Kurzgeschichte
Zeitlos

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"Zeitlos"
Veröffentlicht am 15. August 2012, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will? Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.
Zeitlos

Zeitlos

Beschreibung

Mein Beitrag zum Storybattle 16. Begleitet den wahrscheinlich wenig sympathischen Protagonisten, während dieser einige Stunden auf einem Flughafen festsitzt. Der Joker wurde verwendet, der Begriff "Zeitungsente" ausgelassen.

 

Zeitlos

Die Menge quoll aus dem Bus und riss den Mann im hellen Anzug mit sich, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte. Hastiges Geschwätz übertönte die hochtönige Folklore, die aus dem Kofferradio des einheimischen Busfahrers plärrte. Ausgefranste Strohhüte ragten ihm entgegen, Schweiß perlte auf gebräunter Haut, Gestank sickerte durch die brütend heiße Mittagsluft.
Er stolperte die Treppe hinunter aus dem Fahrzeug, entwand sich mit ein paar schnellen Schritten dem Gewimmel und fand sich sogleich auf dem Vorplatz des kleinen Inselflughafens wieder. Hastig nahm er ein paar kurze Atemzüge, wobei sein Herz darüber frohlockte, dem Schweißgestank des Buses entkommen zu sein. Sein Blick flog über die Menge und er spürte, wie seine Gesichtszüge sich vor Ekel verzerrten. Direkt voraus grölten einige Jugendliche,

 

Sauftouristen, eingemachte Ruhrpott-Proleten. Einer von ihnen war JÜRGEN MILSKI wie aus dem Gesicht geschnitten, dass er schon fürchtete, man würde ihn gleich darum bitten, aus einem Buchstabensalat einen Tiernamen zu basteln. Doch nichts der Gleichen geschah. Stattdessen zog eine Familie vorbei, deren Angehörige allesamt die Fettleibigkeit gepachtet hatten, und ließen sein Frühstück in seinem Magen einen wilden Tango vollführen. Er schnappte einige Wortfetzen auf und es beschämte ihn, dass sie offensichtlich aus demselben Staat stammten wie er.
Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich den Schweiß mit einem Seidentuch von der Stirn und trat den kurzen Weg zum Eingang des Flughafens an. Die dahinter liegende Halle war gänzlich verglast, tatsächlich hatte er auf der gesamten Insel kein Gebäude gesehen, das auch nur annähernd so modern wirkte wie dieses.

 

Dennoch empfand er es als ausgesprochen hässlich. Er hastete über die hellen Fliesen, sein Koffer, den er hinter sich her schleifte, klapperte an jeder Fuge. Eilig suchte er eine Anzeigetafel, die ihm verkünden konnte, wo er sein Gepäck aufgeben solle, doch aus der einzigen, die er entdeckte, starrte nur Schwärze zurück. Ein junger Eingeborener mit tiefbrauner Haut balancierte auf einer filigranen Aluminiumleiter, während er mit einem VOLTMETER, einem Schraubenzieher und etwas, das nach einer Art FERNBEDIENUNG aussah, hantierte.
Kopfschüttelnd wandte er sich ab und versuchte, Näheres in Erfahrung zu bringen. Er entdeckte einen alten Mann, der einen Overall des Flughafenpersonals trug, mustere ihn kurz, tippte ein paar Mal mit Mittel- und Zeigefinger gegen seinen Oberschenkel, bevor er sich dazu überwand, an den Mann heranzutreten.

 

Er erkundigte sich nach seinem Flug und zeigte sein Ticket vor, doch der Greis zuckte nur mit Schultern, während sich auf seinem gegerbten Gesicht die Falten immer tiefer gruben.
Ein paar Worte der hiesigen Sprache schallten ihm entgegen, von denen er keines verstand, was anscheinend auch der Alte bemerkt hatte, da dieser nun wild zu gestikulieren begann.
Für ihn war jedoch klar, dass er sich nicht dazu erniedrigen würde, sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen, lagen hier doch nicht bloß KOMMUNIKATIONSSCHWIERIGKEITEN, sondern schiere Kommunikationsunmöglichkeit vor.
Ebenso gut hätte er versuchen können, seiner zahnlosen Mutter die Funktion eines BIOMASSEKRAFTWERKS zu erklären.
Er wandte sich von dem Greis, ab während dieser immer noch wild gestikulierte.

