Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de
43. Grünwalden. 52 n.V.
Die Sonne verschwand hinter den kargen Klippen im Norden, tauchte den Himmel in ein tiefes Blutrot und sorgte dafür, dass sich der Schleier der Dunkelheit langsam über die Stadt Galor legte. Das Meer, welches die Halbinsel im Westen, Norden sowie im Süden umschloss, war ausnahmsweise ruhig und auch die Straßen zwischen den sandbraunen Stein- und Lehmbauten leerten sich langsam, während einige Gläubige sich auf den Flachdächern ihrer Gebäude sammelten, um Gebete zur Mondgöttin zu schicken.
Leutnant Ferren hingegen, ein stämmiger Kerl mit rostfarbenen Haaren und kantigem Gesicht, saß auf dem Balkon im zweiten Stock des Hauses, das er zusammen mit vier anderen Parteien bewohnte. Der lauwarme Abendwind fuhr angenehm unter sein weites, leicht verdrecktes Leinenhemd, wirbelte seine Haare auf, änderte die Richtung und überließ ihn somit wieder der Schwüle.
Gelangweilt nahm er einen Schluck Bier aus dem Keramikkrug, der auf dem schlichten Holztisch vor ihm stand, bevor er seinen Blick auf die unsauber gepflasterte Straße sinken ließ, auf der gerade zwei gerüstete Soldaten in Richtung Hafen marschierten, wobei sie ihn daran erinnerten, dass er morgen selbst wieder Wachdienst zu schieben hatte.
Die momentane Leere in den Straßen war, das wusste er, nur die Ruhe vor dem Sturm.
Bald würden wieder alle möglichen Leute unter dem Nachthimmel zu finden sein, die sich an Orte begaben, an denen man ihrer Sorge Abhilfe schaffen konnte.
Für Ferren jedoch, der sich geschworen hatte, als Unteroffizier treu seinen Richtlinien zu folgen, zumindest jenen, die er für sinnvoll hielt, blieb nur wenig, das er an einem freien Abend in dieser belagerten Stadt tun konnte.
Die Kneipen hatte man zur Nahrungsmittelrationierung geschlossen. Öffentliche Versammlungen waren gefährlich, da es in dieser Stadt zu viele Leute gab, die sich gegenseitig viel zu wenig leiden konnten, um friedvoll miteinander auszukommen. Alkohol und Dunkelkraut waren als Disziplinarmaßnahme verboten worden, aber dass sich niemand daran hielt, störte niemanden.
Was ihm also noch blieb waren Gebete, Bücher, Briefe oder das einfache Sitzen und Warten auf dem Balkon.
Da er nicht an einen Gott glaubte und keine Bücher mehr besaß, lehnte er nun in seinem Segeltuchsessel, während er abwog, ob das Schreiben eines Briefes eine gute Idee oder pure Zeitverschwendung war.
Schließlich, als ihn der Anblick der sandsteinernen Fassaden anödete, erhob er sich und kehrte in die kühle Dunkelheit seines kleinen Gemachs zurück, wo er sich an seinen schmalen Tisch aus dunklem Holz setzte, ein vergilbtes Stück Pergament herauskramte und ein verstaubtes Tintenfass sowie einen ausgefransten Federkiel heranzog, um mit dem Schreiben zu beginnen.
Doch kaum hatte er die Feder ins Tintenfass getaucht, entsann er sich, dass ihm niemand einfiel, an den er hätte schreiben können, dass es keine Möglichkeit gab, einen Brief ohne ein Schiff über einen Ozean zu schaffen, dass er letztlich nicht einmal wusste, worüber er schreiben sollte.
Dabei waren in den vergangenen Monaten durchaus viele Dinge geschehen, über die zu berichten, sich gelohnt hätte:
Den Menschen der Gebrochenen Welt waren zwei Kontinente bekannt, die sie Kalatar und Fiondral nannten. Während Kalatar der Ursprung der Menschheit, als solcher zivilisiert und in acht Nationen unterteilt war, hatte man Fiondral erst vor rund fünfzig Jahren als eine unberührte Wildnis entdeckt, die der Mensch jedoch innerhalb der darauffolgenden Dekaden seinen Zwecken angepasst hatte, sodass den stolzen Wäldern Städte und Paläste entwachsen waren.
Als einer der Erstkolonisten hatte Ferren eine Menge wahrlich interessanter Erfahrungen gemacht, bis es schließlich zu jener unvorhersehbaren Katastrophe gekommen war, die den ganzen Kontinent wie eine Welle des Grauens überzogen hatte.
An der Ostküste waren von einem Tag auf den anderen Orks aufgetaucht, eine den Menschen ähnliche Rasse, von der zuvor nur belächelte Seher zu berichten gewagt hatten. Im Sturm waren sie wie die Heuschrecken über Fiondral hergefallen, hatten erbarmungslos alles niedergemäht, bis sie schließlich die Region um Galor, der westlichsten Stadt, erreicht hatten.
Galor, ein letztes Licht, strahlte aus dem Meer der allumfassenden Finsternis.
Und wer nicht gefallen war, oder all seine Ideale über Bord geworfen und sich den Orks angeschlossen hatte, der saß nun, ebenso wie Ferren, dort fest.
Langsam begann er, die Feder über das Pergament zu bewegen:
„Liebe Schwester,
Damals bedauerte ich, dass du nicht mit nach Fiondral kamst, in die neue Welt.
Jetzt freue ich mich, dass du geblieben bist. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier passiert ist, was ich gesehen habe. Viel zu viel ist es, um es zu berichten, und ich denke, es ist so grausam, dass du es gar nicht hören willst.
Die Orks sind jetzt hier. Vielleicht erinnerst du dich noch an die Schauermärchen, aus denen uns Vater damals immer vorlas.
Tja, der Kerl, der die geschrieben hat, lag gar nicht so falsch mit ihrer Art und ihrem Aussehen.
Sie haben Beine, Arme, Oberkörper, Hände, Füße und Kopf wie die Menschen, doch sind bullig wie Stiere.
Manche sind stark wie mehrere der besten Soldaten.
Sie haben eine gräuliche Haut und einige Dinge den Tieren gleich: Manche haben Hauer, andere Knochenkämme auf den Schädeln, ich habe sogar schon welche mit Hörnern gesehen, kleine allerdings.
Aber mache dir keine Sorgen, ich bin jetzt in Galor“, Ferren setzte die Feder kurz ab, fuhr sich mit den Händen an die Schläfen und stöberte in seinem Geist nach einer passenden Formulierung, von der er glaubte, sie könne Hoffnung geben.
