Beschreibung
Storybattle 16:
Jürgen Milksi
Fernbedienung
Immatrikulation
Voltmeter
Dosenöffner
Biomassekraftwerk
Rentnerdemonstration
Krisenmanagement
Zeitungsente
Cocktailkleid
Joker: Kommunikationsschwierigkeiten
Plötzliche Dunkelheit legte sich über die Landschaft, verschluckte das Fahrzeug, das sich von Schlagloch zu Schlagloch kämpfte und erfüllte mich mit unerklärlichem Grauen. Und dabei war es nicht die Finsternis, vor der ich mich fürchtete. Schließlich gab es dafür auch keinen rational erklärbaren Grund. Nein, viel eher war es das, was diese Schwärze hervorgerufen hatte, das mir kalte Schauer über den Rücken laufen ließ.
Besorgt musterte ich den Himmel.
Gewaltige, unheilschwangere Wolkenberge hatten sich gebildet, die nicht auch nur den winzigsten Sonnenstrahl durchließen. Stattdessen erhellten Blitze in unregelmäßigen Abständen die Umgebung; Blitze, denen kein Donner folgte, was sie noch um einiges unheimlicher werden ließ.
Nun warf ich auch meinem Fahrer, einem stämmigen Usbeken, der nur einige Brocken Englisch und noch viel weniger Deutsch verstand, einen beunruhigten Blick zu, den dieser geflissentlich ignorierte. Als ich ihn ansprach schenkte er mir lediglich ein gekünsteltes Grinsen, das mich unwillkürlich an JÜRGEN MILSKI erinnerte, dessen zwanghaftes Lächeln mich zuhause ständig dazu veranlasste, nach der FERNBEDIENUNG zu greifen und umzuschalten.
In eben diesem Moment, als mein Fahrer mich mit jenem gruseligen Gesichtsausdruck, der mich wohl hätte beruhigen sollen, anstarrte, wurde unser Wagen so stark durchgeschüttelt, dass ich mir den Kopf an der Fensterscheibe anstieß. Wenige Sekunden später trommelten bereits die ersten Regentropfen – jedenfalls vermutete ich, dass es welche waren, denn dem
Geräusch nach zu urteilen hätte es auch Hagel sein können – auf das Autodach ein. Mit einem Ruck kam das Fahrzeug zu stehen und das wütende Schimpfen des Usbeken weckte in mir eine böse Vorahnung. Dem Geräusch nach zu urteilen, den der Motor machte, wenn der Fahrer den Schlüssel umdrehte, würde dieser sich nicht mehr so schnell starten lassen und schließlich, als ich schon fast geglaubt hatte, dass der Wagen nun anspringen würde, heulte die Maschine ein letztes Mal auf, um dann zu verstummen.
Zornig hämmerte der Usbeke mehrmals mit der rechten Hand auf das Lenkrad ein, doch auch das änderte nichts an unserer Situation.
Als er sich immer mehr in die Raserei hineinsteigerte und wüste, mir unverständliche Flüche ausstieß, versuchte ich ihn zu beruhigen, doch das war leichter
gesagt als getan. Natürlich kann man sich mit jedem Menschen einigermaßen verständigen und sei es einzig durch Körpersprache, doch die KOMMUNIKATIONSSCHWIERIGKEITEN, die zwischen dem Usbeken und mir herrschten, ließen sich durch keine Handlung meinerseits überwinden, was möglicherweise auch daran lag, dass er einfach nicht mit mir sprechen wollte.
Ein durchdringendes Donnern ließ mich zusammenzucken und ich spürte, wie der Boden vibrierte. Das Unbehagen in mir wuchs und so starrte ich meinen Fahrer nur mit großen ungläubigen Augen an, als dieser die Tür aufstieß und ohne mit der Wimper zu zucken in dieses Inferno hinaustrat. Im Scheinwerferlicht beobachtete ich, wie er den Wagen einmal umrundete und schließlich vor der Windschutzscheibe Halt machte.
