Blumbella, das Mädchen von der Alm
Ich schluckte, es schmeckte bitter wie Medizin. Dann ging ich weiter auf die Hütte zu. Keinen noch so kleinen Winkel an der Hütte und darum herum ließ ich aus dem Auge. Lange Grashalme wehten um die Ecke hervor, ich hielt sie erst für sich bewegende, lange Greiffinger, doch entschlossen, wenngleich langsam, schritt ich voran. Als ich auf etwa fünfzig Schritte heran war, flog ein Schwarm kleiner Vögel auf, die mich an den Umhang eines riesenhaften Ungeheuers denken ließen, aber ich ging weiter. Schließlich war ich so nahe an der Hütte, dass ich mit ausgestrecktem Arm die Lattenwand hätte berühren können. Ein fremder aber nicht unangenehmer Duft strömte zwischen den Ritzen der Wand hervor. Nicht allein der Duft von Heu und Weidetieren war es, sondern noch süßlicher, noch herber und noch stechender zugleich. Das war keine normale Almhütte, von denen es tausende auf diesen Hängen geben mochte, darüber hatte ich nun Gewissheit. Da hörte ich ein Poltern auf der anderen Seite der Hütte und dann Schritte, die sich knirschend näherten. Da war jemand!
Mit meiner nüchternen Vernunft war es vorbei. Ich blieb erstarrt stehen und erwartete mein Schicksal. Nun bogen die Schritte um die Ecke. Gleich würde ich es sehen, das Wesen, das hier hauste. Ich schloss die Augen, meinte den Atem des fremden Lebewesens hören zu können, dann entschloss ich mich, offenen Auges in den vielleicht letzten Moment meines Lebens zu treten.
„Guten Tag, Herr“, sagte da eine unbeschreiblich süße Stimme.
Das Wesen, das mir gegenübertrat, war kein etwas, es war eine sie, eine Frau, nein, ein Mädchen fast noch, eine frische, gesunde Magd mit runden Zügen und Kurven, die vor Lebenskraft strotzten. Sprachlos besah ich mir die Sennerin. Sie wäre nach dem Urteil der verkünstelten und verwöhnten Damen des Rabenfelds wohl nicht schön zu nennen gewesen, höchstens ansehnlich nach der Art einer Dirne vom Lande. Doch für mich, der mir das Urteil der engstirnigen Städter nie etwas gegolten hatte, war dieses Mädchen schön, wunderschön. Formelhaft bat ich Reglindis, meine ewige Reglindis, um Verzeihung dafür, mit welcher Bewunderung ich dieses schöne Mädchen bestaunte. Zu allem Überfluss bemerkte ich, wie mir sogar der Mund offen stand. Da schloss ich ihn schnell und versuchte, eine möglichst würdige Haltung anzunehmen. Um nichts in der Welt wollte ich mich dem Spott dieses Mädchens aussetzen.
„Guten Tag, Herr“, sagte das ganz schlicht noch einmal ohne auch nur die leiseste Spur von Spott. „Ist euch nicht wohl?“ Auch in dieser Frage lag allein wahre Besorgnis und keine Belustigung.
„Ääh-ch…“ krächzte ich unbeholfen und kraftlos. Ein wenig schwindelig wurde mir auch, nun, da Angst und Aufregung von mir abfielen und ich mich stattdessen einem schöneren Wesen gegenübersah, als ich es jemals in meinem Leben noch zu treffen gehofft hätte. Ich stütze mich an der Lattenwand der Almhütte ab, um nicht zu wanken. Apfelwein und Schnaps vom Abend zuvor mochten gemeinsam mit der ungewohnten Bergluft ihr Übriges getan haben.
Rasch kam mir das Mädchen zur Hilfe, stütze und führte mich um die Hütte herum.
„Hier entlang, Herr“, sagte sie, „stützt euch ruhig auf mich, hier entlang, hier, setzt euch auf diese Bank, die Hitze ist drückend heute, gleich will ich euch zu trinken holen, setzt euch, ruht euch aus, so heiß ist es heute.“
Ihr inhaltsleeres Gerede war ein tröstlicher Singsang, mit dem sie mich schmeichelnd umfing. Ich konnte nicht anders, als die Augen zu genießen, auf den Ton ihrer Stimme zu hören – kaum auf den Sinn ihrer Worte – und mich an dem Schatten und der warmen Brise und dem Duft der Alm zu erfreuen. Sie beendete ihr Gerede, wieder öffnete ich die Augen, doch diesmal sah ich genau das vor mir, was ich erwartet hatte – den mitreißend schönen Anblick der Sennerin.
„Geht es euch wohler?“ fragte sie.
„Wie heißt du?“ fragte ich meinesteils, anstatt ihr Antwort zu geben.