Schließlich entsann er sich einiger Worte und fuhr fort:
„…der stärksten Festung Fiondrals. Die acht Nationen Kalatars haben diese Stadt einst gemeinsam gebaut, weißt du. Und unter ihren Flaggen sammelt sich ein Heer, so groß, dass ich die Zahl seiner Streiter nicht einmal benennen kann.
Wir stehen hier Seite an Seite und haben die Hoffnung nicht verloren. Der Feind soll kommen, wir werden ihn schlagen.
Ich bin jetzt übrigens Leutnant der delionischen Armee, Vater wäre sicher stolz auf mich, wenn er davon wüsste.
Aber um auch dich zu trösten, lass dir gesagt sein, Offiziere haben eine höhere Überlebenschance.
Also, mach dir keine Sorgen, grüße Vater und Mutter von mir und wisse, dass ich dich liebe.
Dein Bruder
Ferren“
Als er mit dem Schreiben des Briefes fertig war, legte er unter prüfendem Blick seine Zeigefinger an die Lippen, bevor er noch einmal jede Zeile durchlas und dabei in exakt dieser Stellung verharrte.
Es dauerte einige Zeit, bis er mit dem, was er zu Papier gebracht hatte, wirklich zufrieden war, dann richtete er sich auf und überlegte, wie er den Brief nach Kalatar schaffen konnte, obgleich eine Stimme aus dem hinteren Teil seines Kopfes ihm bereits sagte, dass dieses Unterfangen vollkommen sinnlos sei.
Letztlich entschloss er sich dazu, den großen Taubenschlag aufzusuchen, der ein Stück weiter nördlich am Ufer des Baskats, jenes Flusses, der in zwei Armen durch Galor floss, lag. Das Problem mit dem Taubenschlag war jedoch, dass er direkt an das Viertel der Ledrianer grenzte, die wahrlich nicht zu den besten Freunden der Delioner, seiner Landleute, gehörten. Denn vor der Invasion der Orks waren die acht alliierten Nationen Kalatars noch mit voller Fahrt und traumwandlerischer Sicherheit auf einen eigenen Krieg zugesteuert. Ferren vermutet sogar, dass dieser auf Kalatar bereits ausgebrochen war, was zumindest erklärte, warum sie bisher keinerlei Verstärkungen oder Derartiges erhalten hatten. Zwar war aufgrund der orkischen Seeblockade, welche die gesamte Flotte Fiondrals zwar hatte auflösen aber nicht durchbrechen können, kein Hilfegesuch nach Kalatar gekommen, doch hätte es auffallen müssen, dass weder Waren noch irgendwelche Nachrichten den Westkontinent innerhalb des letzten Jahres erreicht hatten.
Bevor der Leutnant sein kleines Gemach verließ, packte er die verschlissene, lederne Scheide, in der sein etwas mitgenommenes Kurzschwert ruhte, und band sie sich an den Gürtel.
„Man kann ja nie wissen, wer da draußen so rumläuft“, dacht er.
Auf der anderen Seite seiner Zimmertür erstreckte sich ein schmales, finsteres Treppenhaus, dessen Decke von Staubfäden sowie Spinnenweben geziert wurde und in dessen oberem Teil sich der unangenehme Essensgeruch sammelte, der aus den unteren Trakten aufstieg.
Als Ferren weiter ging, stieß er mit dem Fuß gegen irgendetwas und nur einen Sekundenbruchteil später durchzog ein stechender Schmerz seine rechten Zehen.
Verärgert blickte er hinab, wobei er eine überdimensionierte, aus Holz und Draht zusammengebastelte Rattenfalle entdeckte, in die er gerade hineingestolpert war. Ohne einen weiteren Blick auf das Gerät geworfen zu haben, war er sich sicher, dass der Urheber dieses Unfugs nur der nogronische Gauner sein konnte, der im Keller des Gebäudes hauste.
Zwar hatte Ferren in seinem Leben noch nicht allzu viel mit den Nogronern zu tun gehabt, stimmte aber trotzdem der weitverbreiteten Meinung zu, sie seien die Höhlenbewohner unter den Menschen der kalatarischen Nationen. Da ihre Heimat fast gänzlich von nebligen Dschungeln überzogen wurde, kamen sie erschreckend gut mit der Dunkelheit zurecht und sahen auch danach aus. Die meisten von ihnen hatten eine abartig käsig bleiche Hautfarbe und schlitzförmige Augen.
Ferren ging mittlerweile der Theorie nach, dass sie sich auch nicht allzu gerne wuschen, was zumindest ihren latenten Gestank und ihr ansonsten sehr schmieriges Aussehen erklärte. Er fürchtete außerdem, dass sein im Keller lebender Mitbewohner die Ratten nicht fangen wollte, weil er sie für Schädlinge hielt, sondern viel eher um den durch die Nahrungsmittelrationierung hervorgerufenen Hunger zu bekämpfen.
In der Tat stellte der Leutnant an jedem Tag, den er in dieser überbevölkerten Stadt verbrachte, die erstaunliche Kreativität seiner Mitmenschen fest. Sich von Ratten zu ernähren, war sicherlich eine Extreme, aber nur eine von vielen.
Über die Gasse, an der sein Haus lag, erreichte er die nächste breitere Straße, die den Hügel hinab zum Flussufer führte. Im goldenen Schein der Fackeln und Öllampen trieb sich noch eine ganze Menge verschiedener Leute herum. Er beobachtete, wie zwei schlaksige Kerle in den Wappenröcken Delions einen Bettler wegscheuchten, der sich dies widerstandslos gefallen ließ.
Das Wappen Delions zeigte ein weißes Segelschiff auf hellgrünem Grund und war in diesem Viertel auf Röcken, Revers, Krägen, Flaggen und Bannern zu sehen, da es eben das delionische Viertel war.
Weil Galor jedoch nach dem Eintreffen tausender Flüchtlinge aus allen Regionen Fiondrals heillos überbevölkert war, hatte man noch etliche Menschen anderer Nationen in diesem, wie auch jedem anderen, Distrikt untergebracht.
Als Ferren die Straße hinunterblickte, sah er ein Meer von goldenen Lichtern und dunklen Konturen, das am Fuße des Hügels mit dem Fluss und dem dahinterliegenden, ledrianischen Viertel verschmolz. Schlecht erkennbar erhob sich an seinem Ufer der sogenannte Pastorenturm, der nur wenig höher war als die umstehenden Gebäude und ein geweißtes Kuppeldach besaß, welches in der Dunkelheit der Nacht ein wenig hervorstach.
Auf seinem Weg die Straße hinab traf er noch auf die ein oder andere Gruppe von Leuten, zwei Soldaten auf Patrouille, ein paar junge Nogroner, einige unterbeschäftigte Händler, Adlige, Bettler.