Nur all zu deutlich konnte ich den Ärger in seinen Augen erkennen, als er dem Auto einen kräftigen Tritt versetzte, der ihm vermutlich mehr schadete als dieser Blechkiste.
Unwillkürlich musste ich schmunzeln, doch bereits wenige Sekunden später bereute ich dies, als die Beifahrertür aufgerissen wurde, woraufhin kalte Regentropfen mein Gesicht benetzten. Unverständliche Worte drangen an meine Ohren und obwohl ich kein einziges davon verstand, war mir mehr als klar, was der Usbeke von mir wollte und der Unglaube musste sich wohl in meinem Gesicht gezeigt haben. Mit unmissverständlichen Gesten machte er mir klar, dass ich aussteigen sollte und zwar auf der Stelle. Wo der Sinn in einer solchen Tat lag, war mir nicht klar und so weigerte ich mich, auch nur einen Fuß aus dem Wagen zu stellen.
Daraufhin ergriff er mich einfach am Arm und zerrte mich nach draußen.
Unglücklich und in Sekundenschnelle nass bis auf die Knochen, stand ich nun also da und beobachtete, wie der andere in die Finsternis davon eilte.
In der Hoffnung, dass er schon wüsste, was er tat, folgte ich ihm, wobei ich mich beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten.
So hatte ich mir das alles ganz gewiss nicht vorgestellt.
Während der Regen mir in Strömen übers Gesicht lief, sodass es mir schwer fiel, die Augen offen zu halten, musste ich plötzlich an meine IMMATRIKULATION denken, als ich mich für die Fächer Archäologie und Europäische Ethnologie angemeldet hatte. Auch damals hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet gehabt, was den
Originaldokumenten, die ich mit mir getragen hatte, ziemlich zusetzte.
Ein weiterer Blitz erhellte die Umgebung und erst jetzt bemerkte ich, dass wir nicht, wie ich befürchtet hatte, ziellos umherirrten, sondern tatsächlich auf ein Ziel zuhielten. Mitten im Nirgendwo konnte ich für den Bruchteil einer Sekunde ein rundes Etwas ausmachen, in dem ich sofort ein sogenanntes Ger identifizierte, die typische Behausung mongolischer Nomaden. Ohne anzuklopfen öffnete der Usbeke die niedrige Tür und trat einfach ein. Ich erinnerte mich daran, irgendwo gelesen zu haben, dass es unhöflich sei, in der Mongolei anzuklopfen, aber es nicht zu tun schien mir auch nicht richtig zu sein. Da das Gewitter jedoch ungeschwächt weitertobte und ich bereits vor Kälte zitterte, warf ich alle Bedenken über Bord und folgte dem anderen ins Innere des Zeltes.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, da umfing mich wohlige Wärme und ein eigentümlicher Geruch nach warmer Milch und Rauch stieg mir in die Nase. Augenblicklich war auch das Toben des Unwetters leiser geworden, als hätte man eine Glasglocke über mich gestülpt. Zuerst musste ich ein paar Mal blinzeln, um mich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, dann sah ich mich um und begegnete sofort den neugierigen Blicken dreier kleiner Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren. Als ich den Kopf wandte, erblickte ich deren Eltern, die nicht minder interessiert mich anstarrten. Plötzlich wurde mir unbehaglich zumute. Immerhin waren wir hier einfach so ohne Einladung eingedrungen. Was diese Leute sich wohl über uns dachten? Bestimmt nichts Gutes. Ich war mir sicher, dass man die Spannung,
die in diesem Moment in der Luft lag mit einem VOLTMETER hätte messen können. In der nächsten Sekunde würde man uns sicherlich unter Schimpfen und Fluchen verjagen, uns vielleicht sogar mit dem Gewehr drohen, das, wie mir nun auffiel, in Reichweite des Mannes an ein kleines Kästchen gelehnt dastand.
