4 - Von Überlegenheit und Vertrauen
Man stelle sich vor, man befände sich gemeinsam mit fünf extraterrestrischen, humanoiden Lebensformen in einem relativ großen, von dickem Stahl ummantelten Raum. Zwei dieser erwähnten Humanoiden trügen Waffen und es wäre nicht ausgeschlossen, dass sie feindliche Absichten gegen einen hegten. Tatsächlich wäre es sehr wahrscheinlich, dass sich hinter ihrer zur Schau gestellten Freundlichkeit eisige Berechnung verbergen würde und dennoch wären die einzigen Empfindungen, zu denen man gerade im Stande wäre, nicht abgrundtiefe Furcht oder auch Zorn darauf, dass man überhaupt erst in diese Lage geraten war, sondern grenzenlose Fassungslosigkeit, durchsetzt von einem beständig wachsenden Funken Mitleid.
Unwahrscheinlich, würde man nun sagen, völlig absurd und doch waren dies genau jene Empfindungen, die Sim gerade hatte, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Seine zuvor alles überschattende Angst, war fast vollständig gewichen und hatte diesen neuen Gefühlen Platz gemacht, die auch der Grund dafür waren, dass er einige Zeit benötigte um sein Sprachzentrum wieder zu aktivieren.
„Fünf?“, hauchte er ungläubig, um dann langsam den Kopf zu schütteln. „Das…das ist doch nicht euer Ernst, oder? Ich meine…“ Er machte eine hilflose Geste mit den Armen und verstummte dann.
„Es mag durchaus sein, dass nicht jeder Bewohner Soleras mit dem beabsichtigten Vorgehen einverstanden ist“, gestand Gris, fügte dann aber hinzu: „Fakt ist jedoch, dass es nun einmal in der Natur eines jeden Lebewesens liegt, an seinem Leben zu hängen und alles für seinen Fortbestand zu unternehmen. Natürlich würden viele davor zurückschrecken, einem anderen bewohnten Planeten die Sonne zu stehlen, aber war es nicht von Anbeginn der Zeit auch auf der Erde so, dass der Überlegene sich gegenüber dem Schwächeren behauptete und zwar oft auf dessen Kosten? Nun, nach dem, was wir in den letzten hundert Jahren über euch herausgefunden haben, sind viele Soleraner zu dem Schluss gelangt, dass wir euch in mehrfacher Weise überlegen sind. So ist etwa unsere Technik viel weiter fortgeschritten, als die eure und auch unser Gehirn scheint auf einem höheren Level zu agieren.“
Als er Sims offensichtlich beleidigten Gesichtsausdruck sah, den dieser nur schwerlich verbergen konnte, erklärte er entschuldigend: „Es ist nicht so, dass ihr dümmer wärt, als wir, verstehen Sie? Unser Gehirn ist nur zu …zu ….es nimmt Informationen schneller auf, als es bei euch der Fall ist und einmal Aufgenommenes, ist für die Ewigkeit abrufbar, wenn man es ein wenig trainiert. Nur deshalb konnte ich in so kurzer Zeit beinahe alle auf der Erde gebräuchlichen Sprachen lernen, sodass ich sie einigermaßen beherrschte. Sie sehen ja selbst, dass mein Deutsch dem ihren in nichts nachsteht. Mein deutsches Vokabular würde mehrere Bücher füllen und dies ist, wie vorhin schon erwähnt, nicht die einzige Erdensprache, in der ich so versiert bin.“
„Tut mir leid, aber das kann ich einfach nicht glauben“, brachte Sim schließlich hervor. „So etwas ist nicht möglich.“
Ein verständnisvolles Lächeln breitete sich auf Gris Gesicht aus. „Nach den Maßstäben der Erde nicht, da stimme ich Ihnen zu. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen sage, dass Ihr Verstand nicht dazu ausgelegt ist, das zu verstehen. Es gibt nun mal Grenzen des Möglichen, die allerdings von Art zu Art unterschiedlich sind.“
„Wollen Sie damit behaupten, sie gehörten einer anderen Art an und seien gar keine Menschen?“
