Es geht weiter, allen meinen vielleicht übersteigerten Ansprüchen an einen überlegt komponierten Text zum Trotz: Ich fahre fort, an einer Fabel zu spinnen, deren Verlauf und Ausgang ich nicht kenne. Auch die einzelnen Personen muss ich noch besser kennenlernen, aber ich bin da ausnahmsweise ganz geduldig. Die Reise Vagans' ist zum Stillstand gekommen in Ödplan. Beachtet bitte, dass dies der dritte Teil der Geschichte ist. Ihr müsst die ersten beiden Teile nicht lesen, um den dritten zu verstehen, aber es hilft vielleicht. Wissen solltet Ihr nur, dass es um die Pilgerfahrt geht, die Vagans, den Gelehrten und wohlhabenden Berater des Fürsten vom Rabenfeld, ins südliche Calip führen soll. Für die Nacht ist Vagans mit seinem Diener Servitius aber im Dorf Ödplan untergekommen, das angeblich von einem Wolfsmann heimgesucht wird. Am nächsten Morgen muss er feststellen, dass das Traumgesicht der Nacht gar keines war, und der Wolfsmann tatsächlich vor der Schenke erschienen ist und gemacht hat, dass das Maultier, auf das Vagans dringend angewiesen ist, nun lahmt und nicht weiter kann. Vagans und Servitius, sein Diener, sitzen vorerst fest in Ödplan. Aber muss das so ein Unglück sein? Viel Spaß beim Lesen, C.
„Waaas?“ Was für eine Katastrophe! Ohne das Maultier würden wir unsere Reise nicht fortsetzen können. Die Lasten konnten wir unmöglich selber tragen, und ohne dieses Gepäck brauchten wir den weiteren Weg gar nicht erst anzutreten. Mit dummen Fragen, die mir Servitius doch nicht würde beantworten können, wollte ich mich nicht länger aufhalten. Ich lief in den Stall.
Das Tier machte einen gar nicht so kranken Eindruck, fröhlich streckte es die Ohren in die Luft, als ich es streichelte. Doch Servitius hatte Recht, das Tier konnte nicht laufen, keine zwei Schritte. Es zog den rechten Hinterlauf schmerzlich hinterher, auf den es kaum auftreten konnte.
„Zum Xatax!“ fluchte ich. „Zum Xatax und allen Unterwelten!“ Wieder machte Servitius die kreisende Geste zur Abwehr des Bösen und Rodmal tat es ihm nach.
„Erzürnt euch nicht“, wollte Rodmal mich beschwichtigen, „seid lieber dankbar, dass der Wolfsmann keinen schlimmeren Schaden getan hat.“
„Der Wolfsmann? Was hat der damit zu tun?“ fuhr ich Rodmal an.
„Freilich der Wolfsmann“, gab Rodmal zur Antwort. Seine Gelassenheit und vorgespielte Abgeklärtheit gingen mir auf den Geist. „Ja, der Wolfsmann macht unsere Tiere krank, das ist das Geringste, was er uns zufügt.“
„Willst du etwa sagen, dass er in den Stall eingebrochen ist, um mein Maultier zu lähmen?“
„Einbrechen muss er dazu nicht“, erklärte Rodmal mit immer derselben Ruhe, „es genügt, wenn er in die Nähe seines Opfers kommt.“
„Aber warum?“ fragte Servitius in heller Empörung. „Warum tut er uns das an?“
„Freilich, der Wolfsmann“, sagte Rodmal wieder und ich hätte ihn dafür am liebsten geprügelt. „Er will wohl nicht, dass ihr geht. Und ihr müsst ja auch bleiben.“
Da hatte Rodmal Recht. Leider.
Ich tobte, schrie, schimpfte, es nützte natürlich alles nichts. Ohne Maultier keine Weiterreise, ohne Weiterreise kein vergebender Segen des Allerhöchsten Priesters und ohne diesen vergebenden Segen verflucht noch eins kein Neubeginn in meinem armen, verfahrenen Leben. Es wäre ja zum Lachen gewesen, wie sehr ich wegen eines dummen lahmenden Maultiers zürnte und zeterte, aber der Grund für mein Rasen war leider ernst: Ich sah mein Vorhaben scheitern, meinem Leben neuen Sinn zu geben, scheitern am lahmenden Hinterlauf eines stinkenden Maultiers. Es war zum Verzweifeln.