 

Er spürte den verständnislosen Blick in seinem Nacken, der ihn jedoch nicht kümmerte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, eine hübsche, junge Dame wandte sich an ihn, die ebenfalls zum Flughafenpersonal gehörte. Erstaunlicherweise beherrschte sie seine Sprache besser als die Sauftouristen vom Vorplatz, obwohl sie augenscheinlich auch von der Insel stammte. Wortlos hielt er ihr sein Ticket vor die Nase. Sie mustere die Flugnummer und offenbarte ihm, dass sein Flug drei Stunden Verspätung haben würde. Die Maschine sei in Amerika mit einer anderen zusammengestoßen, es würde ein Ersatzflugzeug kommen müssen, er könne sein Gepäck jedoch schon am Schalter aufgeben.
„Drei Stunden“, die Gewissheit brannte sich in seinen Schädel. Dieser Ort ekelte ihn jetzt schon an. Er nickte der Frau kurz zu und machte sich auf den Weg zum Check-In,

 

 

wobei er seine Schritte stetig verlangsamte. Das wenige, was er noch zu tun hatte, gedachte er, so langwierig wie möglich zu gestalten.
Obwohl sich alle Schlangen in der Kürze überboten, wählte er doch die vermeintlich längste. Plötzlich gab es rechts von ihm ein Problem mit Übergepäck. Ein untersetzter Mann schleifte seine gewölbte Reisetasche vom Schalter zu einer Säule, wo er einige Urlaubssouvenirs herauskramte und in seinem Handgepäck verstaute. Dabei handelte es sich um Steine, die den Eindruck erweckten, als würden sie jeweils zehn Kilo wiegen.
„Idiot!“, dachte der Mann im Anzug, während in der linken Schlange ein Flugticket achtmal überprüft werden musste, bevor man einsah, dass das Lesegerät defekt war und ein Neues besorgt werden musste.
All das führte dazu, dass er schließlich an seiner vermeintlich längsten Schlange am schnellsten zum Ziel gelangte.

 

„Wenn ich nicht noch drei Stunden warten müsste, hätte mich das gefreut“, dachte er auf dem Weg zur Sicherheitskontrolle.
Plötzlich fand es sich hinter der fettleibigen Sippe wieder, deren Patriarch es zum Verhängnis wurde, dass er alle Elektrogeräte, Ladekabel, Kopfhörer und Chipkarten in einen Sack gestopft hatte, der im Inneren seines Rucksacks schlummerte. Bei der Durchleuchtung sah dieses Wirrwarr für die Sicherheitsleute arg nach einer Bombe aus und Sekunden später wurde der mehrfache Familienvater mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen, seinen Rucksack zu entleeren.
Dem Mann im Anzug entlockte dies ein müdes Lächeln.
Beinahe zehn Minuten dauerte es, bis sich die Situation endlich aufklärte. Dabei hatten die hysterischen Schrei der Ehefrau weitaus bedrohlicher gewirkt, als die gezogenen Schusswaffen oder die Projektion der vermeintlichen Bombe.

 

Bei ihm selbst verlief die Sicherheitskontrolle problemlos und so folgte er der Menge auf den Friedhof der Wartenden, den Bording-Bereich, vor dem jegliche sinnvolle Tätigkeit erstarb.
Nun verlangte es nach KRISENMANAGEMENT.
Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, die dort auf den tiefen Metallstühlen vor sich hin vegetierte, entdeckte die Sauftouristen, die den erstbesten Laden stürmten, um sich mit Dosenbier einzudecken; zwei Abiturienten unterhielten sich über die bevorstehende IMMATRIKULATION, ein älterer Mann in der Arbeitskleidung des Flughafenpersonals focht mit dem DOSENÖFFNER seines Schweizer-Taschenmessers einen aussichtslosen Kampf gegen eine Konservenbüchse mit eingelegten Pfirsichen, etliche Leute versanken in den Displays ihrer Smartphones.

