Prolog
15. Abenddämmerung. 773 ÄIII n.Br.
Pietro Merano schlenderte über die kalkweißen Kieselsteine, die im mittäglichen Schein der Frühlingssonne glühten. Obgleich der Boden unter seinen nackten Füßen brodelte, ging er ohne Hast. Lange Märsche hatten seine Sohlen gestählt, dass er die Hitze kaum spürte. Stattdessen genoss er die frische Küstenbrise, das goldene Glitzern, mit dem sich die Sonne im kristallklaren Wasser spiegelte, das Krächzen der Möwen, das von Fern durch den Wind wisperte. Er liebte die Ostküste, so wild
und ungebändigt, so weit entfernt von den Städten, Dörfern, Burgen und Schlössern mit ihren Regeln, ihrer Konformität. Jedes Mal, wenn er zu Beginn des Winters nach Osten aufbrach, schmerzte es ihn, sie verlassen zu müssen, doch umso mehr frohlockte sein Herz, sobald er im Frühjahr zu jener windschiefen Bretterbude zurückkehren konnte. Auf der gesamten Reise hatte er jeden Abend vor dem Schlafengehen fiebrig gezittert, als sich die Erwartung der goldenen Küste seiner Träume bemächtigt hatte. Am gestrigen Tage war er endlich angekommen, hatte sein Fieber in einer einzigen Nacht kuriert und war am nächsten Tag gleich
mit den ersten Sonnenstrahlen als ein komplett neuer Mensch aufgestanden. Den Morgen über hatte er sein altes Boot wieder seetauglich gemacht, das er jeden Winter zurücklassen musste. Marlene hieß es, nach der Frau, die er geliebt hatte, bis sein Herz ihn fort getrieben hatte, an die Ostküste.
Der Kahn hatte dem Winter gut getrotzt und so war es ihm gelungen, die wenigen nötigen Reparaturen noch vor dem Mittag abzuschließen, sodass er nun den Kiel über den Kies zerrte, dem azurblauen Meer entgegen.
Sein Herz schlug höher, als das Wasser sich um seine Füße schmiegte und Marlene von den Wellen getragen, leicht
zu schwanken begann. Mit einem Freudenschrei sprang er an Bord, befreite seinen Leib von dem Leinenhemd, das ihn einschnürte, ließ die Sonne seine gegerbte Haut küssen. Ein altes Seemannslied pfeifend schwang er das Paddel, trieb Marlene hinaus auf die See, die so klar war, dass er jeden Kieselstein am Grund nachzeichnen konnte.
Der geschulte Blick seiner Augen, die so blau strahlten wie der Himmel selbst, folgte einer jeden Erhebung auf der Suche nach Muscheln oder Schwämmen. Aus den Tiefen der gläsernen See funkelte ein Universum unbekannter Farbenpracht. Goldgelbe Fische schossen
zwischen den violetten Korallen hindurch, tiefgrüne Algen reckten sich aus den Riffen empor, eine Moräne schlängelte sich feuerrot durch den sandigen Untergrund.
Schließlich machte er in die gewellten Mäuler mehrerer Muscheln aus, die sich wie gigantische Reliefs aus dem Grund erhoben.
Sogleich packte er seinen Anker, einen klobigen Steinbrocken, um den sich ein dickes Tau wand, und schleuderte ihn über die Reling. Mit einem lauten Platschen glitt er ins Wasser hinab. Marlene wankte kurz, während Pietro sich bereits seinen Gürtel anlegte. Eine Schnalle und zwei Taschen hingen daran
herab, um ein schartiges Messer, Steine für den Abtrieb und Platz für Perlen, Schwämme oder Muschelfleisch zu beherbergen.
Er stellte sich an die Reling, füllte seine Lungen mit Luft, flachte seinen Atem ab. Der erste Tauchgang war stets eine Herausforderung, aber eine Freude zugleich. Ein letztes Mal pumpte er die Seeluft in seine Brust, bevor er in das kühle Nass glitt. Gezogen vom Gewicht der Steine sank er dem Grund entgegen, schnellte zu den Muscheln hinüber und starrte auf die gewaltigen Kalkkiefer. Obwohl sie steinern und unbeweglich wirkten, fürchtete er stets, dass die gewellten Mäuler zuschnappen
könnten.
