre ich davongelaufen, doch das wäre die ungeeignetste Lösung, die sich mir bieten würde. Also atmete ich tief durch und versuchte, bei meiner Heimfahrt einen klaren Gedanken zu fassen. Plötzlich fielen mir wieder diese grauenhaften Zahnarztbehandlungen ein, die ich am Beginn meiner Schwangerschaft überstehen musste. Da der Arzt über meinen Zustand informiert war, musste ich ab diesen Zeitpunkt im Wohle meines Kindes auf Betäubungsspritzen verzichten. Eine meiner letzten Sitzungen blieb mir lange in Erinnerung. Dabei wurde eine Wurzelbehandlung durchgeführt, wobei mir bei vollem Bewusstsein und ohne Betäubung die drei Zahnnerven gezogen wurden. Für einen Sadisten das Höchste der Gefühle! Jedoch für mich ein absoluter Albtraum. Gut, dass ich das schon hinter mich gebracht hatte. Was ich nun vor mir hatte, konnte gar nicht so schlimm werden, dachte ich um mich selbst zu beruhigen. Meine Furcht spülte ich bei einer guten Tasse Kaffee hinunter und wartete auf das Eintreffen meines Mannes. Am Abend erzählte ich Abol, dass ich in den nächsten zwei Tagen in die Klinik sollte, verschwieg ihm aber die Aussage des Arztes. Erstens wollte ich ihn nicht unnötig beunruhigen und zweitens glaubte ich sowieso, dass mein Baby kräftig genug sei. Anhand meines Bauchumfanges musste dies einfach so sein, basta! Diesem Arzt stand ich sowieso mit Misstrauen gegenüber und zweifelte seine Diagnose an. Als ich mir den rosa Einlieferungsschein ansah und „Kopfumfang entspricht der 33. Schwangerschaftswoche“ lesen konnte, legte ich ihn kopfschüttelnd beiseite und beschloss, mich nicht verrückt machen zu lassen. Trotzdem musste ich mir irgendetwas einfallen lassen, damit die Wehen auf natürliche Weise einsetzen würden. Denn eine künstliche Einleitung einer Geburt wollte ich auf keinen Fall. In meinen vielen Schwangerschaftsratgebern fand ich dann die Lösung, die mir am Geeignetsten vorkam. Meinem Mann erzählte ich, dass ich bevor wir in die Klinik gehen würden, noch einmal baden wollte. Dieser hatte sich ab heute, dem 20. September, Urlaub genommen und war ja jederzeit in meiner Nähe, falls ich ihn brauchen sollte. Also ließ ich mir am Dienstagnachmittag gegen 15 Uhr Badewasser ein und genoss die Wärme des nachlaufenden Wassers. Richtig zeremoniell schwofte ich in diesem Element, bei leiser Hintergrund-Musik, gemütlich einen Vitaminsaft schlürfend. Auch Viktor schien sich im heißen Bad wohl zu fühlen, denn seine Bewegungen waren von geschmeidiger sanfterer Natur. Nach ungefähr einer halben Stunde bemerkte ich, wie sich mein Bauch ungewöhnlich hart anfühlte und ahnte, dass es nun bald soweit sein würde. Dieses Zusammenziehen der Gebärmutter-Muskulatur konnten nur Wehen sein. Der Druck war vergleichbar mit einem Muskel-krampf, nur dass mir für Bruchteile von Sekunden die Luft wegzubleiben schien. Die ersten Kontraktionen schmerzten ähnlich wie beim Beginn meiner Menstruation, die ich mit der richtigen Atemtechnik gut kontrollieren konnte. Siegessicher stieg ich aus der Wanne, denn die hatte ja ihren Zweck erfüllt. Abol hatte mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen und reichte mir mein Handtuch. Beim Abtrocknen bemerkte ich, dass sich im Handtuch Blut befand, welches von dem gelösten Schleimpfropfen stammte. Nachdem ich mich telefonisch mit meiner Hebamme kurzgeschlossen hatte bestätigte sie mir, dass dies die ersten Anzeichen von einer Geburt wären. Dieser Pfropfen verschließt während der Schwangerschaft den Muttermund und löst sich erst zu Beginn einer Entbindung. Sie meinte, dass es bei Erstgebärenden durchaus länger dauern könnte und wir nun die Abstände zwischen den Wehen beobachten sollten. Sie würde sich dann wieder bei uns melden und vorbeischauen, um mich zu untersuchen. Nachdem