Ankunft in den Bergen
Eines grauen, unangenehmen Nachmittages kurz vor der Sommersonnenwende erreichten wir das einsame Bergdorf Ödplan. Froh waren Servitius und ich, die verfluchten Schluchten der Rappentäler hinter uns zu lassen. Während bei Servitius freilich die Erleichterung des Abergläubischen überwog, einer Gefahr entronnen zu sein, die nur in seiner düsteren Vorstellungswelt existierte, atmete ich freier, als wir die weiten Halden und Almen erreichten. Mir war, während wir die tief stillen Schluchten durchwanderten, als lasteten die unvordenklich alten Gebirgswände auf mir und drückten mir die Luft zum Atmen ab. Alberne Angst, die ich früher, bei meinen vielen Wanderungen durch die Rappentäler nie gespürt hatte. Doch waren mir die Grauen Gipfel früher auch nie so bedrohlich entgegen geleuchtet. Zu spät, als ich meine Absicht zur Pilgerfahrt nach Calip längst gefasst und den braven Bürgern von Rabenfeld kundgetan hatte, erst als es also keinen ehrenhaften Weg zurück mehr für mich gab, hatte ich bemerkt, wie beschwerlich mir die Querung der Grauen Gipfel diesmal fallen würde. Doch nach Calip musste ich, wollte ich nicht alle Achtung unter den Bürgern Rabenfelds und der gesamten Oberen Provinz verlieren, und nach Calip führten alle Wege – über die Grauen Gipfel.
Wir näherten uns den Häusern von Ödplan. Wenige stolze Berghöfe, eine Schenke, ein steinernes Heiligtum, und gut zwei Dutzend elende Hütten, vom immer wütenden Wind geschlagen, der über die Schutthalde oberhalb des Dorfes – das war alles, das war Ödplan. Ein sichtbar ausgetretener Pfad führte an dieser kaum nennenswerten, mir nur zufällig aus einigem Schriftverkehr unseres Fürsten bekannten Siedlung vorbei.
An der Gabelung, an der sich von diesem Pfad der Weg ins Dorf hinein trennte, sprach mich Servitius unvermittelt an: „Meister Vagans“, sprach er, „Euer untertänigster, doch wollet ihr bitte erwägen, Herberge in dem Dorf dort zu nehmen. Die Schatten werden lang und die Wege über die Halden sind unsicher.“
„Nein!“ gab ich barsch zurück, halb aus Ärger über Servitius‘ Vermessenheit, mich aus meinen Gedanken zu reißen, halb angetrieben von meiner ständigen Unruhe, auf dem Weg nach Calip zu eilen. „Nein“, wiederholte ich, „wir gehen weiter. Oder sag bloß, auf den Schutthalden laste ein Fluch ebenso wie auf den lieblichen Rappentälern?“
Es war undankbar von mir, Servitius, meinen treuen Begleiter zu verspotten, der unser Maultier mit den Lasten führte und selber ein schweres Bündel schulterte. Alle Diener waren vor meiner Schwermut und meinem Jähzorn weggelaufen, mir war alles recht gewesen, nur Servitius war geblieben. Nicht einmal, als ich ihm meine Pilgerfahrt nach Calip eröffnete, hatte er auch nur die leiseste Andeutung gemacht, seinen Abschied von mir nehmen zu wollen. Einen treueren Diener konnte es nicht geben.