„Seemannsgarn!“, zischte er sich in Gedanken an, wissend, dass auch die Luft seiner geübten Lungen nicht ewig reichen würde. So fuhr er mit seiner Hand zwischen die steinernen Kiefer, ließ seine Finger über das samtige Innere gleiten. Kaum die Hälfte hatte er ertastet, als seine Lungen ihn zum Auftauchen drängten.
Er schüttete die Steine aus seiner Tasche auf den Grund, schnellte nach oben und durchbrach den Schirm des Wassers. Vor ihm trieb immer noch Marlene, an deren Reling sich ein Sack mit weiteren Steinen befand. Nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte, langte er hinein
und füllte seine Tasche erneut, um darauf wieder hinabtauchen zu können. Untern angelangt setzte er seine Suche im Maul der Muschel fort. Fast wollte er sie abschreiben, als seine Finger an etwas Hartes, Glattes stießen. Er langte tiefer hinein. Was auch immer er gefunden hatte, verbarg sich weit im Inneren der steinernen Kiefer. Schließlich umfing er es. Eine Perle, da war er sicher. So groß, dass er kaum die Hand darum schließen konnte. Die Vernunft gebot ihm, ein weiteres Mal aufzutauchen, doch das Fieber hatte ihn ergriffen. Er riss und zerrte an ihr. Seine Finger glitten ab, schnitten sich an den verkalkten Kanten. Ein dünner purpurner
Schleier stieg vor ihm auf, bevor er sich in der Weite des Meeres verlor.
Pietro gab nicht auf, er versuchte es erneut, langte wieder zu und dieses Mal gelang es ihm, die Perle zu lösen. Langsam glitt sie in seiner Hand aus dem Maul. Er klappte die Finger auseinander und makellose Schwärze funkelte ihm entgegen. Ihre Tiefe verschluckte seinen Blick. Sie war riesig, unbezahlbar. Alles, was er in fünf Jahren erwirtschaftet hatte, verblasste vor diesem Fund zur schieren Bedeutungslosigkeit. Seine Lungen pochten. Er musste auftauchen, doch als er seinen Blick von der Perle abwandte erkannte er, dass alles plötzlich ebenso
dunkel war wie das Perlmutt. Als er nach oben blickte, prangerte dort ein gewaltiger Schatten in den Wellen, neben dem sich Marlenes Umrisse winzig ausnahmen.
„Ein so großes Schiff so nah an der Ostküste?“, drang es durch seinen Kopf, aber er hatte keine Zeit, diesem Gedanken weiter nachzugehen, weil seine schwindenden Luftreserven ihn zum Auftauchen zwangen. So stieß er sich hinauf und schnellte einige Meter vor dem gewaltigen Bug aus dem Wasser. Darüber ragten drei hohe Maste auf, deren schwere Einzelsegel sich im Wind blähten, während unzählige Ruder aus der Schiffswand ins Wasser
stießen.
Pietro war sich sicher, noch nie ein derart riesiges Schiff gesehen zu haben, und er fragte sich, was es hier zu suchen hatte, während er hastig aus seinem Fahrwasser schwamm. Als er seine Augen auf den Horizont richtete, stockte ihm der Atem, denn er erkannte eine gewaltige Flotte, die sich über sein gesamtes Blickfeld erstreckte. Hinter ihm ertönte ein lautes Krachen, als Marlene unter dem Bug der Galeere zersplitterte. Er wollte schreien, doch besann sich eines Besseren und hob seinen Blick zur Reling.
Bevor er sich dazu drängen konnte, abzutauchen, funkelte ihm bereits eine
Pfeilspitze entgegen, die nach seinem Tod verlangte. Zischend schlug sie in seine Brust und fegte jede Wärme der Sonne aus ihm. Der Kalte Ozean umfing ihn, verschluckte seinen purpurnen Lebenssaft. Die gewaltige schwarze Perle glitt ihm aus der Hand, sank zum Grund zurück.
Pietro Merano starb als ungerühmtes erstes Opfer eines Krieges, der noch tausende Leben fordern sollte.