ich es mir auf der Wohnzimmercouch gemütlich gemacht hatte, spürte ich genau dieselbe Kontraktion wie vor ca. 30 Minuten. Diesmal jedoch kam mir der Schmerz eindeutig stärker als im Wasser vor, aber ich atmete genauso, wie ich es bei der Gymnastik gelernt hatte. Puh, geschafft, diese Wehe war vorbei! Abol hielt verkrampft seine Uhr fest und wollte die Zeit bis zur nächsten Wehe stoppen. Er redete beruhigend auf mich ein und versprach mir, jede Minute auch im Krankenhaus bei mir zu bleiben. Obwohl das bis dahin in den Sternen stand, fiel mir ein Stein vom Herzen, denn ich war erleichtert, dass er in meiner schweren Stunde bei mir sein würde. Ungefähr halbstündlich wiederholten sich meine Wehen bis 21 Uhr. Wir hofften beide, dass es unser Baby bald geschafft hätte. Aber da sollten wir uns gewaltig täuschen! Die nächste Wehe, die mich schon nach 10 Minuten überrollte, war so gewaltig, dass ich mich sehr verkrampfte. Niemals zuvor hatte ich geglaubt, dass eine Frau freiwillig derartige Schmerzen aushalten würde. Nun wurde mir klar, dass mir niemand dabei helfen konnte, ich war allein in diesem „Marathonlauf“. Inzwischen suchte uns die Hebamme auf und erkundigte sich nach mir. Nach einer gründlichen Untersuchung und Beobachtung der nächsten Wehentätigkeit antwortete sie mir, dass sich mein Muttermund erst 1 cm geöffnet hätte. Das Ganze würde sich bestimmt noch länger hinziehen und vor Morgenfrüh würden wir noch nicht mit unserem Baby rechnen können. Deshalb würde sie in einigen Stunden wieder nach mir sehen und versuchte, mir etwas Mut zu zusprechen. Wie ich diese Schmerzen stundenlang aushalten sollte war mir ein Rätsel. Die ganze Vorfreude auf ein Baby schlug für einen Gedanken ins Gegenteil um und ich empfand Groll und Hoffnungslosigkeit. Weil sich aber der Verlauf einer Geburt in diesem Stadium nicht mehr aufhalten lässt, versuchte ich meinen ganzen Mut zusammen zu nehmen und tapfer weiter zu kämpfen. Schon lange brachte die Atemübung keine Erleichterung bei meinen Wehen mehr, obwohl mein Mann mit mir gemeinsam atmete. Der gewaltige Druck schien übernatürlich auf mich einzuwirken, der nun schon alle 5 Minuten wiederkam. Mittlerweile war es schon 3.00 Uhr morgens geworden, als endlich die Hebamme erneut eintraf. Sie bat mich bei der nächsten Wehe etwas weniger zu verkrampfen und versuchte mit beruhigenden Worten mit mir zu atmen. Mein Gott, diese Schmerzen waren so groß, dass sogar erlösende Tränen versagten. Ich hätte alles dafür getan, wenn ich endlich erlöst worden wäre. Keinen klaren Gedanken konnte ich mehr fassen und wollte nur noch meine Ruhe haben, oder einfach, dass mir jemand helfen würde. Meine Hebamme fühlte meinen unerbittlichen Kampf und entschied sich, in der Klinik Bescheid zu sagen. Nach unzähligen Wehen fuhr sie mit mir und Abol gegen 5.30 Uhr ins Krankenhaus. Zum zweiten Mal in meinem Leben war ich froh einen Arzt zu sehen und atmete tief den sterilen Geruch des Kreissaales ein. Irgendwie schien ich jetzt den Wehenschmerz besser zu verkraften, aber vielleicht war es nur die Ablenkung von dem Neuen. Nachdem ich an den Wehenschreiber angeschlossen worden war, untersuchte mich eine andere Hebamme in einer sehr unangenehmen Weise. Während einer Wehe tastete sie ab, wie und wo mein Baby lag. Ich glaube, diese herzlose Frau hatte nie eigene Kinder bekommen, sonst hätte sie gewusst, was ich empfand. Warum müssen eigentlich Frauen Kinder bekommen? Wenn ich dies vorher gewusst hätte, weiß ich nicht ob ich mich genauso entschieden hätte. Die nächste Wehenwelle rollte an, bei dem ich meinen Mann am liebsten verflucht hätte. Die Abstände waren nun nur noch 3 Minuten und zum Verschnaufen blieb keine Zeit. Er saß neben mir und hielt meine Hand, sein