„Mein Herr narre nicht die dunklen Mächten, die ihren mächtigen Fluch auf die Rappentäler gelegt haben!“ rief Servitius in einem Ernst aus, der nur gespielt sein konnte. Er wusste ganz gut, dass er mich mit dem dummen Aberglauben des Volkes weder überzeugen noch schrecken konnte. „Vor allem aber höre mein Herr auf seinen ergebenen Knecht“, fuhr Servitius fort, „der ihm rät, die Schutthalden nur im vollen Tageslicht und bei frischen Kräften queren zu wollen. Ein Fehltritt, ein rollender Stein, und schon kann eine ganze Halde losgetreten sein. Wie schnell sind uns alle Knochen und der Hals obendrein gebrochen und unsere modernden Kadaver für den Rest aller Ewigkeiten unter schwerem Geröll begraben!“
„Und wenn schon!“ schnaubte ich verächtlich zurück, „Was läge daran? Immerhin ein aufsehenerregendes Ende meines elenden Daseins.“
„Aber Herr!“ widersprach Servitius, „wollt ihr in die Ewigkeit treten, ohne den vergebenden Segen des Allerhöchsten Priesters empfangen zu haben?“
Abrupt blieb ich stehen, wie vom Donner gerührt von dem, was Servitius da sagte. Wirklich, ein schlauer Kerl, diese Seele von einem Diener, der genau wusste, wie er über seinen Herrn bestimmen konnte. Freilich war ich immun gegen die Schreckensbilder des Volksglaubens, der allerlei Mittelchen und Verhaltensmaßregeln lehrte, um dem Einfluss irgendwelcher finsteren Mächte, Dämonen oder Magier zu entgehen. Doch so sehr ich mich stützte auf meine Schriftkunde und alle meine vornehme Gelehrtheit, konnte ich mich doch nicht freimachen von den Drohungen, die mit der reinen, allgemeinen Lehre des Allerhöchsten Priesters von Calip unvermeidlich einhergingen. Eine dieser Drohungen war die Verdammnis, ewige Qualen nach dem Tode, sollte ein in Sünde gefallenes Menschenkind es verabsäumt haben, vor dem Ende seiner irdischen Existenz den vergebenden Segen erfleht und empfangen zu haben. Gesündigt musste ich haben, warum sonst hätte mich der Allherscher derart strafen und mir meine geliebte Frau und meine drei wunderbaren Kinder nehmen sollen? Ich fristete mein Dasein in der Gewissheit, des vergebenden Segens dringender zu bedürfen als irgendeine Person meines Standes in der ganzen weiten Oberen Provinz. Weswegen sonst hätte ich mein stattliches Haus in Rabenfeld verlassen und die beschwerliche Pilgerschaft aufnehmen sollen?
„Nun?“ erdreistete Servitius sich zu fragen, nachdem er mein Schweigen ein Weile betrachtet hatte. „Werden wir Herberge nehmen? Soll ich vorauseilen und eine Unterkunft beschaffen?“
Was dachte sich dieser Kerl nur? Dass es an ihm sei, über unsere Wanderung zu bestimmen? Was denn gar noch? Würde er morgen vorschlagen, ganz umzukehren eingedenk der Unbequemlichkeiten unserer Reise? Doch meine Beine waren müde und ich spürte, wie es mich am ganzen Buckel fror, als der kühle Gipfelwind über die Waldung daher strich. Noch zwei Stunden, vielleicht drei, dann würde die Sonne hinter den Bergketten verschwinden, und bald darauf wäre es stichfinstere Nacht. Servitius hatte Recht: Wir mussten rasten, zumal weil wir an diesem Tag tüchtig aufgestiegen waren und uns auf unserer ersten richtigen Etappe in den Bergen erschöpft hatten.
„Ach, zum Xatax!“ schimpfte ich.
Schwachen Trost fand ich in der Belustigung darüber, dass Servitius bei dieser fluchenden Anrufung des Herrschers allen Bösen gleich dreimal mit kreisender Handfläche vor seinem Leib das Zeichen zur Abwehr des Unglücks vollführte. Der gute Junge stand in Saft und Kraft mit seinen vielleicht fünfundzwanzig Jahren und hätte leicht einen Bären in die Flucht geschlagen. Diesen Mut bezog er wohl aus der ängstlichen Ehrfurcht vor dem namenlosen Bösen, das er überall in der Welt vermutete.
„Meinethalben, dann kehren wir halt ein in diesem Drecksnest da oben“, gab ich also nach, „doch bilde dir nicht ein, auf dich warteten nun weiche Decken und ein schäumender Humpen Wein! Morgen in aller Früh geht es weiter, dann wollen wir doch mal sehen, was es mit diesen ach so gefährlichen Schutthalden auf sich hat!“
Ein breites Grinsen der Genugtuung konnte sich Servitius gerade noch verkneifen, doch ich wusste sein Lächeln zu deuten als den Ausdruck des schlauen Dieners, dem sein Plan aufgegangen war.