Allmählich wurde es Servitius unheimlich mit meinem Schimpfen und auch Rodmal wollte es nicht darauf ankommen lassen, den Zorn eines vielleicht seltsamen aber doch bestimmt wohlhabenden und einflussreichen Übernachtungsgastes auf sich zu ziehen. Die beiden beschlossen, nach Bagur schicken zu lassen, und ganz schnell, als hätte er nur darauf gewartet, zu mir gerufen zu werden, war der Dorfälteste zugegen. Sein beschwichtigendes Reden, seine linkisch beruhigenden Gesten, überhaupt seine ganze ausgesucht gepflegte Erscheinung in Rodmals stinkendem, verkommenem Stall, das alles machte mich nur noch viel wütender. Ich schrie mich heiser und Tränen kamen mir, die ich, meiner Scham zum Trotz, nicht zurückhalten konnte.
„Nun grämt euch nicht zu sehr, Meister Vagans“, redete Bagur weiter auf mich ein, „grämt euch nicht mehr, als es die Sache wert ist. Das Tier lahmt, aber es ist nicht sichtbarlich verletzt. Es wird genesen, schnell, bald, dann könnt ihr eure Reise immer noch bequem fortsetzen.“
„Und wenn nicht? Wenn mir das Scheißviech hier krepiert?“ herrschte ich Bagur an. Das war ungerecht, aber ich konnte oder wollte mich nicht zügeln.
„Dann schaffen wir euch ein neues Tier heran, das macht doch rein gar nichts“, beschwichtigte Bagur mich weiter. Er ließ sich durch mein Toben weder beleidigen noch aus der Ruhe bringen. „Warum diese ängstliche Eile, Meister Vagans? Der Sommer ist noch nicht weit fortgeschritten, noch nicht einmal die Sonnenwende haben wir gesehen. Ihr habt noch viel mehr Zeit als ihr braucht, um in ruhigen, entspannten Märschen über die Grauen Gipfel und sogar bequem bis nach Calip zu gelangen.“
Er hatte natürlich Recht, der alte Zausel, wie er dastand, in seinem aufwendig bestickten damastenen Wams mit dem geckenhaften, großen Blumenmuster. Seine Füße hatte er in enge, halbhohe Stiefelchen nach der neuesten südlichen Mode gezwängt, und selbst im Gestank des Stalls konnte ich unverkennbar das Duftwasser riechen, mit dem sich der in die Jahre gekommene Narr beträufelt haben musste. Ganz so, als wollte er auf Brautschau gehen, der eitle Hahn!
Aber er war der Dorfälteste, kannte dieses Dorf und seine Menschen vermutlich wie kein anderer, und wohlhabend war er offenbar auch, so dass er wohl der einzige denkbarer Retter hier oben in unserer misslichen Lage sein konnte. Diese Erkenntnisse fachte meinen Zorn von neuem an, schlimmer und schmerzhaft heißer als zuvor.
„Geh mir aus dem Weg, Alter!“ brüllte ich Bagur an, „Geh mir aus dem Weg, sag ich, du verpestest mir die Luft zum Atmen!“ Ich ließ mich sogar dazu hinreißen, das arme alte Männchen zur Seite zu schubsen.
„Meister…!“ rief Servitius aus, tief erschrocken über den ungerechten Zorn seines Herrn. „Meister, haltet ein, ihr…“
Ich knurrte ihm etwas wütendes, unverständliches zu und rannte blindlings aus dem Stall und dem Anwesen der Schenke hinaus.