mitleidiger Blick hätte meine Faust verdient, denn er war ja Schuld an der Misere. Nun konnte ich nicht mehr und wimmerte und krümmte mich. Die Hebamme von vorhin erwiderte, dass ich mich doch nicht so haben sollte, ein Baby müsste nun mal auf dem selben Weg, wie es hineingekommen war, wieder heraus. Und schließlich war bisher noch kein Baby drin geblieben. Ich sollte nicht kreischen sondern richtig atmen und an mein Baby denken, welches genau denselben Kampf durchstehen müsste. Meine Hassgefühle gegen diese Frau schienen mir für einen Moment sogar die Kraft zu geben, die ich dringend benötigte. Also biss ich die Zähne zusammen und ermutigte mich mit dem Gedanken, dass bestimmt alles vorbei wäre. So gegen 8.00 Uhr wurde ich erneut untersucht und man stellte fest, dass mein Muttermund sich erst auf 5-Mark-Stück-Größe geöffnet hatte. Das war nicht gerade ein Triumph, weder für mich, noch für mein Baby. Ahnungslos stimmte ich dem Arzt zu, als er einen Zugang für den Wehentropfer an meinem Arm legte. Auf einem Nadelstich mehr oder weniger würde es nun sowieso nicht mehr ankommen. Die Tropfen zeigten schon nach kurzer Zeit ihre Wirkung von regelmäßigen effektiven Wehen, die den Muttermund öffnen sollten. Sprengen wäre wohl der bessere Ausdruck dafür, denn ich glaubte, jeden Moment müsste eine Bombe in mir hochgehen. Die nächste Wehe werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen. Nie hätte ich gedacht, dass sich mein bisheriger Schmerz noch steigern ließe. Es kam mir vor, als wolle man mir den „Teufel austreiben“, das wahrscheinlich in diesem Moment ein „Zuckerschlecken“ gewesen wäre. Regelmäßig schoss der Wehenschreiber über sein Ziel hinaus und ich konnte überhaupt nichts dagegen unternehmen. Machtlos und ausgeliefert wie ein Stück Vieh lag ich da und jammerte so laut ich konnte. Sollte ich je diese Schmerzen in Töne fassen müssen, fiele mir ein schrill klingender Zahnarztbohrer ein, dessen ohrenbetäubendes Surren sich periodisch bis zum Trommelfellriss steigern würde. Nachdem mich eine Krankenschwester auf die Seite drehte, massierte sie tröstend meinen verkrampften, schweißgebadeten Körper. Ein kurzer Blick auf die große Uhr, die direkt über meinen Kopf hing, sagte mir dass es bereits 12.00 Uhr geworden war. Nun wurden meine Beine in Halterungen am Gebärstuhl festgeschnallt und das Stuhlteil unter meiner Hüfte weggeklappt. Die Schmerzen hatten mich so entkräftet, dass ich alles mit mir geschehen ließ. Der Ohnmacht nahe spürte ich einen immer größer werdenden Druck, der mich zu zersprengen drohte. „So pressen Sie doch“, drang eine Stimme an mein Ohr. Ich wusste nicht, woher ich diese Kraft nehmen sollte und blinzelte mit schmerzverzerrtem Gesicht benebelt in die Runde. Ein warmer Schwall schwappte zwischen meinen Beinen hindurch auf den Boden, bei dem es sich nur um Fruchtwasser handeln konnte. Abol, der die ganze Zeit über nicht von meiner Seite gewichen war, folgte den Anweisungen der Hebamme und versuchte meinen Kopf zu halten. Irgendwoher nahm ich diese geballte Ladung Kraft und presste bis zur totalen Erschöpfung. Eine geschlagene Stunde versuchten wir vergeblich unser Baby auf die Welt zu bringen. Doch alles schien zwecklos. Halluzinierend und gepeinigt nahm ich im Entfernten war, dass sich mittlerweile einige Personen um mich versammelt hatten. Außer meinem Mann und der Hebamme sah ich vier in weiß gekleidete Männer mit besorgten Gesichtsausdrücken. Zwei der Männer stellten sich in Höhe meines Brustkorbes neben mich. Die anderen beiden, die Ärzte zu sein schienen, platzierten sich am unteren Ende des Stuhles. Nach einer kurzen Unterredung mit der Hebamme, stand die Entscheidung für sie fest. „Da wollen wir einmal alle zusammen probieren, das Kind auf