Ein Stück tiefer grenzte der Pastorenturm an einen sandsteinernen Häuserblock, vor dem ein einsamer Geiger den Vorbeigehenden seine klägliche Sinfonie darbot.
Der Turm war immer geöffnet und man erzählte, er sei einst eine kleine Kirche des Erlöserglaubens gewesen, in der nun alle möglichen Dinge verkauft wurden, deren Handel nicht verboten war. Viel blieb nicht, denn die offizielle Anordnung des Hohen Rats Galors besagte, dass sowohl Waffen als auch Nahrungsmittel, Metalle, Rüstungen und diverse Genussmittel zum Eigentum der Stadt gehörten. Der Schwarzmarkt jedoch florierte und so versuchte jeder, doch noch etwas Geld zusammenzukratzen, um damit Dinge zu kaufen, die seinen knurrenden Magen füllen oder seine bitteren Tränen ersticken konnten.
Im Pastorenturm waren die Geschäfte allerdings schon eingestellt worden, sodass im großen, kreisrunden Hauptraum des Erdgeschosses nur noch ein paar Händler ihre Verkaufsstände aufräumten. Ferren grüßte sie im Vorbeigehen, bevor er zu der verwitterten, steinernen Wendeltreppe hinübertrat, die zum Obergeschoss führte.
Als er jedoch am Fuße der Treppe stand, kam ihm ein junger, leicht gerüsteter Soldat Delions entgegen, mit dem er fast zusammengestoßen wäre.
„Ah, guten Abend, Leutnant“, salutierte er.
„Guten Abend…Soldat“, grüßte Ferren etwas verwirrt zurück.
„Man hat Euch nicht über die heutige Aktion unterrichtet?“, fragte sein Gegenüber in Anbetracht seines Gesichtsausdrucks.
„Ähm, nein“, gab er zurück.
„Der Besitzer des Taubenschlags wurde wegen Betruges verhaftet. Es hat sich herausgestellt, dass seine Vögel gar keine Brieftauben waren, sondern mit den Briefen einfach irgendwo hinflogen. Na ja, eigentlich hätte jedem klar sein müssen, dass ein einfacher Vogel es nicht übers Meer nach Kalatar schafft, nicht wahr, Sir?“
„Ja, doch…natürlich“, pflichtete der Leutnant bei, während er den Brief tiefer in die Tasche seiner Hose stopfte.
„Schon mies. Dieser Kerl hat all die Leute ausgebeutet, die sich nur ein wenig Hoffnung verschaffen wollten.“
„Nun, Hoffnung hat er ihnen möglicherweise sogar gegeben. Ich muss dann mal weiter…Patrouille“, sagte er, salutierte zum Abschied und verließ den Turm wieder.
Auf der Straße angekommen, schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
„Wie konnte ich nur so dumm sein?“
Fast war er versucht, den Brief zu zerreißen und in den nächstbesten Kanal zu werfen, doch entsann er sich schließlich, dass es noch eine letzte Möglichkeit gab.
Flaschenpost.
„Das ist doch Schwachsinn“, sagte er sich, aber seine Füße befanden sich schon auf dem Weg zum Hafen.
Galor war eine große Stadt, durch die zwei Flussarme des Stromes Baskat flossen und die sich in zehn mehr oder weniger große Viertel unterteilte.
Zum einen besaß jede Nation ihren eigenen Distrikt, auch wenn sie sich diesen mittlerweile mit Flüchtlingen aus diversen anderen Staaten teilen musste, weiterhin gab es den Hafen und zuletzt den Nordhügel als autonome Viertel.
Auf dem Nordhügel thronten hoch über dem Hafen der Palast Galors, von dem aus der Hohe Rat über die allgemeinen Geschicke der Stadt gebot, und der große Sonnentempel, im dem die Messen des Erlöserglaubens abgehalten wurden.
Ferren jedoch marschierte den südlichen Baskatlauf entlang zum Hafen hinunter, wobei er zunächst das delionische Viertel verließ und das iskatische betrat.
Iskat war unter den acht Nationen Kalatars der Staat der Magier. Zwar wurden diese auch in allen anderen Ländern geboren, doch geschah dies in Iskat mit großer Häufigkeit, weshalb man den dort lebenden Menschen nachsagte, die Magie im Blut zu haben. Außerdem gab es im Magierstaat die besten Ausbildungsmöglichkeiten für angehende Zauberer.
Dem iskatischen Viertel folgte das elipfische, das von den meist dunkelhäutigen Bewohnern der Wüstennation Elipf bevölkert wurde und auf der Nordseite direkt an den Hafen grenzte.
Als Ferren sich der Brücke näherte, die auf der Nordseite des Distrikts über den Baskat in den Hafen führte, peitschte ihm bereits eine wahre Flut lauter Rufe entgegen.
Wenig später konnte er zwei Gruppen ausmachen, die sich auf der Brücke gegenüberstanden und sich in einer heftigen verbalen Konfrontation befanden.
Die erste Fraktion konnte er als eine Gruppe einfacher Zivilisten identifizieren, die dem Aussehen nach aus Elipf, Delion und Nogron stammten, wohingegen es sich bei der zweiten um einen Zug ledrianischer Soldaten handelte.
Diese trugen allesamt leichte, glänzend silberne Rüstungen über schwarzer Kleidung und den Wappenrock Ledrias, welcher eine weißsilberne Lilie gekreuzt mit einem gleichfarbigen Schwert auf königsblauem Grund zeigte.
Während die Zivilisten laut und wütend über die Soldaten schimpften, bildeten diese stumm eine Reihe auf der Brücke, wobei sie Turmschilde und Speere beisammen hielten, sodass keiner passieren konnte.
Als Ferren die Brücke erreichte, preschte auf der anderen Seite des Flusses ein Reiter aus der Dunkelheit, der auf einem edlen, gräulichen, elipfischen Ross saß, das sich in Bezug auf sein Aussehen am besten mit einem Vollblutaraber vergleichen ließ. Bei dem Reiter handelte es sich um einen hageren, jungen Mann, der ein galantes, dunkelbraunes Samtjackett über seinem schwarzen, uniformartigen Seidenhemd mit hohem Stehkragen trug.
Seine Haare waren seidig dunkelblond und seitlich gescheitelt, während sein fahles Gesicht feine, elegante Züge besaß. In seinen Augen, die zu sichelförmigen Schlitzen verengt waren, lauerte jedoch ein Ausdruck des Sinisteren, und obwohl Ferren ihn nicht kannte, hatte er das flaue Gefühl, dass er nicht zu den Menschen gehörte, denen man bedenkenlos den Rücken zuwenden konnte.