 

Auch der jungen Techniker, der versucht hatte, die Anzeigetafel in der Eingangshalle zu reparieren, fand sich unter den Menschen. Er sah, dass der Junge humpelte, und vermutete, dass ihm der Balanceakt auf seiner Aluminiumleiter nicht gänzlich geglückt war.
Zielstrebig durchmaß der Mann im Anzug die Halle auf dem Weg zum Zeitungsstand, wo er tatsächlich eine Tageszeitung aus seiner Heimat fand, deren Schlagzeile jedoch stellvertretend für ihren gesamten Inhalt stand: RENTNERDEMONSTRATION.
Mühsam machte er sich daran, die zähe Lektüre durchzukauen, während eine weibliche Stimme durch den Lautsprecher irgendetwas vermeldete, das unmöglich zu verstehen war. Er konnte nicht sagen, ob dies nun an ihrem grausigen Akzent, der schlechten Qualität der Anlage oder der verzerrenden Akustik der Halle lag, doch faktisch kümmerte es ihn ebenso wenig, wie die Proste betagter Mitbürger, von denen die Zeitung berichtete.

 

Sein Geist glitt hinfort von den Zeilen aus Druckerschwärze, zum azurblauen Meer, zu den weißen Stränden, die sich an die sanfte See schmiegten, den Bars mit ihren einheimischen Musikern, den hübschen Damen in ihren COCKTAILKLEIDERN, dem Glitzern am Boden eines leeren Whiskeyglases.
Seine Gedanken schweiften über die Strände der Insel hinaus in das Meer der Vergangenheit und von dort aus in die unbekannten Tiefen der Zukunft, und als er über diese nachdachte, fragte er sich, warum er so sehnlichst auf die Ankunft seines Fliegers wartete.
Die Antwort ließ ihn derart lange warten, dass er die Frage verwarf. Stattdessen starrte er erneut in die Halle und es war ihm, als hätte man die Mienen der Wartenden nach einem primitiven Muster geformt. Entweder überspielte überschwängliche Freude zehrenden Kummer, oder zehrender Kummer überspielte überschwängliche Freude.

 

Man ersehnte die Heimat oder spürte den schmerzenden Abschied.
Er fragte sich, was er spürte, doch auch dieses Mal verwehrte sich ihm die Antwort.
Ein Baby kreischte, bis sein Trommelfell schmerzte, immer mehr Menschen drängten sich in die Halle, langsam wurden die Sitzplätze knapp, irgendwo sprachen Leute über den Flug nach Basel.
„Basel“, dachte er, „Wahrscheinlich wäre ich schneller gewesen, wenn ich zunächst dorthin geflogen wäre und mir dann einen anderen Anschluss gesucht hätte.“
Eine Alternative, die nun nicht mehr in Betracht kam. Er blickte auf seine Platinuhr, deren Zeiger langsam gegen die verbleibende Stunde kämpften. Die Zeit verging zäh wie Teer, der alte Mann malträtierte immer noch seine Pfirsichkonserve, die Sauftouristen stießen zur nächsten Runde Dosenbier an, die fettleibige Familie verleibte sich gemeinsam belegte Brote

 

ein und er, er ging wieder den Schwaden seiner Gedanken nach, unterbrochen nur von der Manie, mit Ablauf jeder Minute einen Blick auf das Ziffernblatt seiner Uhr zu werfen.
Als auch die letzten Minuten schließlich verrannen, war die Familie gesättigt. Der Alte hatte es endlich geschafft, seine Dose zu öffnen und machte sich gierig über ihren saftigen Inhalt her, die Ruhrpott-Proleten lächelten heiter, verabschiedeten sowohl die Insel als auch ihre Nüchternheit mit lautem Grölen.
Auch er erhob sich und auf dem Weg zum Bus, der ihn zu seinem Flugzeug bringen sollte, malte er sich aus, wie er seinen Freunden daheim bei einem Bier von dem Familienvater erzählen würde, dessen Elektrogeräte man für eine Bombe gehalten hatte, von dem Alten, der beinahe eine Stunde mit seiner Konservendose gerungen hatte, vom gescheiterten Balanceakt des jungen Technikers und davon wie die Sauftouristen das Ende ihres Urlaubs gefeiert hatten.