die Welt zu bringen“, beruhigte mich der eine von beiden. Doch hätte ich gewusst, welche Qualen nun auf mich zukommen würden, wäre ich lieber vorher gestorben. Die Aussage meiner Mutter über eine Geburt, schoss mir in Gedanken immer wieder durch den Kopf und es wurmte mich, dass sie Recht behalten hatte. Bevor ich mitbekam wie mir geschah, wurden meine beiden Arme am Gebärstuhl fixiert. Wieder sollte ich pressen, diesmal aber drückte einer der beiden Männer von oben auf meinen Bauch, während ein anderer untersuchte, ob sich mit dem Baby etwas tat. Nichts passierte, außer dass mir die Wehen jegliche Luft zum Atmen nahmen. Schon war die nächste Presse-Wehe im Anmarsch, beide Männer knieten sich nun auch noch auf meinen Brustkorb und versuchten mit aller Gewalt, das Baby aus mir herauszuquetschen. Wie konnten sie mich so menschenunwürdig behandeln? Verzweifelt versuchte ich mich zu wehren, doch ich war kraftlos, den letzten Atemzügen nahe. Und es war mir egal, alles war mir „scheißegal“, ich wollte nur noch sterben, damit ich diese verdammten Schmerzen los sein würde. Bilder meines bisherigen Lebens liefen wie kurze Filmausschnitte vor meinem inneren Auge ab. Warum lässt mich denn niemand aus diesem gottverdammten Traum aufwachen? Die verzweifelten Worte eines Arztes, die er mit meinem Mann wechselte, drangen an mein Ohr. Es hörte sich an, als ob es um Leben oder Tod gehen würde. „Für wen entscheiden Sie sich, für die Frau oder das Kind?“, flüsterte eine dumpfe Stimme, kaum hörbar. Es schien der blanke Wahnsinn in dem Kampf ums Überleben und gerade mir sollte dieser am eigenen Körper widerfahren. Schlagartig war ich hellwach beim Geräusch des Instruments vom Dammschnittes, welches genau wie beim Tranchieren eines Geflügels krachte. „Zange, bitte“ ertönte es vom Fußende und schon wurde ich von allen Seiten festgehalten. Ein sehr erfahrener Gynäkologe versprach mir, mich sofort von meinen Qualen zu erlösen. Im gleichen Moment drängte sich dieses kalte Instrument in meinen Unterleib. Diesem unheimlichen Druck konnten meine Knochen nicht standhalten und ich spürte wie sie mit einem kleinen Knacken nachzugeben schienen. Ich schrie aus Leibeskräften, so dass ich fast das Bewusstsein verlor. Innerhalb weniger Sekunden, genau um 13.51 Uhr, an diesem 21. September, hatte mein Baby das Licht der Welt erblickt. Genau am selben Tag übrigens, an dem auch Abols kleiner Bruder Armin seinen Geburtstag feiert. Mein kurzer Blick streifte dieses dunkelblau angelaufene Wesen, welches ich geboren haben sollte. Kein Laut kam über seine Lippen und regungslos wurde er auf eine Babyliege gebettet. Aufgeregt massierte ein Arzt Viktors Herz, während ein anderer Schleim aus seinem Mund absaugte. Nach nie mehr endenden Sekunden der Anspannung, gab er einen Schrei von sich, als ein Arzt mit einem Klaps auf den winzigen Popo nachgeholfen hatte. Erleichtert und grenzenlos leer schossen mir die Tränen aus den Augen, die die ganze Qual wegspülen sollten. Tatsächlich hatten ich und mein Baby es geschafft. Es war wie ein Wunder! Noch immer lag ich im Kreissaal, denn meine Nachgeburt ließ auf sich warten. Erneut drückte irgendjemand auf meinem Bauch herum, um die Nachgeburt mit einem Blutschwall aus mir herauszureißen. Am allerliebsten wäre ich dieser Person in der Stellung in der ich mich befand, ins Gesicht gesprungen. Über die Bemerkung, ob ich bei der Dammnaht eine Betäubung haben wollte, musste ich laut lachen. Wie konnte man mich nach solchen Tortouren danach fragen? Natürlich lehnte ich ab, denn eine Betäubung würde ich nun bestimmt nicht mehr brauchen, auch wenn die Naht extrem lange gedauert hat. Durch die Zange wurde der gesamte Damm in Mitleidenschaft gezogen, so dass ich zum Damm-Schnitt auch