„Ruhe, Pöbel!“, zischte er, nachdem er sein Ross hinter den Soldaten hatte einhalten lassen, „Die Streitkräfte Ledrias haben auf Befehl des Herzogs Montierre den Hafen besetzt und werden diesen bis zum Ende der Verhandlungen nicht räumen!“
Was der Reiter sagte, klang für Ferren durchaus einleuchtend.
Zwar wusste er nicht, worum es in den momentanen Verhandlungen des Hohen Rates eigentlich ging, doch hatte selbst er erfahren, dass sich Montierre und die beiden anderen Ratsmitglieder vollkommen uneinig waren. Die Besetzung des Hafens durch ledrianische Soldaten sprach dafür, dass die Verhandlungen nun auf einer anderen Ebene fortgeführt wurden.
„Mit welchem Recht?“, schrie jemand aus der Menge.
„Mit dem des ledrianischen Adels, respektloser Bauer!“, blaffte der Reiter zurück, während Ferren sich durch die menschliche Palisade kämpfte, die die Menge auf der Brücke gebildet hatte.
Als er sich endlich durch verhakte Arme und Schweißgeruch in die erste Reihe geschlagen hatte, wandte er sich an den Reiter:
„Ich bin Leutnant Ferren aus Delion“, er deutete auf das Wappen an seinem Hemdkragen, „und verlange, zu erfahren, wer Ihr seid und was die Besetzung des Hafens bezwecken soll.“
„Ich bin Marquis Lucian de Nord und der Grund für die Besetzung des Hafens hat Euch nicht zu interessieren, delionische Ratte!“, zischte sein Gegenüber, „Wichtig ist nur, dass wir jeden gnadenlos abschlachten werden, der versucht, das Hafenviertel zu betreten.“
„Ich denke, diese Leute hier würden mehr Verständnis für Euer Handeln zeigen, wenn sie wüssten, warum Ihr das tut“, rief eine junge Frau, die sich ebenfalls in die erste Reihe gekämpft hatte.
Sie war nicht sonderlich groß, besaß ein dementsprechend feinzügiges Gesicht und schulterlange, blonde Haare. Ihrer weißblauen Robe zufolge war sie eine iskatische Novizin.
„Ich betone und wiederhole: Unsere Beweggründe gehen den Pöbel einen Dreck an!“, fauchte de Nord, während er seinen Kopf hob, um die ledrianischen Bogenschützen zu beobachten, die auf den Dächern der umliegenden Häuser Position bezogen. Anschließend wandte er sich an einen der ihm unterstellten Fußsoldaten:
„Leutnant, Ihr habt Eure Befehle. Niemand kommt hier durch!“
„Wie Ihr befehlt, edler Herr“, rief sein Unteroffizier, wobei er stolz salutierte.
„Entschuldigt mich, aber es gibt noch andere Straßen, die danach verlangen, gesperrt zu werden. Richtet diesem Verbrecher Farruk aus, dass wir nicht gewillt sind, unseren Standpunkt zu überdenken“, lachte der Marquis anschließend, bevor er seinem Pferd die Sporen gab und wieder in der Dunkelheit verschwand.
„Ihr habt es gehört!“, brüllte der ledrianische Unteroffizier, wobei er seine hocherhobene Hand senkte, was zur Folge hatte, dass seine Untergebenen ihre eisernen Speere nach vorne gegen die Menge richteten, „Zurück, oder wir spießen Euch auf!“
„Das könnt Ihr nicht machen!“, schrie ein Jüngling aus der Meute, worauf der Offizier nach vorne schnellte und ihn mit einem Rückhandschlag auf den Boden beförderte.
„Dies ist meine letzte Warnung!“, fauchte er.
„Na los, zurück!“, befahl Ferren den übrigen unter schmerzlichem Zähneknirschen.
Langsam trottete die Menge im Rückwärtsgang von der Brücke. Einige ließen die Schultern hängen, andere drohten den Soldaten, sie würden schon sehen, was sie davon hätten.
„Na geht doch!“, grölte der ledrianische Leutnant, während sich die Meute gemächlich verzog. „Das wird sich Farruk nicht bieten lassen“, flüsterte die junge Novizin, die zuvor auf der Brücke neben Ferren gestanden hatte.
Langsam senkte er seinen Blick auf ihre hellen, bernsteinfarbenen Augen.
„Nein, ganz sicher nicht“, sagte er grüblerisch.
„Ich verstehe es einfach nicht. Die Orks stehen vor den Toren und diese Wahnsinnigen haben nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig zu bekriegen.“
„Ja…“, Ferren sprach gedehnt, „Weiß der Geier, was im Hohen Rat vorgefallen ist.“
„Manchmal will ich das gar nicht wissen“, lachte sein Gegenüber, „Was hat eigentlich ein delionischer Leutnant alleine zu dieser Zeit hier zu suchen?“
„Ich wollte…runter zum Strand…Nachtluft genießen“, stammelte Ferren, „Habe ein paar emsig kochende Nogroner bei mir im Haus wohnen. Und Ihr, Novizin?“
„Ich wollte zu einer Freundin ins Hafenviertel, aber ich glaube, das kann ich jetzt vergessen. Mein Name ist übrigens Ariona.
„Ferren“, stellte sich dieser vor.
„Hm, was dagegen, wenn ich mit zum Strand komme?“, erkundigte sich die Novizin, „Ich muss irgendetwas tun, bevor ich vor Zorn auf diese eingebildeten Idioten noch einen Herzinfarkt bekomme.“
„Ja…äh, ich meine nein. Nein, ich habe nichts dagegen“, stotterte Ferren.
„Wirklich nicht?“, Ariona hob eine Augenbraue.
„Nein, wirklich nicht“, bestätigte Ferren.
„Los, wir holen Steine und dann zeigen wir es diesen ledrianischen Bastarden!“, rief ein junger Elipfer, dem ein Teil der Meute in einen nahegelegenen Park folgte.
„Wir sollten besser hier verschwinden“, mahnte Ferren, worauf er sich auf den Weg zum Strand machte, der ein Stück weiter südlich des Hafens am Ende des elipfischen Viertels lag.
Ariona folgte ihm.
Mit dem Ende des Abends, dem Verhallen der Gebete und dem Einbruch der Nacht hatten sich auch die Straßen rapide gefüllt, sodass nun überall Gruppen verschiedenster Personen umherliefen, laut grölten, tranken und rauchten, während entweder die Stadtwache oder Landsmänner einer weniger freundlich gesinnten Nation versuchten, ihrem Treiben ein Ende zu bereiten.