„Blumbella. Ich bin Blumbella.“
Blumbella. Ein törichter Name für eine wohl ebenso törichte Magd, die selbst den einfachen Anforderungen des Dorflebens kaum genügte und deshalb draußen vor dem Dorf das Vieh hüten musste. Mit derlei Gehässigkeiten versuchte ich, mich dem Zauber Blumbellas zu entziehen. Ein alter Kerl wie ich, der sich in eine Sennerin verliebt, du meine Güte, wie dumm und gewöhnlich!
Blumbella. Aber nein, vergeblich. So genau ich sie auch betrachtete, ich konnte an ihrem Äußeren und auch in ihrem Wesen und in ihren Worten nichts finden, was ihren Reiz gemindert hätte, ganz im Gegenteil. Sie kam mir vor wie die aufrichtigste und freundlichste Frau, die mir je begegnet war – Reglindis bat ich wiederum im Stillen und wiederum formelhaft um Verzeihung.
Blumbella. Wo war dieses Mädchen die ganze Zeit gewesen, während ich mein Leben fristete? Hatte sie immer hier oben auf diesem Berg gehockt, dessen Spitzen ich von den Türmen des Rabenfelds sehen konnte, wenn ich meine Studien zu Wind und Wetter anstellte? Und warum war mir niemals auch nur die Ahnung dessen gekommen, was für ein wunderbares Wesen diese Berge, diese verfluchten Grauen Gipfel beherbergten.
„Du hütest das Vieh deiner Eltern?“ stellte ich mehr fest, als dass ich sie fragte. „Das ist brav, Blumbella.“
Sie ging über meine Herablassung hinweg, aber sie war gewiss kein kleines Kind mehr, das sich über das Lob braven Betragens hätte freuen können.
„Ich habe keine Eltern“, antwortete sie stattdessen schlicht und gerade heraus.
„Das tut mir leid für dich, mein Kind. Seit wann bist du Waise?“ Immer noch befleißigte ich mich des herablassenden Tons eines Dorflehrers, der es mit ausnehmend dummen Kindern zu tun hat.
„Ich bin keine Waise. Ich habe keine Eltern“, widersprach sie.
Da begriff ich endlich. Dass ein Kind keine Eltern habe, das war die grausame Redensart mancher Dörfler in der Oberen Provinz für solche Kinder, deren Vater sich nie zu ihnen bekannte und deren Mutter zu arm und zu wenig geachtet war, um die Last eines vaterlosen Kindes auf sich zu nehmen. Solche Kinder wurden von der Dorfgemeinschaft als Almosenempfänger und Tagelöhner ausgehalten, freilich unter der Bedingung, dass ihre wahren Eltern aus dem Dorf verschwanden. Die Kinder mussten unter Einsamkeit und ständiger Armut leben und hatten kaum eine Chance, ihr Leben zu verbessern. Manche unter ihnen, die besonders Wagemutigen und Verwegenen, verließen als Jünglinge oder gerade herangewachsene Frauen ihre Dörfer und versuchten ihr Glück im Rabenfeld oder in einer der anderen Städte, manchmal auch in einem der Marktflecken. Selbstverständlich konnte keines dieser Kinder ohne Eltern ohne mehr oder weniger schwer wiegende Vergehen auskommen, und so galten sie den Dörflern als geduldete aber rechtlose Mitbürger, den Städtern indes als Gauner, denen nicht zu trauen war.
Mir war die Behandlung dieser armen Ausgestoßenen immer ungerecht vorgekommen, aber jetzt, da ich Blumbella vor mir sah und nicht fassen konnte, dass so ein reizvolles Mädchen so herabwürdigend behandelt werden sollte, fand ich es regelrecht empörend. Für einen Moment vergaß ich, wie endgültig ich im Rabenfeld alles hinter mir gelassen hatte, und nahm mir stattdessen vor, alsbald bei unserem Fürsten meinen Einfluss geltend zu machen und ihn für eine Unterstützung dieser benachteiligten Landeskinder zu begeistern.
Lange starrte ich sie an, während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen. Diese Gedanken und dann auch, wenngleich noch ganz undeutlich, seltsame Wunschträume davon, wie es wäre, Blumbella mitzunehmen ins Rabenfeld, sie zum Fürsten zu bringen und sie ihm vorzustellen als meine… Aber nein, solche Eseleien! Mit der Hand wischte ich mir übers Gesicht und die dummen Traumgespinste weg.
„Geht es euch nun wohler?“ wiederholte Blumbella ihre Frage nach meinem Wohlbefinden.
„Ja, danke, viel besser, ich danke dir.“
„Gern geschehen, Meister Vagans, es war mir gar keine Ursache.“
„Du kennst mich?“ fragte ich mit hörbarem Erstaunen.