 

hatten.
Plötzlich musste er sich eigenstehen, dass es über diese drei Stunden mehr zu berichten gab, als über die zwei Wochen, die er an Stränden und in Bars verbracht hatte, und plötzlich erschien ihm die Antwort auf die Frage, was er fühlte, glasklar:
Dankbarkeit.

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Über den Autor

Crawley
Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will?
Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.

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EagleWriter Friedhof der Wartenden :-)

lg
E:W
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Bei solchen Mitreisenden macht warten doch noch Spaß.
Gefällt mir, deine Geschichte, weil sie sich flüssig lesen lässt und von vorne bis hinten kann man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Liebe Grüße
Fianna
Vor langer Zeit - Antworten
baesta Nette Geschichte - und gut und kurzweilig erzählt. gefällt mir.

LG Bärbel
Vor langer Zeit - Antworten
Crawley Re: Das -
Zitat: (Original von Luzifer am 15.08.2012 - 17:45 Uhr) ja mal eine lustige Erzählung.
Vor allem die Stelle mit der Flugbegleitung, die die einheimische Sprache besser sprach, als die Sauftouristen, fand ich klasse.
Auch die Formulierung "Friedhof der Wartenden" trifft es so passend, dass ich versuchen werde mir diesen Ausdruck zu merken, da er sich auch noch auf viele andere Situationen anwenden lässt.
Allein bei der fettgeplagten Familie war ich wohl masochistisch veranlagt, weil ich mir noch dachte, dass sie zum Glück keine Tangas trugen. =D

Achso, auf der letzten Seite scheint ganz unten noch ein kleiner Teil verschwunden zu sein. Jedenfalls zeigt dies meine Ansicht an.

Schöne Grüße
Luzifer


Ah, danke für den Hinweis. Da hat die Formatierung tatsächlich noch ein Wort verschluckt. Werde das mal ändern...
Vor langer Zeit - Antworten
Luzifer Das - ja mal eine lustige Erzählung.
Vor allem die Stelle mit der Flugbegleitung, die die einheimische Sprache besser sprach, als die Sauftouristen, fand ich klasse.
Auch die Formulierung "Friedhof der Wartenden" trifft es so passend, dass ich versuchen werde mir diesen Ausdruck zu merken, da er sich auch noch auf viele andere Situationen anwenden lässt.
Allein bei der fettgeplagten Familie war ich wohl masochistisch veranlagt, weil ich mir noch dachte, dass sie zum Glück keine Tangas trugen. =D

Achso, auf der letzten Seite scheint ganz unten noch ein kleiner Teil verschwunden zu sein. Jedenfalls zeigt dies meine Ansicht an.

Schöne Grüße
Luzifer
Vor langer Zeit - Antworten
kkm1979 Re: Re: -
Zitat: (Original von Crawley am 15.08.2012 - 16:16 Uhr)
Zitat: (Original von kkm1979 am 15.08.2012 - 15:54 Uhr) Von Anfang bis Ende nachvollziehbar, aber solltest du das Wort Rentneraufstand in Rentnerdemonstration ändern : )) oder aber es wurde so erlaubt, dann hab ich nichts gesagt : ))

GLG
kkm : ))


Arg!^^ Danke


gerne : )))
Vor langer Zeit - Antworten
Crawley Re: -
Zitat: (Original von kkm1979 am 15.08.2012 - 15:54 Uhr) Von Anfang bis Ende nachvollziehbar, aber solltest du das Wort Rentneraufstand in Rentnerdemonstration ändern : )) oder aber es wurde so erlaubt, dann hab ich nichts gesagt : ))

GLG
kkm : ))


Arg!^^ Danke
Vor langer Zeit - Antworten
kkm1979 Von Anfang bis Ende nachvollziehbar, aber solltest du das Wort Rentneraufstand in Rentnerdemonstration ändern : )) oder aber es wurde so erlaubt, dann hab ich nichts gesagt : ))

GLG
kkm : ))
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