Kurzgeschichte
Der Tag, an dem ich Dich verlor - Zion

Warum weine ich nicht? Mittlerweile glaube ich, dass ich es gar nicht mehr kann, weil die Tränenflüssigkeit, die irgendwo über meinen Augäpfeln produziert wird, sich längst dem Ende geneigt hat.

Irgendjemand sagte mir mal, wenn man so etwas aufschreiben würde, würde es einem besser gehen. Deswegen bin ich auf diese Idee gekommen, die sich in meinen Ohren zunächst schwachsinnig anhörte. Warum würde es einem besser gehen, wenn man etwas aufschrieb? Aber ich versuche es.

Der Tag, an dem ich Dich verlor

An

Benedict Frhr. von Truchersheim d. J.

Schloss Truchersheim 

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Vermutlich fragst Du dich gerade, weshalb ich das hier schreibe - falls Du das hier irgendwann mal lesen soltest. Ehrlich gesagt weiß ich es bis jetzt selbst noch nicht.

Aber ich glaube, ich will dir damit sagen, was los ist. In einem Märchen leben - das ist für mich etwas ganz Besonderes. DU hast mein Märchen besonders gemacht, weil Du meine Seelenverwandte warst und in gewisser Weise es immer noch bist.

Für mich ist sehr viel vorgefallen, was mich verletzt und traurig gemacht hat und immer noch macht.

Mit der Zeit ist Dir nämlich etwas passiert, was mich aufgeweckt und mir Gewissheit gegeben hat. Es muss dir nicht mal mit Absicht passiert sein, aber es ist Dir passiert. Du hast mir nämlich deutlich gemacht, dass ich Dir nie so viel bedeutet habe, bedeute, bedeuten werden wie Du mir und ich Dir einfach nicht so wichtig bin.

Das ist ok, aber es tut weh.

Vor allem, weil es eigentlich schon immer so war, aber ich es jetzt erst wahr haben wollte und verstanden habe. Vielleicht ist es nicht mal das Problem, dass Du mir wichtiger bist als ich Dir. Ein noch viel größeres Problem ist es, dass Du nie für mich da bist, wenn ich dich brauche. Deine Unterstützung fehlt mir unglaublich. Ich habe Dir das schon oft deutlich gemacht, aber bin dabei immer auf taube Ohren gestoßen.

Vielleicht findest du es gerade total albern, dass ich Dir diesen Brief schreibe, lachst vielleicht und denkst: Was erzählt die mir hier eigentlich für einen Bockmist?! 

Ich finde es selbst total doof, dass ich das alles nochmal in einen Brief schreibe und habe auch kurz mit dem Gedanken gespielt, Dich vor deiner Abschiedsfeier, bevor du weggehst, nochmal anzurufen und mit Dir zu reden. Aber wenn Du mich nicht verstanden hättest, wäre es mir noch viel, viel schlechter gegangen.

Ich wollte doch nur, dass alles wieder so toll wird wie damals. Weißt du noch, als wir uns kennen gelernt haben? Du warst für mich nicht irgendjemand, nein. Sondern die wichtigste Person in meinem Leben, mit der ich über alles reden konnte.

Und ich frage mich nur eins: Warum ist das plötzlich weg? Wie aus dem nichts, einfach weg geschnipst?

Und wie geht es weiter? Ich weiß es nicht. In meiner Hand liegt es nicht mehr.

An

Jacqueline Liebig

Emser Straße 124

10965 Berlin-Neukölln

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Sehr geehrte Frau Liebig,

ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Sohn jemals mit Ihnen schriftlich, mündlich oder sogar auf persönlichem Wege verkehrte. Deshalb möchte ich Sie höflich darum bitten, ihn nicht mehr mit diesen Schreiben zu belästigen.

Benedicts Konzentration liegt völlig auf seinem BWL-Studium an der Kingscross-University und nicht auf fremden Verehrerinnen. Ich bitte Sie, Abstand zu nehmen.

Sollte ein erneutes Schreiben meinen Sohn erreichen, drohe nicht nur ich, sondern vor allem er mit ernsthaften juristischen Konsequenzen.

Mit freundlichen Grüßen

Benedict Frhr. von Truchersheim d. Ä.