* * * * *
Der Tag wurde schnell heiß, die Sonne stieg schnell. Aber nach meinem donnernden, kaum zu rechtfertigenden Abgang aus der Schenke mochte ich nicht so schnell Abstand nehmen von meinem Vorhaben, ziellos durch die Wälder und Wiesen rund um Ödplan zu laufen. Es war ein klarer, prachtvoller Tag. Von den Wolken, unter denen wir am Tag zuvor am Dorf angekommen waren, gab es keine Spur mehr, und selbst der glasige Dunst, der sich dann abends über die Hänge gelegt hatte, war aufgelöst und in Vergessenheit verschwunden. Mit ihm war auch der Gedanke an seltsamen Wesen und fürchterlichen Monstren verschwunden. Als ich quer über die Alm unterhalb des Dorfes ging, dachte ich noch einmal an den Anblick des späten Pilgers, der aufgetaucht und wieder verschwunden war – ich meinte sogar, die Stelle erreicht zu haben, an der der Pilger den Pfad verlassen haben musste, und ich hielt Ausschau nach dem Hof der Schenke, von dem aus ich den Pilger entdeckt hatte.
Doch im hellen, heißen Sonnenschein war das alles vergessen und vorbei, blasse noch als ein vager Traum. Was sollte eine Erscheinung gelten gegen die Hitze dieses Sommertages und gegen den warmen Wind, der über das kurzgefressene Almgras trieb und jeden furchtsamen Schauer unwiderstehlich dahinschmolz? So viel Licht und Leben, was sollte da das Grübeln über Vergänglichkeit, sei es die drunten im Rabenfeld oder die hier oben, in diesem vom Wolfsmann heimgesuchten Bergdorf? Wonach ich mich in genau diesem Augenblick sehnte, war endlich einmal nichts gedankenschweres, fern unerreichbares – sondern einfach Schatten und ein oder zwei Schlucke kühlen Wassers. So wandte ich mich dem Waldrand zu, ohne auch nur für den geringsten Augenblick zu bedenken, was mich unter dem Gedämmer der Bäume erwarten mochte.
Ohne mich umzusehen, überschritt ich die lebende Grenze vom freien Gelände zum Wald und sofort umfing mich die Kühle wie ein wehender Atem eines einzigen großen Lebewesens. Formelhaft pries ich in den Gedanken den Allherrscher für seine wunderbare Schöpfung, doch das war kein wirklicher Gedanke, sondern ein lange anerzogener Reflex. Aufrichtiger war mein Staunen über die Vollkommenheit, in der, wie es mir schien, Pflanzen und Tiere in diesem Wald miteinander und voneinander lebten. Ein törichter Gedanke, gewiss, aber ich konnte nicht anders, als ihn zu denken, während mein Blick auf einem riesigen Baumstamm ruhte, der auf dem Waldboden verrottete. Ein Baumriese war das zu Lebzeiten gewesen, einer der wenigen hoch wachsenden Laubbäume, die hier oben noch gedeihen. Irgendetwas hatte diesen Riesen zu Fall gebracht, nun zerfiel er in seine Bestandteile, wie ich aus meinen Studien wusste, um die mich Gelehrte des ganzen Reiches beneideten. Doch diese Studien hatten sich nicht darauf erstreckt, wie großzügig diese Leiche eines Baumes nun Nahrung für die kleine und große Lebewesen spendete und die Kraft zurückgab, die der Baum aus Licht und Luft und Boden und Wasser gesogen hatte.
Dieses Sinnbild der Harmonie über den Tod hinaus besänftigte mich vollends. Der letzte Rest von Zorn war aus mir gewichen. Um so drängender quälte mich der Durst und ich schritt also tüchtig aus, um den Bachlauf zu finden, der den Weiler Ödplan durchfloss.
Schnell geriet ich an die andere Seite des Waldes. Als ob mir unerwarteter Weise ein Vorhang direkt vor meinen Augen weggezogen worden wäre, öffnete sich mit einem Mal eine weite, erst sanft und weiter unten steil abfallende Alm. Das musste die andere Flanke der Rampe sein, die nach Ödplan führte. Das angrenzende Tal verengte sich nach unten hin zu einer schroffen Schlucht, oben lief es in Hügelkuppen aus. Kein Bach zu sehen, leider. Doch gute fünfhundert Schritte auf ungefähr derselben Höhe entdeckte ich eine Almhütte. In der Hoffnung, dort ein kleines Rinnsal oder gar eine Pumpe zu finden, beeilte ich mich, dorthin zu kommen.