noch einen Dammriss davontrug. Naja, so ist das eben, aber nun war alles geschafft und vorbei. Dass ich so etwas freiwillig nicht noch einmal durchmachen wollte, stand außer Frage. Die Frage allerdings, ob ich meinen Sohn auf den Bauch gelegt haben wollte, verneinte ich mit Nachdruck. Von Mutterliebe im ersten Augenblick war bei mir nämlich keine Rede, deshalb nahm Abol ihn auf den Arm und strich stolz über seine zarte Babyhaut. Viktors Kopf war durch die Zangengeburt sehr in die Länge gezogen worden und sein Gesichtchen trug Spuren roter Flecken davon. Aber ansonsten war mit ihm, laut Apgartest, alles in Ordnung, außer dass seine Entwicklung nicht dem entsprach, was auf dem Einlieferungsschein meines Frauenarztes stand. Bei einem Kopfumfang von 38 cm und einem Gewicht von 3900 g wunderten mich die Schwierigkeiten der Geburt nicht im Geringsten. Wie die Ärzte mir mitteilen, hatte Viktor trotz des grünen Fruchtwassers keinen erkennbaren Schaden davon getragen. Worauf man bei einer Geburt so alles achtete? Doch vorläufig wollte ich nur noch eines, mich ausruhen. Erschöpft und todmüde wurde ich auf ein Zimmer gebracht, damit ich mich etwas erholen konnte. Beim Abschied von meinem Mann bemerkte ich, wie blass und abgeschlagen er doch aussah. Die Strapazen der Geburt waren auch ihm ins Gesicht geschrieben. Nun aber konnte er beruhigt gehen und aller Welt berichten, dass er stolzer Papa eines Sohnes geworden war. Soeben brachte mir die Säuglingsschwester mein Baby und legte es neben mich. Für einen kurzen Moment wich ich zurück, denn diese Nähe war mir unheimlich. Von der Seite begutachtete ich misstrauisch dieses kleine schlafende Bündel, welches meiner Meinung nach eigentlich viel zu groß war um in meinem Bauch gepasst zu haben. Sein Gesicht hatte eine ebenmäßige, hellbeige Farbe, die durch ein paar rote Druckstellen über der Nase und auf der Stirn unterbrochen wurden. Schmunzelnd betrachtete ich seinen großen, ovalen Kopf, den einige rotblonde Flaumhaare kreisförmig umrahmten. Sichtlich gerührt spürte ich die wohltuende Wärme, die bei seinem Anblick von meinem Herzen ausging. Nun hatte ich es tatsächlich geschafft Mutter zu werden und war überwältigt von dem Gefühl. So ganz nebenbei wusste ich nun auch warum Frauen und nicht Männer, die Kinder zur Welt bringen müssen. Denn hätte je ein Mann einem Baby das Leben schenken müssen, wäre die Menschheit wohl schon lange ausgestorben! Sicherlich mag es auch Frauen geben, die eine Geburt weniger kräftezehrend und schmerzhaft empfanden wie ich. Auch wenn ich dies nicht mit Sicherheit behaupten konnte, schwor ich mir aber eines, nämlich in Zukunft die Hände vom Kinderkriegen zu lassen. Noch in Gedanken versunken, forderte mich die gerade hereingekommene Krankenschwester auf, aus meinem Bett aufzustehen. Dies sei für die Stabilität des Kreislaufes unbedingt erforderlich, meinte sie nebenbei. Ich fühlte mich zwar immer noch wie ein nasses Handtuch, doch was sollte schon dabei sein, dachte ich mir, als ich Ihren Forderungen nachkommen wollte. Langsam bewegte ich meinen gequälten Unterleib von der Stelle. Meine bleischweren Beine versuchten einen sicheren Stand auf dem Boden zu erlangen. Aber kaum hatte ich mich versehen, brachen sie zusammen als wären sie aus Gummi. Ich sackte auf den Boden wie ein Zementsack. Zwei Kranken-Schwestern halfen mir wieder hoch und hakten sie beidseitig bei mir ein. Ruhig redeten sie auf mich ein und versuchten mir Halt zu geben. Ganz langsam schleppten sie mich in Richtung Toilette und ich muss zugeben, dass es außerordentlich schwierig für mich war. Irgendwie hatte ich die Kraft, die man zum Laufen benötigte, verloren! Aber ich glaubte, dass es allen Frauen nach ihrer ersten Geburt so gehen