Der Strand kündigte sich Ferren schon von weitem an, denn er war der mit Abstand lauteste Ort im elipfischen Viertel. Zwischen den sandbedeckten Bretterbuden der Fischer feierte allerhand Volk in ausgelassenster Stimmung, wobei eine gewaltige Wolke aus Dunkelkrautrauch den Ort vollkommen von der Außenwelt abschnitt.
„Eigentlich hatte ich mir erhofft, an diesem Ort etwas mehr Ruhe zu haben“, knurrte Ferren, nachdem er einen Hauch des Qualms eingesogen hatte, welcher bitter in seine Lungen stach.
„Habt Ihr nicht gewusst, dass ein Großteil Südstadt sich hier jeden Abend kollektiv die Kante gibt?“, fragte Ariona.
„Ehrlich gesagt, nein“, gestand der Leutnant und betrachtete das farbenfrohe Spektrum der Feiernden.
Da sah er sie jubeln, singen, tanzen und lachen, und mit einem Mal stiegen Tränen in seine Augen, denn er vermochte sich nicht mehr zu entsinnen, wann er zuletzt ein Lächeln gesehen hatte. Seine Lungen schmerzten vom Qualm des Dunkelkrauts, doch der Schleier der Finsternis, der über Land und Gemüt lag, tat sich jäh in diesem Moment auf, ein strahlendes Licht fiel in seine Seele.
Kaum hatte er sich versehen, stand er zwischen zwei Nogronern und einem elipfischen Unteroffizier.
Auf die Frage, was man denn feiere, antwortete man ihm: „Den Sieg“ und „Die Freiheit“.
Sekunden später kam Ariona herbei, um ihm einen Krug Met in die Hand zu drücken, den er ansetzte und seinen Inhalt inhalierte. Noch einen Krug später hüllte ihn alles ein wie eine wohlige Wolke, in der Tanz, Gesang und Rauch verschwommen.
„Galor wird niemals fallen“, sagte eine Stimme in ihm und zum ersten Mal glaubte er daran.
Als ihm Sekunden später auffiel, dass er die Worte laut herausgeschrien hatte, grölten schon etliche Leute mit ihm, bevor sie ihre Krüge auf den Sieg hoben.
Nachdem Marquis Lucian de Nord seine Befehle ausgeführt und den Hafen der Stadt besetzt hatte, war er in das ledrianische Viertel zurückgekehrt, um dort seinem Befehlshaber Herzog Montierre zu berichten.
Ledria bildete zusammen mit Serpendria die Achse der erzkonservativen Monarchien unter den Staaten Kalatars, was ihnen auch die Bezeichnung „Alte Königreiche“ eingebracht hatte. Ihr Vertreter in Galor, Herzog Jean Montierre, residierte in der Botschaft der Ledrianer, welche ein großes, rechteckiges Gebäude mit rötlichem, hohem Kuppeldach war, dessen weiße, steinerne Fassade von etlichen Gravuren geziert wurde.
Die beiden schwer gerüsteten Speerträger, welche vor dem Eingang Wache hielten, grüßten Lucian überschwänglich respektvoll, als er eintrat. Mit einem Schritt fand sich der Marquis in einem Paradies aus weißem Marmor wieder, das im Schein der Öllampen majestätisch glänzte. Wasser plätscherte unter wohltuendem Rauschen aus einem kleinen Terrassenbrunnen in der Mitte der Eingangshalle, während sich etliche grüne Zierpflanzen die Wände hinaufschlängelten. Das ledrianische Wappen prangerte als Gravur oder auf Bannern im gesamten Saal und Lucian sah sich gezwungen, zu lächeln, als er es erblickte.
Der hübschen Empfangsdame, die hinter einer weißmarmornen Theke einige Dokumente durchsah, nickte er kurz zu, während er die Halle durchquerte, um die breite Treppe gegenüber dem Eingang hinaufzusteigen.
Am Ende dieser befand sich ein großes Doppeltor, hinter dem der Beratungssaal der Ledrianer lag, den Lucian ohne zu zögern betrat.
Der kreisrunde Saal, welcher ebenfalls eine gewölbte Decke besaß, lag im Dunkeln und schien bis auf eine einzige Person, welche am großen, runden Tisch in der Mitte saß, gänzlich verlassen zu sein.
Als der Marquis eintrat, erhob sich die Gestalt vom Tisch, trat aus dem Schatten und grüßte ihn freundlich.
Vor ihm stand Herzog Montierre, ein ebenfalls noch junger, aber schmalschulteriger Mann. Zwar war er recht dürr, wusste dies aber unter seinem schwarzen Filzmantel gut zu verbergen. Sein Gesicht besaß noch jugendliche Züge, während die dunklen Ringe unter seinen kleinen Augen ihm ein leicht melancholisches Aussehen verliehen.
„Lucian!“, rief er, „Du bist bereits zurück? Gab es Schwierigkeiten?“
„Nein, mein Freund, alles verlief nach Plan. Es gab keinen Widerstand und, soweit ich das beurteilen kann, auch keine Verwundeten“, gab der Marquis zurück, „Ich hoffe, diese Nachricht vermag, dich ein wenig zu beruhigen.“
„Das tut sie natürlich, obwohl ich stets daran denken muss, dass uns die schwersten Zeiten noch bevorstehen.“
„Dessen bin ich mir bewusst“, pflichtete Lucian bei, „Doch werden wir triumphieren, denn unser Pfad ist der Pfad des Herrn.“
„Der Pfad des Herrn…“, Montierre schüttelte ungläubig den Kopf, „Diese Welt lässt mich langsam an seinem gerechten Willen zweifeln.“
„Zweifel ist Gift“, entgegnete de Nord beiläufig, während er ein Kristallglas mit rotem Wein aus einer Karaffe füllte.
„Ja, ich weiß“, flüsterte Montierre, wobei er seinen Blick zur Decke richtete, „Verzeiht mir, heiliger Fürst in Euren Hallen der Weisheit.“
„Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?“, erkundigte sich de Nord, nachdem er einen Schluck aus seinem Weinglas genommen hatte.
„Tut mir leid, Freund, aber er erscheint mir immer noch sehr extrem.“
„Er ist extrem“, versicherte der Marquis, „Aber die Extreme ist unsere einzige Wahl, unsere einzige Rettung.“
„Ich fürchte, ich bin nicht, bin noch nicht bereit, so weit zu gehen“, der Herzog schüttelte den Kopf.
Das Problem, von dem die beiden Adligen sprachen, war durchaus von entscheidender Wichtigkeit:
Im Hafen Galors lagen noch drei Schiffe, über deren Verwendung der Hohe Rat sich derart uneinig war, dass Montierre letztlich beschlossen hatte, das gesamte Viertel von seinen Truppen besetzten zu lassen.