„Ei, freilich“, antwortete sie und lachte leise, „das ganze kleine Dorf redet ja von nichts anderem als von dem großen Magier Vagans, der gekommen ist, um hier zu verweilen und uns vom Wolfsmann zu erlösen.“
„A-ach. Ach so“, war alles, was ich sagen konnte.
„Werdet ihr?“
„Werde ich was?“
„In Ödplan verweilen.“
„Ich werde wohl müssen. Jedenfalls solange, bis mein Maultier nicht mehr lahmt, das mir dieses beschissene Viech von Wolfsmann zuschanden gemacht hat.“ Blumbella lachte wieder leise und ich sagte: „Verzeih, solch grobe Worte sollte ich nicht gebrauchen, vor einem Mädchen wie dir.“
„Seid unbesorgt, Meister Vagans, ich bin gröbere Worte gewohnt. Es wird schön sein, wenn ihr hier im Dorf ein wenig verweilt.“
„Wieso?“
„Nun, so könnt ihr die Feier zur Sommersonnenwende mitmachen. Das wird euch eine Abwechslung sein, so wie uns eure Anwesenheit eine willkommene Abwechslung sein wird.“
Wir plauderten weiter. Über das Wetter und das Gras und das Vieh, das sich immer wieder im Wald verirrte, wie um die Sennerin zu narren, auf dass sie die verlorenen Tierchen rette und zurückhole. Ich sah mich satt an ihr und konnte doch nicht genug bekommen.
* * * * *
Erst weit nach der Mittagsstunde kehrte ich ins Dorf zurück und kam herrlich erschöpft und wunderbar hungrig zur Schenke. Im Gastraum warf ich mich auf die Ofenbank und lehnte mich an die kühlen Kacheln. Interessiert beobachtete ich, wie Tropfen meines Schweißes auf den Kacheln Spuren bildeten, ganz so, als sähe ich ein großes Wunder der Natur vor mir. Meinen Hunger wollte ich zwar mit einem tüchtigen Mittagsmahl bekämpfen, aber es schien mir noch nicht der Mühe wert, den Wirt herbei zu rufen und ihm zu befehlen, mir etwas bringen zu lassen. Zu sehr gefiel mir außerdem das Gefühl, hungrig und müde der Sehnsucht nach Blumbella nachzuhängen, obwohl ich das Mädchen vor noch nicht einmal einer halben Stunde in ihrer kleinen Almhütte verlassen hatte. Es gibt schöneres, als sich jeden Wunsch zu erfüllen, diese häufig zu moralsauer vorgetragene Weisheit fand ich in erfrischender Weise bestätigt.
Da kam Servitius durch die Tür zum Hof herein und störte mich in meinen Betrachtungen, über die ich ohne ihn unweigerlich eingedöst wäre.
„Herr, ihr seid wieder da?“ begrüßte mich Servitius.
„Deine Beobachtungsgabe wird dich noch weit bringen“, spottete ich, „nicht wenigen ist es vergönnt, meinen fleischlichen Leib von meinem Gespenst zu unterscheiden, das sich manchmal ganz ohne mich auf den Weg macht. Du hast also recht, in deiner Feststellung: Ja, ich bin wieder da – wenn’s dich nicht zu sehr stört in deinen vordringlichen Beschäftigungen.“
Servitius grinste keck und freute sich doch zugleich sichtbar, mich bei spottlustiger, also guter Laune anzutreffen.
„Ich habe, ganz untertänigster Diener meines Herren, Maßnahmen ergriffen, die unseren baldigen Aufbruch befördern müssen“, berichtete er mit heiterem Stolz. „Wir werden also nicht allzu lang hier verweilen müssen.“
„So?“ fragte ich skeptisch. „Was für Maßnahmen denn?“
„Ich habe einen jungen Burschen beauftragt hinab zu steigen nach dem Marktflecken Beersbach und von dort ein tüchtiges Maultier herauf zu schaffen“, sagte Servitius und heischte mit seinem Blick nach Lob von mir.
„Wieso denn ein Maultier herschaffen?“ fragte ich stattdessen mürrisch zurück. „Was machen wir dann mit dem, das hier im Stall steht?“
„Für alles wird gesorgt sein, Herr, der Viehhändler, der uns ein neues Tier bringen wird, wird wohl Verwendung für das alte finden und Euch also Nachlass auf den Preis für das neue gewähren.“
„Und wann wird dieser Viehhändler hier aufkreuzen, he?“ brummte ich weiter.
„Alsbald, vielleicht in zwei oder drei Tagen schon.“
„Ach so? In zwei oder drei Tagen schon?“
„Beliebt es euch nicht, so schnell weiter zu reisen, Herr?“
„Jetzt werd nicht frech, sonst muss ich die Rute über dir schwingen!“ Ich hatte freilich wenig Hoffnung, dass diese leere Drohung irgendeinen Eindruck auf Servitius machen würde.