Bestimmt schüttelte Gris den Kopf. „Soleraner sind Menschen, allerdings müsste es Ihnen vielleicht bekannt sein, dass, wenn man das ganze aus der Sicht eines Biologen betrachtet, die Bezeichnung Mensch eigentlich der Gattungsname ist, aber das ist nicht wirklich von Bedeutung, denn das alles sind nur Worte und Worte können eben nicht exakt beschreiben, was und wie etwas ist. Nicht alles ist in Worte zu fassen und ich muss gestehen, dass meine Aussage wohl nicht besonders gut gewählt war. Letztendlich läuft es darauf hinaus, dass wir euch Erdenmenschen zwar sehr ähnlich sind, jedoch gibt es gewisse Abweichungen, die vor allem unsere Psyche betreffen.“
Hilflos zuckte Sim mit den Achseln. „Wenn Sie meinen. Mir ist das jedenfalls suspekt. Etwas Derartiges hätte uns doch schon früher zu Ohren kommen müssen.“
„Nein, eben nicht“, hielt Gris dagegen. „Je mehr ihr über uns wusstet, je mehr wir über euch wussten, desto schwieriger wurde es für einige von uns, den bereits gefassten Plan weiterzuverfolgen. Ist Ihnen denn nie die Frage in den Sinn gekommen, weshalb wir keine unserer Erfindungen, kein Wissensgut und nicht einmal Medikamente, die gegen einige eurer schlimmsten Krankheiten wirksam wären, mit euch teilten, warum wir zusahen, wie eure Felder von Dürre und Stürmen zerstört wurden, wie Riesenwellen ganze Küstenlinien auslöschten, obwohl wir etwas dagegen hätten unternehmen können?“
„Dagegen hättet ihr etwas tun können?“, hauchte Sim ungläubig. „Wie?“
„Ist das denn wichtig? Wir taten es nicht und zwar aus dem einzigen Grund, dass uns solcherlei Eingreifen für euch verantwortlich gemacht hätte.“
„Wenn das wirklich wahr ist, dann…dann habt ihr bereits Menschenleben auf dem Gewissen. Unterlassene Hilfeleistung bei euren Möglichkeiten kommt doch beinahe einem Mord gleich“, begehrte der Linguist von der Erde hitzig auf. „Tausende, nein, Zehn -, Hunderttausende kamen in den letzten 100 Jahren durch Naturkatastrophen ums Leben und ihr habt lediglich zugesehen.“
Traurig nickte Gris. „Und zwar aus zweierlei Gründen. Einerseits widerspricht es unserer Philosophie, in natürliche Vorgänge auf anderen Planeten einzugreifen und andererseits wäre es doch grausam, euch zuerst das Leben zu retten, nur um euch im Nachhinein die Sonne zu stehlen und euch damit zum Tode zu verurteilen.“
„Das ist doch kein Argument. Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid, dass ihr so leichtfertig über Leben und Tod bestimmt?“
Beschwichtigend hob Gris die Hände. „Ich kann verstehen, dass Sie das aufregt, aber eigentlich ist es nicht das, worauf ich hinauswollte. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass ihr nichts von unseren Fähigkeiten wissen könnt, da wir uns, im Gegensatz zu euch, nicht dazu bereit erklärt haben, Handelsbeziehungen zwischen unseren Planeten einzurichten oder auch nur Gedankenaustausch zu betreiben. Es hat zwar den Anschein, als hätten wir uns integriert, da wir überall, wo man uns ließ, Unternehmen gründeten, die einzig und allein dazu dienten, das Geld für die Ausgrabungen und die damit verbundene Forschung zu beschaffen, doch in Wahrheit sind wir von eurer Gesellschaft völlig isoliert und zwar aus Berechnung. Das einzige, das uns dazu veranlasst hat, mit euch in Kontakt zu treten, war die Notwendigkeit, Einheimische zu Rate zu ziehen, da es nun mal eure Vorfahren waren, die das, was wir begehren, geschaffen haben.“
Vor Überraschung vergaß Sim seinen Zorn. „Was? Wie meinen Sie das? Unsere Vorfahren…Sie…Sie wollen doch nicht behaupten, dass all die für so fortschrittlich gehaltenen Maschinen und Technologien, von…von uns…gebaut wurden. Das ist doch absurd.“
Auch Gris Gesicht wies nun eindeutige Verwunderung auf, als er fragte: „Wollen Sie mir etwa weismachen, dass Sie das nicht wussten, dass… Wie viel wissen Sie überhaupt?“
„Genug, um mich davor zu hüten, euch zu trauen“, gab Sim trotzig zurück.