Kalif Farruk nämlich, der im Rat die sogenannten Oppositionsstaaten, Skatria, Elipf und Delion, vertrat, war der Ansicht, die Schiffe seien als Fluchtmöglichkeit für alle Adligen oder sonstigen wichtigen beziehungsweise hochrangigen Personen zu gebrauchen, wohingegen für Montierre einzig und allein die Wehrlosen das Recht hatten, Galor zu verlassen.
Ebenso wie es die Ehre gebot.
Die junge Prinzessin Filiana, die das letzte Ratsmitglied war, hatte sich von den beiden rasenden Männern so verunsichern lassen, dass sie, um den Streit zu bändigen, gar nicht mehr über die Schiffe verhandeln wollte.
In der Angst, Farruk könnte Filiana letztlich auf seine Seite ziehen, hatte Montierre Lucian de Nord auf dessen eigenen Vorschlag hin den Befehl erteilt, den Hafen zu besetzen.Der Marquis hatte ihm jedoch vorgeschlagen, alle Schiffe zu verbrennen, um das Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.
„Wir werden keine andere Wahl haben, wenn die Elipfer militärisch zurückschlagen“, beteuerte der Marquis.
„Das darf nicht passieren!“, rief Montierre, „Wenn wir anfangen, uns untereinander zu bekriegen, ist Galor schon verloren.“
„Das ist wahr. Aber bei diesen Wilden kann man sich nie sicher sein.“
„Lucian, Lucian“, lachte der Herzog, „dein Herz ist voller Hass.“
„Jene, die ich hasse, sind der Abschaum der Menschheit. Sie haben meinen Hass verdient“, zischte Lucian, worauf er sein Glas leerte.
„Ich wünschte, Filiana würde sich für unsere Seite entscheiden“, sagte der Herzog schließlich.
„So, wie ich sie bisher erlebte, erschien sie mir zu ängstlich, um sich überhaupt für etwas zu entscheiden“, gab de Nord zurück, „allerdings kann ich auch nicht behaupten, sie sonderlich gut zu kennen. Wenn ich etwas anmerken darf: Du solltest dir lieber Gedanken um Farruk machen, der, sofern mich mein Gespür nicht täuscht, was es selten tut, alsbald hier auftauchen dürfte.“
„Oh, er ist sicherlich schon auf dem Weg“, stimmte der Herzog zu.
„Wünschst du, dass ich dir bei der Audienz beistehe?“
„Nein, nein, mit diesem Scheinheiligen werde ich schon noch alleine fertig“, winkte Montierre ab, „Kehr du nur in den Hafen zurück. Es ist besser, wenn dort jemand nach dem Rechten sieht. Wir können uns kein unnötiges Blutvergießen leisten.“
„Ich werde, wie immer, mein Bestes dazu beitragen. Aber nimm dich vor dieser anmaßenden Ratte in Acht. Ihm ist wohl nicht einmal das Leben seiner Mutter heilig, sofern er überhaupt eine hatte“, mit dieser letzten Beleidigung verließ der Marquis unter schnellen Schritten den Saal, während der Herzog zurückblieb, um auf das elipfische Ratsmitglied zu warten.
Farruk traf tatsächlich wenig später in der Botschaft ein und betrat, nachdem das amtliche Prozedere vonstattengegangen war, den Beratungssaal.
Bei dem Kalifen handelte es sich um einen großen, athletischen Mann, der jedoch schon in jenes Alter gekommen war, da der Bart ergraute und das Haar sich lichtete.
Obwohl Elipf ein demokratischer Staat war, erinnerte die Bezeichnung der Ämter immer noch an die feudalistischen Titel, weshalb es auch Farruk vergönnt war, den des Kalifen anführen zu können.
„Montierre, mein ungewollter Freund“, rief er bereits, als er gerade in den Raum stürmte, „Bitte sagt mir, dass die Besetzung des Hafens auf das eigenmächtige Handeln dieses Irren de Nord zurückzuführen ist.“
„Die Befehle, Kalif“, begann Montierre, ohne sich aus dem Schatten, in den er zurückgekehrt war, herauszubewegen, „gebe immer noch ich.“
„Das heißt, Ihr seid dafür verantwortlich?“
„Offensichtlich.“
„So“, schnauzte Farruk, wobei er seinen prunkvollen Seidenkaftan glatt strich, „Ich dachte, wir führen unsere Verhandlungen mit Wort und Wahl, nicht mit Schwert und Stab. Aber ihr Monarchisten werdet es wohl nie verstehen.“
Der Kalif schüttelte verständnislos den Kopf.
„Monarchisten?“, keuchte Montierre, „In der Tat, wir haben nie verstanden, warum man den Narren eine Entscheidung überlassen sollte, die nur die Weisen treffen können.“
„Heuchler seid ihr, versucht ihr doch stets, die Unterdrückung, die ihr ausübt, zu rechtfertigen.“
„Wenn ich ein Heuchler bin, dann vermag kein Wort der kalatarischen Sprachen, Eure Charakterlosigkeit zu benennen, Farruk!“, zischte der Herzog, „Eurer Meinung nach sind alle Menschen gleich? Was gibt Euch dann das Recht, vor allen anderen aus dieser Stadt zu flüchten?“
„Das versteht Ihr nicht, Montierre. Wenn Leute wie ich überleben, dann überlebt auch das Feuer der Freiheit, das sich über ganz Kalatar ausbreiten wird wie…“
„Schweigt! Ihr widert mich an!“, blaffte Montierre, „Die Freiheit, die Ihr proklamiert, führt Euch und alle anderen, die an sie glauben, ins Verderben.“
„Weil sie der Ordnung Eures Gottes widerspricht, Herzog? Das ist doch nur eine Scharade, um die Dummen zu täuschen. Ihr glaubt doch nicht etwa selbst daran?“
„Mein Gott hat damit reichlich wenig zu tun, Kalif. Das Verderben, von dem ich sprach, ist nicht die drohende Unterwelt, Narr. Sie ist wesentlich greifbarer, näher. Ihr müsst nur in den Spiegel blicken, um sie zu sehen.“
„Es gibt keinen Grund, Beleidigungen auszusprechen“, mahnte der Kalif.