müsste. Mutig biss ich die Zähne zusammen und machte mich mit den Schwestern auf den Rückweg in mein Bett. Die Anstrengung die es mich kostete, sah man mir am ganzen Körper an, denn ich zitterte wie Espenlaub. „Es wird schon wieder werden“, dachte ich und war glücklich, dass ich wieder im Bett liegen durfte. Als die Tür aufging und ich Abol erblickte kam ich sowieso auf andere Gedanken. Er hatte mir eine langstielige rote Rose mitgebracht, die er stolz auf meine Bettdecke legte. Überglücklich streifte sein Blick das Säuglingsbettchen, in dem unser schlafender Sohn zufrieden schlummerte. Nun schien die Welt wieder in Ordnung zu sein, die mich die vorhergehenden Strapazen für einen kurzen Moment vergessen ließen. Er erzählte mir, dass er allen die Neuigkeit überbracht hatte und er bei meiner Mutter einen Zwetschgenkuchen zum Kaffee gegessen hatte. Dies brachte mich zum Lachen, denn normalerweise verabscheute er derartige Frucht-Kuchen. Das bewies wieder einmal, dass er von diesem Erlebnis genauso durcheinander war wie ich. In der Zwischenzeit war es 18.30 Uhr geworden und ich wusste, dass meine Mutter Ladenschluss hatte. Natürlich wollte sie ihr erstes Enkelkind sofort begutachten und eilte zur Tür herein. Sie war von Viktors Anblick entzückt, vor allem weil es sich um einen Jungen handelte. Für mich hielt sie lediglich die Worte: „Du siehst ja gar nicht so schlecht aus“ für angebracht. Na ja, vielleicht war ich wirklich zu zimperlich und sollte versuchen, nun nicht alles auf die Waagschale zu legen. Nachdem die Besuchszeit zu Ende war kuschelte ich mich in mein Bett und wollte nur noch schlafen. Die Schwestern hatten ein Einsehen mit mir und ließen mich die ganze Nacht durchschlafen. Aus Rücksicht nahmen sie meinen Sohn mit ins Säuglingszimmer, damit ich mich erholen konnte. Am nächsten Morgen sah ich die Welt schon mit ganz anderen Augen. Freudestrahlend nahm ich mein Baby in Empfang und bettete es ganz sanft neben mich, um das erste Stillen zu probieren. Ich nahm eine recht unbequeme Seitenlage ein und spürte dabei meinen geschundenen Brustkorb, der einige blaue Flecken aufwies. Doch ich nahm die Schmerzen in Kauf, damit ich meinen Sohn stillen konnte. Mein Kopf begann zu zittern, wie bei einer uralten Frau, doch ich glaubte noch immer, es wäre ganz normal. Meine nächsten Gehversuche strengten mich zwar sehr an, wurden aber deutlich besser. Nur das Gefühl, dass sich mir bei jedem Schritt der Boden unter den Füßen wegziehen würde, blieb. Das Gefühl änderte sich auch nicht, als ich nach einigen Tagen die Klinik mit meinem Sohn verlassen durfte. Ich lief regelrecht wie „auf Eiern“ und hatte deswegen Schweißausbrüche. Dass es in der Klinik nicht weiter beachtet wurde, gab mir die Hoffnung, dass es ganz normal wäre. Aber diesen Abschnitt konnte ich nun hinter mich lassen und mich auf mein Zuhause freuen. „Hallo wir sind da“, schrie ich laut, als wir zusammen als frischgebackene Eltern, die Türschwelle überschritten. Wieder in meiner gewohnten Umgebung zu sein, gab mir Sicherheit, keine Schweißausbrüche mehr zu bekommen bei dem Gedanken, beim Laufen ange-starrt zu werden. Viktor fuhr ich mit dem Kinderwagen in der Wohnung umher, weil ich mich nicht traute ihn, zu tragen. Wäre ich gestürzt und ihm dadurch etwas zugestoßen, hätte ich mir das nie verziehen. Das Sitzen fiel mir wegen der Damm-Verletzungen noch sehr schwer, sodass ich nur auf einem Schwimmreifen schmerzfrei Platz nehmen konnte. Aber das Glück, dass ich beim Anblick meines kleinen Jungen empfand, war Entschädigung genug. Genau diese Gefühle waren Ansporn für seine Geburtsanzeige, die gelautet hatte: „Ab sofort haben wir schlaflosere Nächte, mehr Sorgen, weniger Geld, aber dafür 3900 g mehr Glück …
Silvia J.B. Bartl