„Ach, kommen Sie, wenn wir etwas mit Solera & Co zu schaffen hätten, hätten Sie sich schon längst auf einer Folterbank wieder gefunden, während Sie uns alles erzählten, was wir wissen wollen. Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als uns zu vertrauen, denn ohne unseren Schutz sind Sie innerhalb von wenigen Stunden tot.“
„Wollen Sie mir jetzt auch noch drohen?“ Unter Sims Zorn hatte sich nun auch wieder Angst gemischt, doch er war fest entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen. „Ich würde euch nur all zu gerne mein Vertrauen schenken, aber um ehrlich zu sein, wäre ich ziemlich dumm, wenn ich es so vorbehaltlos täte. Schließlich muss es doch an Größenwahn grenzen, wenn sich fünf Soleraner gegen ihr eigenes Volk stellen, nur um eine, von ihrem Standpunkt aus gesehen, minderwertige Rasse von Menschen zu retten. Wieso sollte ich euch also Glauben schenken, euch und eurem anscheinend aus schlechtem Gewissen entsprungenen Rettungsplan, wo es doch, wenn wir uns nichts vormachen, mehr als unwahrscheinlich ist, dass es so wenigen gelingt, irgendetwas zu bewirken?“
Die auf diese Worte folgende Stille war bedrückender als alle vorherigen und sie wurde erst, nachdem Gris sich geräuspert hatte, von diesem gebrochen. „Wissen Sie, von uns wird Sie niemand zur Kooperation zwingen. Es steht Ihnen frei, zu gehen. Aber lassen Sie mich Ihnen noch eine Frage stellen: Wenn Sie nämlich der Überzeugung sind, dass schon wir fünf, Soleraner und noch dazu Spezialisten in unseren jeweiligen Fachbereichen, nicht dazu imstande sind, das Vorgehen von Solera & Co zu vereiteln, wieso sollte es dann gerade Ihnen gelingen? Wieso haben Sie dann überhaupt diese Daten gestohlen?“
„Weil ich“, begann Sim, wobei sich ein kleines bisschen Schadenfreude in ihm regte, „im Gegensatz zu euch einen ganzen Staat hinter mir habe.“
„Ah“, machte Gris. „Hier kommt also der General ins Spiel.“
„General?“ Fragend runzelte Sim die Stirn, woraufhin sich ein kurzes Grinsen auf dem Gesicht des anderen zeigte. „General Kinski“, merkte dieser an und beobachtet mit sichtlicher Zufriedenheit, wie sich die Augen seines Gegenübers vor Überraschung weiteten.
„General.“, wiederholte dieser. „Das…das wusste ich gar nicht.“
„Dann müssen Sie schon ziemlich blind gewesen sein. Was glauben Sie denn, wie dieser Staat, der Ihnen anscheinend bei Ihren Bestrebungen zur Seite steht, es anstellen will, die Soleraner aus ihrem Heimatland, vielleicht sogar aus der ganzen Ihnen bekannten Welt zu vertreiben? Was glauben Sie wohl, aus welchem Grund man sich überhaupt dazu bereit erklärt hat, Ihnen zu helfen, obwohl man noch nicht einmal weiß, was diese Daten beinhalten, die Sie bei sich tragen.“
Sim wurde merklich blasser. „Sie…Sie meinen, dass… dass Kinski einen Krieg beginnen will?“
„Das ist nicht gänzlich auszuschließen“, gab der Soleraner zu bedenken. „Allerdings hätten wir nichts gegen ein wenig Unterstützung, solange wir diese in Zaum halten können.“
Plötzliche Verzweiflung ergriff Besitz von Sim und er stützte den Kopf in den Händen ab. Erst zu diesem Zeitpunkt realisierte er, was er überhaupt getan hatte. Natürlich hatte er von Anfang an gewusst, dass es gefährlich werden würde, dass er viel damit riskierte und doch flutete erst jetzt die ganze Bedeutung dessen, was er getan hatte, seine Gedanken. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wie hatte er annehmen können gegen einen so übermächtigen Gegner bestehen zu können? Wieso überließ er das alles nicht anderen?