Es war rein gar nichts Besonderes an dieser Hütte, die nicht mehr war als ein simples Balkengerüst, auf das rohe Latten nachlässig aufgenagelt waren. Das Dach aus übermosten Holzschindeln mochte zwar weniger offene Ritzen bieten als die Wände, aber einem echten Regenguss vermochte es sicher nicht zu widerstehen. Wehe dem Senner, der in dieser Behausung den Sommer überstehen musste. Denn auch in der warmen Jahreszeit wurden die Nordhänge der Grauen Gipfel von schweren Wettern, hin und wieder gar von Schnee heimgesucht.
Harmlos also, dieses Hüttlein, das vielleicht auch nur als notdürftiger Unterstand für Gerätschaften diente. Doch irgendetwas war an diesem winzigen Bau, was mir Angst zwar nicht einflößte, jedoch die Furcht wiedererweckte, die in mir unter den Strahlen der Sommersonne nur geschlummert hatte. Unheil ging von der Hütte aus, das stand für mich fest, wenngleich ich nicht einen vernünftigen Grund für diese Sorge hätte nennen mögen. Ich erwog sogar, mitten auf der Alm umzukehren. Was mich davon abhielt, dieser verwunschenen Hütte den Rücken zu kehren, war nicht einmal so sehr die Scham über die kindische Furcht eines erwachsenen Mannes, als vielmehr der Schauder, dass da in der Hütte jemand oder etwas sein mochte, das mich beobachtete. Was würde dieser jemand oder dieses etwas tun, wenn ich ihm den Rücken zukehrte, um zu fliehen? Würde es nicht die Chance ergreifen, aus seinem Versteck herauszukommen und mich erbarmungslos anzugreifen? Ganz gewiss würde es das tun.
Mit der dunstigen Nüchternheit eines in Panik geratenen Menschen stellte ich fest, welche beiden Möglichkeiten es gab: Entweder in der Hütte war nichts und niemand bedrohliches, dann konnte ich unbesorgt näher kommen. Oder das Böse lauerte genau dort – dann konnte ich ihm ebenso gut mannhaft gegenübertreten, statt ängstlich zu fliehen und mich von vornherein zum Opfer zu machen.
Ich schluckte, es schmeckte bitter wie Medizin. Dann ging ich weiter auf die Hütte zu. Keinen noch so kleinen Winkel an der Hütte und darum herum ließ ich aus dem Auge. Lange Grashalme wehten um die Ecke hervor, ich hielt sie erst für sich bewegende, lange Greiffinger, doch entschlossen, wenngleich langsam, schritt ich voran. Als ich auf etwa fünfzig Schritte heran war, flog ein Schwarm kleiner Vögel auf, die mich an den Umhang eines riesenhaften Ungeheuers denken ließen, aber ich ging weiter. Schließlich war ich so nahe an der Hütte, dass ich mit ausgestrecktem Arm die Lattenwand hätte berühren können. Ein fremder aber nicht unangenehmer Duft strömte zwischen den Ritzen der Wand hervor. Nicht allein der Duft von Heu und Weidetieren war es, sondern noch süßlicher, noch herber und noch stechender zugleich. Das war keine normale Almhütte, von denen es tausende auf diesen Hängen geben mochte, darüber hatte ich nun Gewissheit. Da hörte ich ein Poltern auf der anderen Seite der Hütte und dann Schritte, die sich knirschend näherten. Da war jemand!
Mit meiner nüchternen Vernunft war es vorbei. Ich blieb erstarrt stehen und erwartete mein Schicksal. Nun bogen die Schritte um die Ecke. Gleich würde ich es sehen, das Wesen, das hier hauste. Ich schloss die Augen, meinte den Atem des fremden Lebewesens hören zu können, dann entschloss ich mich, offenen Auges in den vielleicht letzten Moment meines Lebens zu treten.