War mir zuvor noch eisig kalt gewesen, so kroch nun eine unnatürliche Hitze über jeden Millimeter meiner Haut und ich begann zu zittern. Noch immer hatte niemand auch nur ein Wort gesagt. Hastig warf ich einen Blick zu meinem Fahrer hinüber, doch auch der schien nicht im Traum daran zu denken, unser plötzliches Erscheinen zu erklären.
Ich scharrte mit den Füßen und räusperte mich, um mit Händen und Füßen unsere Notlage zu schildern, doch die Frau unterbrach mich in meinem Vorhaben, indem sie sich von dem kurzen,
kunstvoll verzierten Bett erhob, auf dem sie gesessen hatte und auf den kleinen Ofen zuging, der sich in der Mitte des Raumes befand und angenehme Wärme abstrahlte. Erst jetzt bemerkte ich das Loch im Dach, durch welches ein Rohr den Rauch nach draußen beförderte und musste unwillkürlich die Stirn runzeln, als mir klar wurde, dass es eigentlich hätte hereinregnen müssen. Doch das tat es nicht, sah man einmal von ein paar wenigen vereinzelten Tropfen ab. Auf der Herdplatte stand ein großer Topf, gefüllt mit irgendetwas, das vom Aussehen her an Yoghurt erinnerte. Mit einem Lächeln im Gesicht griff die Mongolin nach einer kleinen Schale, schöpfte mit einem Löffel, der ein klein wenig Ähnlichkeit mit einem DOSENÖFFNER hatte, etwas von der weißen Substanz hinein und reichte das ganze an mich weiter.
Verblüfft nahm ich die Schale entgegen und sah zu, wie sie auch dem Usbeken eine reichte, der ohne lange zu zögern einen Schluck nahm. Stirnrunzelnd nippte ich nun ebenfalls daran und bemerkte, dass es sich tatsächlich um ein Milchprodukt handelte, das leicht süßlich schmeckte und mit einer rauchigen Note versehen war. Ich nahm einen größeren Schluck und beobachtete, wie die Mongolin einen Korb aus einer Ecke holte und den Inhalt in den Ofen warf. Als ich erkannte, was sie da verheizte, wurde mir auch klar, woher der rauchige Geschmack kam, der sich in meinem Mund ausgebreitet hatte.
In der Mongolei wurde Dung eben nicht für BIOMASSEKRAFTWERKE verwendet, sondern zum Heizen, was ich natürlich bereits gewusst hatte, doch es war etwas ganz anderes, davon zu lesen, während man bei
offenem Fenster dem Lärm einer RENTNERDEMONSTRATION lauschte, als es tatsächlich selbst zu erleben und zu schmecken.
Auch die Kinder erwachten nun aus ihrer Starre, begannen sich zu regen, zu lachen und zu spielen, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Der mongolische Vater deutete uns mit Gesten, dass wir uns setzen sollten und wir taten es, wobei wir immer noch die Schalen in Händen hielten. Ich verstand gar nichts mehr, konnte mir einfach keinen Reim auf dieses Verhalten machen.
Immerhin waren wir hier mehr oder weniger einfach eingebrochen und jetzt wurden wir bewirtet und mit einer solch selbstverständlichen Freundlichkeit behandelt. Ich fühlte mich, wie in einen merkwürdigen Abenteuerfilm hineinversetzt
und völlig fehl am Platz.
Irgendwann begann der Mann auf mich einzureden, mit einer kehligen, groben Stimme, jedoch alles andere als unfreundlich und obwohl ich kein Wort verstand, hörte ich gespannt zu. Die Laute, die der Mongole von sich gab, vermischten sich mit dem gelegentlichen Knacken der Tür, die dem Sturm trotz ihrer geringen Größe standhielt, und mit dem Zischen, das entstand, wenn sich doch ein Regentropfen ins Innere des Gers verirrt hatte, nur um sogleich auf dem kleinen Ofen zu verdampfen.
