Biografien & Erinnerungen
Ich hätte gern Rhabarberohren

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"Ich hätte gern Rhabarberohren"
Veröffentlicht am 05. Mai 2008, 8 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

Es fällt mir nicht leicht, etwas über mich zu schreiben. Also ganz kurz: 52 Jahre alt,glücklich geschieden, Mutter von drei Superkindern, Psychologisch-technische Assistentin - fühle mich viel jünger als ich bin. Noch Fragen, dann fragt ruhig, ich stehe jederzeit Rede und Antwort.
Ich hätte gern Rhabarberohren

Ich hätte gern Rhabarberohren

 

Vor ein paar Jahren bekamen meine Kinder Besuch von Freunden. Schon an der Haustür merkte ich, dass einer der Freunde Probleme hatte. „Dirk, kann ich mal mit dir reden?“ fragte er. Ich fühlte mich in meine Jugend zurückversetzt.  Als ich in dem Alter meiner Kinder war, war ich der Seelendoktor für alle meine Freunde. Wie oft bekam ich Besuch von jemandem, der einen guten Rat brauchte? Ich war immer gern bereit zu helfen, sofern ich das konnte.

Auch als meine Kinder kleiner waren, kam es oft vor, dass Freunde sie besuchten, sich aber mit ihren Problemen oder auch Problemchen an mich wandten.

Ich muss da z.B. an eine Freundin von Swea denken, die in einer Pflegefamilie lebte. Als ich von der Arbeit kam, saßen die Mädchen in Sweas Zimmer. Jessica sagte zu mir: „Ich geh nicht mehr zurück, ich will bei dir bleiben. Kannst du nicht meine Pflegemutter werden?“

Wie sollte ich einem 9-jährigen Mädchen beibringen, dass man sich seine Pflegeeltern nicht aussuchen kann und dass es ein langer Weg ist, Pflegekinder aufzunehmen. Ich schlug ihr also vor, dass sie ja jederzeit zu mir kommen könne, wenn sie mit mir reden wolle, aber wohnen bei uns ging leider nicht. Mit hängenden Schultern zog sie ab zu ihren Pflegeeltern und murmelte dabei: „Ich hau ab, das werdet ihr schon sehen.“

Am nächsten Tag, als ich wieder von der Arbeit kam, saßen die beiden Mädchen schon wieder in Sweas Zimmer, allerdings war diesmal auch Jessicas Schultasche da. Die Kleine strahlte mich an: „Ich bin abgehauen, ich bleibe jetzt hier. Ich bin direkt vom Bus mit zu Swea gegangen. Zurück geh ich nicht mehr – nie mehr.“ Ich setzte Jessica auf meinen Schoß, strich ihr übers Haar und sagte: „Das geht nicht, Jessica, ich habe es dir doch erklärt. Deine Pflegemama macht sich jetzt bestimmt große Sorgen. Sie hat dich doch lieb. Ich rufe sie an, damit sie sich keine Sorgen mehr macht.“ Jessica sprang auf mit hochrotem Kopf und schrie: „Nein, nicht anrufen, ich will da nicht mehr hin, nie mehr.“ Ich nahm sie in den Arm, streichelte sie und redete beschwichtigend auf sie ein. „Wer ist denn auf dem Jugendamt für dich zuständig, weißt du das?“ Leise nannte sie mir den Namen. „Gut“, sagte ich, dann rufe ich jetzt erst einmal die Frau an und dann deine Pflegemutter. Wenn du nicht mit ihr allein reden möchtest, bin ich dabei, kein Problem, du musst es nur sagen.“

Sie sah ein, dass es nicht anders ging, hakte aber trotzdem noch einmal nach: „Du bist dabei, wenn ich mit ihr spreche, versprochen?“ „Versprochen.“

Also hängte ich mich ans Telefon, rief beim Jugendamt an, verlangte die für Jessica zuständige Person und erklärte die Sachlage. Anschließend rief ich die Pflegemutter von Jessica an und erzählte ihr, dass sie sich keine Sorgen mehr machen brauche, da das Mädchen bei mir war. „Ich hol sie ab“, klang barsch aus dem Hörer. Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte sie schon aufgelegt. Kurz darauf stand sie vor der Tür. Sie wirkte ziemlich aufgebracht. Irgendwie konnte ich sie ja verstehen, aber für das Kind war das momentan wirklich nicht gut. Also machte ich erst einmal einen Kaffee und bat sie ins Wohnzimmer. „Lass den Kindern doch noch ein wenig Zeit“, bat ich. Jessica wird gleich runterkommen und dann können wir reden.“

Mit hängenden Schultern, die Schultasche hinter sich herziehend kam die Kleine angeschlurft. Ihr Blick bat mich, bei ihr zu bleiben. Also tat ich das auch. Meine Anwesenheit bewirkte sicherlich, dass die Pflegemutter nun recht ruhig mit ihr redete und sie bat, ihr zu erklären, warum sie das getan habe.