„Dass die einzigen Worte, die vermögen, Euch zu beschreiben, Beleidigungen sind, ist nicht mein Verschulden, Farruk. Nur die ach so hoch gelobte Freiheit sorgte doch letztlich dafür, dass Abschaum wie Ihr zu so viel Macht kam. Es ist beschämend, zu wissen, dass ich in dieser Stadt auf derselben Stufe mit derartigen Narren stehen muss.“
„Ihr seht nur das, was Ihr sehen wollt, Herzog“, zischte Farruk, „Alle, die nicht den Gesetzen Eures Reiches und Eures Gottes folgen, sind für Euch also Dreck, ja? Habt Ihr nicht einmal darüber nachgedacht, dass Ihr Euch vielleicht geirrt habt? Dass die Worte Eures Gottes gar nicht so wahr sind?“
„Sprecht Eure Blasphemie irgendwo aus, aber nicht in meinen Hallen, zumal sie nichts zur Sache tut!“
„Schön, ich sehe ein, dass es vollkommen fruchtlos ist, mit einem Fanatiker vernünftig verhandeln zu wollen…kommen wir also zu meinem eigentlichen Anliegen zurück“, der Kalif machte eine kurze Pause, „Entfernt Eure Truppen umgehend aus dem Hafenviertel!“
Der Herzog betrachtete Farruk kurz, bevor er lächelte und seine feingliedrigen Hände faltete.
„Nein“, entgegnete er.
„Schön!“, brüllte Farruk, „Dann werde ich Eure erbärmlichen Truppen eben mit Waffengewalt aus dem Viertel jagen!“
„Seid doch kein Narr, Farruk!“, fauchte Montierre, „Die Orks stehen vor den Toren. Das letzte, was wir brauchen, ist Bürgerkrieg.“
„Es ist nicht meine Schuld. Es ist nicht meine Schuld. Ihr“, der Kalif deutete mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf sein Gegenüber, „habt das provoziert.“
„Euch hat anscheinend jede Vernunft verlassen“, der Herzog schüttelte den Kopf, „Aber das wagt Ihr nicht!“
„Ihr habt keine Wahl, Montierre. Verlasst den Hafen, oder Ihr werdet Schuld am Fall Galors tragen!“
Montierre ließ sich langsam in seinen ledernen Sessel zurücksinken, musterte sein Gegenüber und atmete einmal tief durch, bevor er wieder die Stimme hob:
„Wenn auch nur einer Eurer Soldaten seine Waffe gegen einen der meinen hebt, dann werde ich alle Schiffe verbrennen lassen und keiner von uns kommt hier jemals lebend raus! Ich bin bereit, bereit, in den Tod zu gehen, Farruk. Was ist mit Euch?“
„Ihr…Ihr habt doch den Verstand verloren, Montierre“, keuchte Farruk.
„Nein, den Verstand habt Ihr verloren, als Ihr damit begannt, auf Eure niederen Instinkte zu hören. Ich kann nicht leugnen, dass die Situation, in der wir uns befinden, schlimm ist, aber Ihr könnt nicht nur wenig, sondern offensichtlich gar nicht damit umgehen.“
„Pah, wir werden schon sehen, ob Ihr den Tod fürchtet, Herzog. Ja, wir werden sehen“, lachte Farruk, bevor er sich mit wirbelndem Kaftan umdrehte und aus dem Saal stürmte.
„Narr!“, zischte Montierre ihm hinterher, bevor er sich wieder in den Schatten zurücksinken ließ.
Ferren strauchelte mit vom Alkohol vernebelten Sinnen durch die niedrigen Sanddünen des Strandes. Obwohl er kaum noch in der Lage war, klar zu sehen, steuerte er unbeirrt auf die große, dunkle Felsformation zu, die sowohl den Strand als auch die Halbinsel im Süden begrenzte.
Schließlich stand er an jener Stelle, wo die Dünen in den dunkelbraunen Stein übergingen, und ließ sich wenig elegant in den Sand sacken. Dort war nichts mehr zu spüren von der Ausgelassenheit des Festes, vom Qualm des Dunkelkrauts, vom Gestank des Erbrochenen. Nur aus der Entfernung hallten noch die lautesten Rufe der Feiernden.
Während die Wellen des Meeres, welches, mit dem dunklen Horizont verschmolzen, kaum mehr als eine einzige Wand gähnender Schwärze war, sanft gegen die Felsen schwappten, kramte der Leutnant den Brief wieder hervor, welchen er vor wenigen Stunden geschrieben hatte. Mit Mühe entkorkte er die fast leere Metflasche, die er zuvor neben einem komatösen Elipfer gefunden hatte, kippte den letzten Schluck seinen Rachen hinunter und begann dann, recht sorgsam das Papier hineinzuschieben.
Als er es letztlich fertig gebracht hatte, es gänzlich in der Flasche zu verstauen, stopfte er den Korken wieder auf deren Hals. Dann zog er seine ledernen Stiefel aus, erhob sich, torkelte ein paar Schritte vor, bis seine Füße vom Meerwasser umschlungen wurden, und wollte gerade die Flasche in die See hinausschleudern, als eine Stimme hinter ihm ertönte:
„Ah, Ferren. Da seid Ihr.“
Erschrocken zuckte der Leutnant zusammen, bevor er sich umdrehte und in die bernsteinfarbenen Augen Arionas blickte, die etwa einen Meter vor ihm und damit noch auf dem Sand stand.
„Oh…Ariona“, stammelte er, „Was macht Ihr hier?“
„Ich habe Euch gesucht“, gab die Novizin mit fragendem Gesichtsausdruck zurück, „Hinten gab es eine Schlägerei zwischen ein paar Typen und einem Haufen Todesanbetern.“
„Todesanbeter?“, keuchte Ferren, wobei seine Hand an den Griff des Kurzschwertes fuhr, das er am Gürtel trug.
Zwar war es offiziell nicht verboten, an den Totengott Thanatos zu glauben, doch wurden seine Anhänger von den meisten Menschen der gebrochenen Welt abgrundtief gehasst. Dies war vor allem dem Dunklen Kult, einer brutalen, radikalen Gruppierung von fanatischen Todesanbetern, Nekromanten und sonstigen Schwarzmagiern zuzuschreiben, die vor rund fünfhundert Jahren ganz Kalatar terrorisiert hatte.
Die Vertreter der einzelnen Nationen in Galor indes hatten sich unter der Hand darüber geeinigt, jede Form der Todesanbetung in der Stadt zu unterbinden, da sie um die Moral ihrer Truppen fürchteten. Dennoch hatten sich seit der Invasion der Orks erstaunlich viele Menschen den Thanatoikern angeschlossen.
„Keine Sorge“, beschwichtigte Ariona, „ein paar Elipfer haben sie vertrieben.“
„Die Thanatoiker müssen inhaftiert werden!“, zischte Ferren, „Sie demoralisieren die Bürger Galors…und wahrscheinlich stecken sie auch noch hinter der Invasion der Orks.“
„Die Todesanbeter?“, Ariona stutze, „Warum glaubt Ihr das?“
„Nun ja, weil…viele sagen das, der ganze delionische Offiziersstab. Todesanbeter ganz klar. Diese tumben Orks hätten eine Invasion wie diese doch nie auf die Reihe gekriegt.“
„Nein, ich glaube nicht, dass die Thanatoiker dahinter stecken. Seht mal, für die meisten von ihnen ist der Tod nur ein Teil des natürlichen Kreislaufes, den sie anbeten. So wie die Göttin des Mondkults als die Gebärerin, als Mutter, der Welt betrachtet wird.