* * * * *
Der Gastraum der Ödplaner Schenke war nicht mehr als eine halbwegs ordentlich hergerichtete Stube. Ihre besondere Verwendung zur Bewirtung von Gästen verriet allein der Umstand, dass der Wirt darauf verzichtet hatte, sein Vieh in der Stube einzustallen – eine Sitte, die uns Stadtmenschen zuwider, den Bewohnern der Bergdörfer freilich völlig selbstverständlich zu eigen war. Wenn also auch kein vierbeiniges Vieh in dieser Stube verkehrte, so stank sie doch nicht wenig nach den Ausdünstungen ungewaschener Körper und dem eingetrockneten, sauren Bier, das in Lachen auf zwei grob behauenen Tischen eintrocknete. Bei unserem Eintreten hatte der Wirt sich nicht gezeigt, und so hatten wir uns, das Maultier am Dorfbaum gut angebunden wissend, auf der einigermaßen behaglichen Eckbank niedergelassen. Servitius war sofort eingedöst, noch bevor er die Riemen seiner Stiefel lösen konnte. Ich selber starrte in düsteren Betrachtungen vor mich hin, unempfindlich gegen das reizvolle Lichtspiel, das die Strahlen der niedrig stehenden Sonne aufführten, als sie durch die dicken und unregelmäßigen Butzenscheiben der Schenke fielen. Immerhin echte Glasfenster, das ließ auf einen gewissen Wohlstand des Wirts und auf eine entsprechende, den notwendigsten Wünschen genügende Bequemlichkeit des Quartiers hoffen.
Als ich mich gerade fragte, wie lange der Wirt denn noch bei seinen landwirtschaftlichen Geschäften verweilen wollte, trat er auch schon ein. Die Brettertür zum Hof schepperte gegen die Wand, den Türrahmen erfüllte ein riesenhafter Kerl mit einem undurchdringlichen Bart so schwarz und dicht wie ein Dornengestrüpp. Ohne uns zu beachten, trampelte der Mann in die Stube und öffnete mit groben Händen ein ebenso grobes Schränkchen, aus dem er eine tönerne Flasche nahm. Hastig schüttete er sich zwei große Schlucke einer klaren Flüssigkeit in den Rachen und schüttelte sich genießerisch. Enzian-Schnaps, der Geruch war mir unverkennbar und meine Nase trotz der Ausdünstungen des schmierigen Schankraums zu gut. Noch zwei Schlucke, dann war der Wirt – nur er konnte es sein, nur durfte es wagen, sich am Schnaps in der Schenke zu vergreifen – endlich in der Lage, die Welt um sich herum wieder wahrzunehmen.
Langsam drehte er sich zu uns. Sein Erstaunen war nicht gespielt, er hatte uns wirklich zuvor nicht bemerkt. Krächzend sprach er uns an, allein, sein Akzent eines Bergmenschen war so stark, dass ich nur einzelne Silben verstand, den Sinn des Satzes insgesamt aber beim besten Willen nicht erfassen konnte. Ratlos sah ich ihn an.
Das macht ihn wütend: „Raus! Verschwindet! Saubande!“ brüllte er uns an. Diesmal hatte ich keine Probleme ihn zu verstehen.
Servitius auch nicht. Schon das bergländische Knarzen des Wirtes hatte ihn geweckt und das Brüllen gänzlich hochgeschreckt. Kaum hatte der Wirt das letzte der drei Worte fertiggebrüllt, war Servitius schon in zwei großen Sätzen zu ihm hingesprungen und baute sich vor ihm auf:
„Heda, Freundchen, was fällt dir ein?“ Rasch schubste er den Wirt zurück, schnell genug, damit der ihn nicht packen konnte. „Das ist keine Art, mit Meister Vagans umzugehen, dem Vielgelehrten und Ersten unter den Freunden unseres geliebten Fürsten vom Rabenfeld!“ So flüssig kam diese ehrfurchtgebietende Kette schimmernder Worte über Servitius‘ Lippen, dass es einen Augenblick lang den Anschein haben wollte, als ließe er sich davon beeindrucken. Mit irrem Zorn wanderte sein Blick zwischen Servitius und mir hin und her. Dann ging er zur Hoftür, und öffnete sie. Statt zu verschwinden, was mir auch nicht recht gewesen wäre, angelte er durch die Tür eine ungeheure Mistgabel von draußen. Ich verfluchte Servitius für seinen hochfahrenden Mut und erhob mich, um mit wohlgesetzten aber nicht zu demütigen Worten unseren Rückzug einzuleiten.
Doch der Wirt war schneller: „Verschwindet hier, wenn euch euer elendes Leben etwas bedeutet“, sprach er. „Wir brauchen keine Fremden, und wenn’s der selber Kaiser wär. Verschwindet und eilt! Wir haben den Wolfsmann um’s Dorf herum und kämpfen um unser eigenes Leben jede Nacht. Da braucht’s keine Fremden, die wir hüten müssen. Eilt, dann erreicht ihr noch vor der Nacht den Waldessaum, wo euch der Wolfsmann kaum wird zu behelligen wagen.“
So ganz wollte mir dieses Argument nicht einleuchten, umso besser verstand ich, wie ernst die Mistgabel in der Hand des Wirtes zu nehmen war.