„Ihr schimpft immer so viel“, kam leise aus ihrem Mund; „Und ich darf vieles nicht. Ich muss immer so früh ins Bett und Fernsehen gucken darf ich gar nicht.“ Sie tat mir wirklich leid. Ach, hätte ich doch auch Pflegekinder aufnehmen dürfen, ich hätte sie sofort bei mir behalten. Es ging ja aber leider nicht. Also rief die Pflegemama beim Jugendamt an und bat darum, dass die für Jessica zuständige Person sich noch am gleichen Tag um die Angelegenheit kümmern würde.

Später habe ich erfahren, dass Jessica noch am selben Tag die Pflegefamilie gewechselt hat und dass sie auch noch einmal darum gebeten hat, zu mir zu kommen. Das weiß ich durch einen Anruf der Mitarbeiterin des Jugendamtes, die mich anrief und mir sagte: „Sie sind eine gute Mutter.“ „Woher wollen Sie das wissen“, fragte ich, „Sie kennen mich doch gar nicht.“ „Nein“, antwortete sie: „Aber so, wie Sie reagiert haben, reagiert eben eine gute Mutter.  Sie reden mit den Kindern und das ist sehr wichtig.“ Stimmt, das empfinde ich auch so. Ist schon toll, vom Jugendamt bestätigt zu bekommen, eine gute Mutter zu sein.

 

Aber nun endlich wieder zum eigentlichen Thema meines Berichtes:

Da stand nun also der Freund meiner Kinder mit offensichtlichen Problemen. Sofort war ich zur Stelle, um helfen zu können. Swea schob mich zur Seite und sagte: „Mama, lass mal, wir machen das schon. Du hattest deine Zeit, jetzt sind wir dran.“

Ich fühlte mich irgendwie abgeschoben, nutzlos und auch ein wenig leer. Hatte ich jetzt ausgedient? War meine Zeit jetzt wirklich vorbei? Sicher, ein wenig Stolz war auch dabei, die Kinder zu Seelentröstern erzogen zu haben. Es ist ein gutes Gefühl, zu sehen, dass mein Leben sich in gewissen Phasen wiederholt durch meine Kinder, dass sie gefordert werden, gebraucht werden, wie es einst bei mir war.

Wenn da nur nicht diese unheimlich große Neugier wäre. Soll ich nicht vielleicht doch eingreifen? Mit meiner Lebenserfahrung kann ich sicherlich sehr dienlich sein. Andererseits haben sie mir klar zu verstehen gegeben, dass ich nicht gebraucht werde. Sicher, ich traute ihnen zu, die Angelegenheit sehr gut allein zu regeln, aber worum ging es denn da überhaupt? Konnte ich nicht vielleicht wenigstens den einen oder anderen Wortfetzen aufschnappen? Ich könnte ja hingehen und ihnen etwas zu Trinken anbieten, das wäre nur höflich. Dabei würde ich dann vielleicht etwas länger als nötig in der Tür stehen bleiben. Das würde mir dann die Gelegenheit geben, mir einen kleinen Einblick zu verschaffen. Ganz zufällig würde ich dann den einen oder anderen Ratschlag einwerfen ohne aufdringlich zu erscheinen.

Schweren Herzens entschloss ich mich dagegen. Nein, ich würde mich da nicht einmischen. Meine Kinder machen das schon. Jetzt ist ihr Part – meine Zeit ist vorbei.

Außerdem, dass wusste ich, würden sie mir hinterher sowieso davon erzählen und mich fragen, ob ich meine, dass sie die richtigen Ratschläge gegeben haben.

Also nur etwas Geduld und keine Rhabarberohren.

Es kam so, wie ich es mir gedacht habe. Meine Kinder haben die Situation sehr gut gemeistert. Zufrieden und mit einem fröhlichen: „Bis später dann.“ Verabschiedete sich ihr Freund. Mir wurde nun Bericht erstattet. Sie haben sich sogar für meine Zurückhaltung bedankt.

Aber ehrlich, leicht gefallen ist es mir nicht.

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Hörbuch

Über den Autor

Chrissy55
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