„Ich…ich möchte mit den ganzen nichts mehr zu tun haben.“ Mit zitternden Fingern holte Sim das Speicherplättchen hervor und schob es den anderen über den Tisch hinweg zu. „Macht damit, was ihr wollt, aber lasst mich aus dem Spiel, ja?“
„Das wird nicht möglich sein“, erklärte Gris, der keine Anstalten dazu machte, die Daten an sich zu nehmen. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um aus der Sache auszusteigen, Simeon. Wie ich bereits erwähnt habe, so brauchen wir Ihre Hilfe. Ohne Ihre Unterstützung können wir das ganze Unternehmen sofort auf Eis legen, weil wir dann zum Scheitern verurteilt wären. Sie haben es doch selbst gesagt, ohne Ihre Mithilfe sind diese gespeicherten Informationen nutzlos. Nur Sie wissen, wie man hineingelangt.“
„Dann erkläre ich es euch eben. So schwer, wie alle denken, dass es ist, ist es nun auch wieder nicht. Zuvor habe ich einfach geblufft, als ich sagte, ich wäre unersetzbar, wenn es darum geht, den Eingang zu öffnen.“
Unbeeindruckt schüttelte Gris den Kopf. „Ihr Bluff kam der Wahrheit näher, als alles andere. Es hat keinen Sinn, es Ihnen zu erklären, also versuchen Sie doch einfach einmal, mit in einfachen Worten zu erklären, wie man dorthin gelangt. Nur zu.“
Sofort öffnete Sim den Mund, nachdem er sich gedanklich zurechtgelegt hatte, was er sagen wollte, doch kaum wollte er das erste Wort hervorbringen, da stockte er und runzelte die Stirn. „Ich…was haben Sie mit mir gemacht?“
Wieder versuchte er sich zu konzentrieren, sammelte seine Gedanken und zuckte heftig zusammen, als ein brennender Schmerz durch seine Schläfen zuckte. „Hören Sie auf damit“, keuchte er.
„Hören Sie auf daran zu denken und der Schmerz wird verschwinden“, sagte Gris lediglich. Obwohl er nicht wirklich daran glaubte, folgte Sim der Anweisung und konzentrierte sich darauf, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken.
Wie von Geisterhand verschwand das Feuer, das durch seine Stirn geflossen zu sein schien und er konnte die Augen wieder öffnen.
„Was war das?“, fragte er kraftlos.
„Dachten Sie, es gäbe keine anderen Sicherheitsvorkehrungen als die Mechanismen, die sich in den Wänden befinden? Was Sie gerade gespürt haben, war die Wirkung eines giftähnlichen Stoffes, der auf Gedanken reagiert. Erst vor ein paar Jahren kamen einige Soleraner mit derselben Substanz in Kontakt und das Ergebnis war dasselbe, mit dem winzigen, aber nichts desto trotz bedeutenden Unterschied, dass es sie tötete.“
Vor Entsetzen und Unglauben brachte Sim keinen Ton hervor.
„Keine Sorge“, versuchte Gris ihn zu beruhigen. „Wir gehen davon aus, dass Sie es überleben werden, da Sie ein Nachfahre der Erschaffer sind.“
„Das ist ja…beruhigend, wenn ihr davon ausgeht“, hauchte Sim, der inzwischen inständig hoffte, dass dies alles nur ein Traum war. Unbemerkt von den anderen zwickte er sich in den Unterarm. Der Schmerz, der daraufhin entstand, war zwar nicht besonders groß, aber er war da, was eindeutig bewies, dass dies alles hier real war.
Ergeben seufzte der einheimische Linguist. „Na gut, fürs erste habt ihr mich überzeugt, aber ich warne euch vor: Ich bin kein Held und sollte die Situation brenzlig werden, so bin ich der erste, der sich aus dem Staub macht, verstanden. Ich hänge an meinem Leben und ich bin nicht gewillt, es leichtfertig aufs Spiel zu setzen.“
„Keine Sorge. Eine Zeit lang, wird Ihnen rein gar nichts geschehen, da wir erst noch den richtigen Zeitpunkt abwarten müssen, bevor wir zuschlagen können. Später kann ich allerdings für nichts mehr garantieren. Dann werden Sie aber verstehen, dass es gar keine Rolle spielt, ob Sie sich ins Unheil stürzen wollen oder nicht, denn so sehr Sie auch versuchen, dem Ärger aus dem Weg zu gehen, früher oder später wird er Sie finden.“
„Je später, desto besser“, murrte Sim und fügte dann hinzu: „Haben Sie nicht irgendwann mal von einem Plan gesprochen?“
Gris grinste und dann erklärte er es ihm.
© Fianna 28.07.2012