„Vermaledeiter!“ schimpfte Servitius leider dazwischen, „in Ketten werden die fürstlichen Büttel dich von deinem Misthaufen von Berg zerren für diese frevelhafte Beleidigung!“ Weiter kam er nicht, denn nun brüllte der Wirt von neuem, Worte, die ich wiederum nicht verstand, dazu schwang er die Mistgabel.
Ohne Zweifel hätte er meinen braven, wenngleich vorwitzigen Servitius aufgespießt, wäre da nicht die Eingangstür der Gaststrube aufgeflogen und ein einfach aber gepflegt gekleideter alter Mann erschienen, dessen silbergraues Haar unter seinem samtenen Barrett sein vorgerücktes Alter verriet.
„Rodmal!“ rief der Alte dem Wirt zu, „genug! Halt ein, das genügt!“ Aufs Wort gehorchte der Wirt. Er wandte sich ab und pfefferte die Mistgabel durch die immer noch offenstehende Hoftür, um schließlich, als wäre nichts gewesen, einen weiteren großen Schluck Enzian aus der Tonflasche zu genießen.
„Willkommen, Reisende, sofern ihr in Frieden kommt“, begrüßte uns der Alte.
„In Frieden kommen wir und Frieden wünschen wir“, erwiderte ich gewandt und mit einer angemessen knappen Verbeugung.
„Doppelt willkommen also in Ödplan“, sagte der Alte. „Mein Name ist Bagur, ich bin der Dorfälteste. Und ihr seid gewiss der vielberühmte Meister Vagans, Verweser der fürstlichen Güter und Lehrer der Schule vom Rabenfeld?“
„Eben der“, antwortete ich mit einer weiteren Verbeugung, die mir aus lauter Erleichterung zu tief geriet. „Doch wollen wir Eurem freundlichen Gruße nicht verziehen, unsere Wanderschaft fortzusetzen, denn nicht allen scheinen wir willkommen.“ Ich blickte zum Wirt, der sich friedlich an einem seiner Tische niedergelassen hatte. „Und wenn wir kein gastliches Quartier bekommen, können wir ebenso gut unsere Reise fortsetzen.“
„Aber nein, aber nein!“ wehrte Bagur ab, „so denkt ihr hin? Ihr seid willkommen, und ein Quartier für euch und euren Diener…“
„Servitius, untertänigst!“ quakte der freche Bursche.
„Für euch und euren Diener also steht Quartier zu Gebote. Unser tapferer Wirt hier hat schon lange keine Gäste mehr aufnehmen können und wird sich freuen, ein paar Groschen zu verdienen. Stimmt’s nicht, Rodmal?“
Unser reizender Wirt grunzte zustimmen und untersuchte seinen struppigen Bart dann angelegentlich auf etwaiges Getier, dass in dieser Gesichtshecke eine Heimat gefunden haben mochte.
„Doch der Wolfsmann?“ wandte ich ein. Mir wäre es lieb gewesen, das Dorf zu verlassen. Es war nicht die Eile, die mich trieb, sondern eine unbestimmte, doch ganz und gar beherrschende Unbehaglichkeit, die mir einsagte, nicht eine Minute länger und gewiss keine ganze Nacht in Ödplan zu bleiben.
„Ach, der Wolfsmann“, antwortete Bagur, „der wird uns heut Nacht schon in Ruhe lassen. Heda, Rodmal, einen Krug Apfelwein, aber nicht aus deinem Fass, aus dem meinigen! Und hurtig, wenn’s beliebt. Unsere teuren Gäste werden durstig sein und sich des Apfelweins erfreuen, während dein Taugenichts von einem Knecht gütigst das Maultier unserer Freunde hier von seinen Lasten befreien, tränken und einstallen wird. Verstanden?“
Nicht eilfertig, aber doch gefügig machte sich der Wirt an sein Geschäft und rumpelte in ein Nebengelass. Es schien seinen Stolz nicht zu kränken, von diesem alten Männchen Befehle entgegen zu nehmen. Im Handumdrehen war er mit einem kapitalen Krug voll schäumenden Apfelweins und drei blitzsauberen irdenen Bechern zurückgekehrt und schenkte uns ein, ehe er wieder zum Hof hinaus verschwand, um seinem Knecht Befehle zuzubrüllen.
„Willkommen abermals in Ödplan!“ prostete Bagur uns zu. Wir tranken. „Ihr seid um so willkommener, als wir weisen Rates in der Tat bedürfen, soll uns der Wolfsmann nicht alle holen im nächsten Winter. Ihr werdet uns doch helfen, Meister Vagans?“