Sie führen den Tod nicht auf unnatürliche Weise herbei, um ihrem Gott zu dienen. Soweit ging nur der Dunkle Kult und den gibt es nicht mehr.“
Ferren schwieg zunächst, bevor er kopfnickend zustimmte:
„Aber wer sollte sonst dafür verantwortlich sein?“
„Manche halten es für die Sühne, die sie aufgrund des moralischen Verfalls tun müssen. Die Monarchisten glauben, es sei eine Verschwörung der Demokraten, und die Demokraten meinen, die Monarchisten stecken dahinter. Ganz ehrlich: Mit den Verdächtigungen hat die Situation, in der wir uns jetzt befinden, doch erst angefangen. Jetzt traut keiner mehr dem anderen.“
„Wohl wahr“, bestätigte der Leutnant, „Aber irgendwer muss Recht haben. Die Orks waren es jedenfalls nicht allein.“
„Ja, möglich. Ziemlich sicher sogar. Aber ich fürchte, hier Vermutungen zu äußern, wäre gefährlich.“
„Glaubt Ihr etwa, ich hätte was damit zu tun?“, keuchte Ferren.
„Nein, Ihr nicht. Aber diese Stadt. Sie ist gefährlich“, flüsterte Ariona.
„Ich bin Wachoffizier. Das müsst Ihr mir nicht erzählen.“
„Ich fürchte, von dem meisten wissen die Wachen nicht einmal etwas“, flüsterte Ariona, „In dem Haus meiner Freundin im Hafenviertel lebten mal sechs Leute. Jetzt sind es nur noch drei. Sie glaubt, einer der Bewohner hat angefangen, die anderen zu vergiften, um die Chance zu erhöhen, einen Platz auf den Schiffen zu bekommen.“
„Ja, so was hören wir öfter. Aber wir können nicht allem nachgehen, zumal das Gericht überlastet und das Gefängnis voll ist. Letztlich müssen sich die Leute selbst helfen.“
„Ja, so lange, bis die kalatarischen Nationen endlich einsehen, dass sie einmal zusammenhalten müssen, um zu überleben.“
„Das wird niemals passieren“, lachte Ferren bitter im Zustand der Ernüchterung, wobei er die Flasche aufs Meer hinausschleuderte, „Entschuldigt mich“, fuhr er fort, „aber ich habe morgen Wachdienst und sollte nun besser schlafen gehen.“
Mit diesen Worten schlüpfte er wieder in seine Stiefel und zog an der Novizin vorbei, sodass diese allein am Strand zurückblieb.
FLEURdelaCOEUR Ich habe mal reingelesen, - obwohl mich der Inhalt nicht interessiert, schreibst du in einem sehr schönen Stil, der zu fesseln versteht. Wünsch dir viel Erfolg für deine Bücher! LG fleur |
Crawley Re: - Zitat: (Original von EagleWriter am 09.08.2012 - 20:11 Uhr) Das ist mal wieder eines dieser Werke, die Beweisen, das es mittlerweile wirklich gute Bücher auch umsonst gibt. Weiter so lg E:W Danke, bin sehr erfreut, das zu hören. Im Übrigen ist der Roman eigentlich fertig. Ich bin gerade dabei, ihn zu überarbeiten, und lade stets das hoch, was ich schon durchgesehen habe. LG Crawley |
EagleWriter Das ist mal wieder eines dieser Werke, die Beweisen, das es mittlerweile wirklich gute Bücher auch umsonst gibt. Weiter so lg E:W |
Fianna Re: Re: Auch Kapitel 1... - Zitat: (Original von Crawley am 03.08.2012 - 19:21 Uhr) Zitat: (Original von Fianna am 03.08.2012 - 19:07 Uhr) ... hast du sehr überzeugend geschrieben und obwohl ja eigentlich noch gar nicht viel passiert, wird der Leser regelrecht in diese fremde Welt hineingezogen. Die Perspektivenwechsel gefallen mir sehr gut, nur ist es ein wenig verwirrend, wenn es keine Absätze dazwischen gibt, wie zum Beispiel auf Seite 27, Seite 34, Seite 40 Ansonsten, wie schon erwähnt sehr schöne Beschreibungen und die Charaktere gewinnen immer mehr an Tiefe. Liebe Grüße Fianna Danke für den Kommentar. Tatsächlich sind an diesen Stellen in der Originaldatei auch Absätze. Allerdings komme ich mit der Formatierung beim Übertragen auf myStorys immer noch nicht ganz klar, weshalb mir schon mal Absätze oder Anfangsbuchstaben verloren gehen. LG Crawley Ach so ist das. Na dann, so schlimm ist es ja nicht. Es dauert eben eine Weile, bis man sich hier zurechtfindet, aber irgendwann geht es wie von selbst :-) |
Crawley Re: Auch Kapitel 1... - Zitat: (Original von Fianna am 03.08.2012 - 19:07 Uhr) ... hast du sehr überzeugend geschrieben und obwohl ja eigentlich noch gar nicht viel passiert, wird der Leser regelrecht in diese fremde Welt hineingezogen. Die Perspektivenwechsel gefallen mir sehr gut, nur ist es ein wenig verwirrend, wenn es keine Absätze dazwischen gibt, wie zum Beispiel auf Seite 27, Seite 34, Seite 40 Ansonsten, wie schon erwähnt sehr schöne Beschreibungen und die Charaktere gewinnen immer mehr an Tiefe. Liebe Grüße Fianna Danke für den Kommentar. Tatsächlich sind an diesen Stellen in der Originaldatei auch Absätze. Allerdings komme ich mit der Formatierung beim Übertragen auf myStorys immer noch nicht ganz klar, weshalb mir schon mal Absätze oder Anfangsbuchstaben verloren gehen. LG Crawley |
Fianna Auch Kapitel 1... - ... hast du sehr überzeugend geschrieben und obwohl ja eigentlich noch gar nicht viel passiert, wird der Leser regelrecht in diese fremde Welt hineingezogen. Die Perspektivenwechsel gefallen mir sehr gut, nur ist es ein wenig verwirrend, wenn es keine Absätze dazwischen gibt, wie zum Beispiel auf Seite 27, Seite 34, Seite 40 Ansonsten, wie schon erwähnt sehr schöne Beschreibungen und die Charaktere gewinnen immer mehr an Tiefe. Liebe Grüße Fianna |