Bleierne Müdigkeit breitete sich in allen meinen Gliedern aus und es fiel mir immer schwerer, die Augen offen zu halten. Für einen Moment mussten meine Lider sich gesenkt haben, denn als ein beinahe jaulendes Geräusch erklang, schreckte ich hoch und
sah, dass der Mongole nach einem seltsamen Musikinstrument gegriffen hatte, das einer Gitarre oder auch Geige glich, jedoch am oberen Ende mit einem geschnitzten Pferdekopf versehen war.
Mehrmals schüttelte ich den Kopf, doch der Anblick blieb derselbe und als der nächste jaulende Ton erklang, stimmte der Familienvater einen merkwürdigen Gesang an, der aber alles andere als unangenehm anzuhören war; ungewohnt vielleicht, jedoch nicht unangenehm. KRISENMANAGEMENT auf mongolisch, ging es mir durch den Kopf. Da brachen wir, zwei völlig Fremde, in diesen Haushalt ein und alles, was die Bewohner taten, war, uns Geschichten zu erzählen und Lieder vorzusingen. Sollte so etwas je irgendwo erwähnt werden, so würde man es vermutlich als ZEITUNGSENTE abtun und mit einem
nachsichtigen Lächeln den Kopf schütteln, so wie ich es nun tat. Allerdings nicht aus Missbilligung und Verachtung, sondern aus Unverständnis.
Auch die Mongolin und die Kinder stimmten nun in den Gesang mit ein und so erfüllten ihre Stimmen die Stille, krochen in jedes noch so kleine Eck und verursachten bei mir eine Gänsehaut. Mehrere Minuten lang zog sich dies hin und kaum hatten sie geendet, da stand die Frau wieder auf und öffnete die Tür.
Unwillkürlich war ich zusammengezuckt, in Erwartung der Kälte, die gleich den Raum füllen würde, doch zu meinem Erstaunen, begrüßten uns die Strahlen der Sonne, die auf mein Gesicht fielen und es sofort erwärmten. Etwas schwerfällig erhob ich mich aus dem Schneidersitz und schritt der Mongolin und
ihren Kindern hinterher, die nach draußen getreten waren.
Überwältigt blieb ich stehen.
Die Wolken waren fast restlos verschwunden. Nur vereinzelt trieben ein paar kleine Nebelschwaden über den Boden. Vor mir erstreckte sich unberührtes weites Land, eingeschlossen von niedrigen Hügelketten, hier und da gespickt von Sträuchern oder kleinen Bäumen. Ganz in der Nähe schlängelte sich ein Fluss durch die Landschaft, der im Sonnenlicht silbern glänzte, als befänden sich auf seinem Grund unzählige untergegangene Sterne. In der Nähe des Wassers entdeckte ich eine Herde von Przewalski – Pferden, die sich unter mehrere Ziegen und Schafe gemischt hatten.
An einem kahlen Baum hing etwas, das mich zuerst an ein COCKTAILKLEID erinnerte,
doch beim zweiten Mal hinsehen, erkannte ich, dass es sich lediglich um ein paar Stofffetzen handelte.
Blau für den Himmel.
Gelb für die Sonne.
Die Kinder tollten bereits umher, spielten Fangen oder etwas Ähnliches und ihr Lachen war so ungekünstelt und fröhlich, dass ich unwillkürlich mit einstimmen musste. Auch ihre Mutter lachte nun, ebenso wie ihr Mann, der sich zu uns gesellt hatte und selbst der jähzornige Usbeke konnte sich eines Lächelns nicht erwehren und diesmal war es ein ehrliches Lächeln, ein Lächeln, das zeigte, dass selbst der verschlossenste und griesgrämigste Mensch tief in seinem Inneren dazu fähig ist, Glück zu empfinden.
Ein Lächeln, das dazu in der Lage war, einen alles Schlechte vergessen zu lassen und
und einzig für den Augenblick zu leben und sei es auch nur für wenige Sekunden.
Denn bereits wenige glückliche Sekunden konnten ein Herz heilen und auf neue Pfade lenken, wenn man bereit war, es zuzulassen.
Mit dieser Gewissheit gingen die drei glücklichsten Stunden meines Lebens zu Ende.
© Fianna 17.08.2012