1 - Über die Grenze
Obwohl es früher Nachmittag war, herrschte eine ungewöhnliche Düsternis, was wohl hauptsächlich an der dichten grauen Wolkendecke lag, die nur sehr wenig Sonnenlicht durchließ. Jeder, der nicht etwas sehr Wichtiges zu erledigen hatte, hütete sich davor, sein Haus zu verlassen, da es nur allzu offensichtlich war, dass bald ein Sturm den Aufenthalt im Freien nicht nur unangenehm sondern sogar gefährlich machen würde.
Auf seltsame Weise fremd wirkte das Rattern des Zuges in dieser Bedrücktheit, die von allen Besitz ergriffen zu haben schien, als dieser in den Kiewer Bahnhof einfuhr und schließlich zischend zum Stillstand kam. Automatisch öffneten sich die Türen und Menschen strömten daraus hervor, mit Koffern, Rucksäcken, Kinderwägen und sogar Vogelkäfigen in Händen. Manche entfernten sich rasch, in erkennbarer Eile, während andere sich unschlüssig umsahen oder aber wartende Bekannte, Freunde und Familienmitglieder begrüßten.
Als Sim den Waggon verließ, war er einer derjenigen, die sich sofort Richtung Ausgang begaben. Ohne behinderndes Gepäck konnte er sich leicht einen Weg durch die Menge bahnen und erreichte alsbald das Ende des Bahnhofgeländes.
Kaum hatte er die schützenden Wände hinter sich gelassen, da peitschte ihm schon kalter Regen ins Gesicht und durchnässte ihn binnen weniger Sekunden bis auf die Haut. Eine Sturmböe trieb ihn vorwärts und zerrte an seinen Kleidern. Hastig lief er auf den Unterstand bei einer Bushaltestelle zu, doch auch dort fand er keinen Schutz, da der Regen von allen Seiten kam. Obwohl er sein bestes gab und sogar den Großteil des ukrainischen Textes, der im Inneren des Bushäuschens angebracht war, verstand, gelang es ihm nicht, herauszufinden, wann das Fahrzeug hier ankommen sollte, geschweige denn, wo es dann hinfuhr. Ein Bahnangestellter hatte ihm erklärt, dass die Zugverbindung nach Charkiw aufgrund von Sanierungsarbeiten nicht befahrbar wäre, weshalb eine besondere Buslinie eingerichtet worden war, die die Passagiere dorthin brachte. Allerdings hatte Sim es versäumt, ihn zu fragen, welcher Bus dies nun genau war und woran er ihn erkennen sollte. Nun musste er wohl oder übel mit diesem Versäumnis leben und sich darauf konzentrieren, jenen erwähnten Bus aus eigener Kraft zu finden.
Durch den starken Regen hindurch war es schwer, mehr als ein paar Meter weit zu sehen, weshalb er sich schließlich dazu entschloss, auf das Bahnhofgelände zurückzukehren und abzuwarten, bis sich das Wetter besserte. Ehe er jedoch auch nur einen Schritt in diese Richtung machen konnte, hielt ein Wagen vor ihm und die Beifahrertür wurde aufgestoßen.
„Simeon Frenkler?“, fragte ein Mann mit deutlichem russischen Akzent. Durch das Toben des Windes und das Prasseln des Regens auf das Autodach hindurch, war die Frage kaum zu verstehen, doch Sim nickte, wenngleich er skeptisch einen Schritt zurückgetreten war.
„Ich bin hier, um Sie abzuholen!“, schrie der Mann fast durch den Lärm hindurch, den die Natur veranstaltete. „Steigen sie ein!“
Die Gedanken überschlugen sich nur so in seinem Kopf und die wildesten Fantasien lösten einander ab. Es wäre töricht, diesem Mann zu vertrauen, da es nicht ausgeschlossen war, dass er für die Soleraner arbeitete. Andererseits war es ungewöhnlich für die Hellhäutigen, auf Erdbewohner zur Ausführung solch wichtiger Aufträge zurückzugreifen.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Sim in den hinteren Teil des Wagens zu spähen, doch er konnte nichts erkennen.
„Kommen Sie schon, Mann. Sie werden bereits erwartet und wir haben ohnehin noch einen weiten Weg vor uns.“
Immer noch zögerte Sim, doch dann siegte die Kälte, die mitsamt dem Regen unter seine Kleidung gekrochen war und er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, wurde es merklich wärmer und der Sturm kam einem nicht mehr so bedrohlich und laut vor.
„Ilja Iwanowitsch Kerenkov“, stellte der andere sich vor und streckte ihm die Hand hin, die er sofort ergriff und schüttelte. „Ich werde Sie nach Wowtschansk bringen“, fügte er noch hinzu, als sie bei einer roten Ampel anhielten. „Haben Sie es bei sich?“
Sim erwiderte nichts sondern musterte sein Gegenüber nur. Das dunkle Haar hatte Ilja zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihm über die Schultern fiel. Seine Augen wirkten ehrlich, aber das war auch oft bei Spionen der Fall, weshalb Sim sich davon nicht täuschen lassen wollte.
„Natürlich müssen Sie mir nicht antworten“, fuhr Ilja fort. „Ich bin nur neugierig. Es ist ohnehin besser, wenn Sie es für sich behalten, schließlich ist es nichts, das man jedem erzählen sollte, nicht wahr?“ Er lachte nervös und warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Dadurch übersah er beinahe eine Fußgängerin, die den Zebrastreifen bereits betreten hatte und konnte nur in allerletzter Sekunde noch auf die Bremse steigen.
Hart wurden die beiden in die Gurte geworfen. Der Fahrer murmelte eine Entschuldigung und fuhr etwas langsamer weiter.
„Hat Kinski Sie geschickt?“, fragte Sim schließlich, als sie die Stadt bereits hinter sich gelassen hatten, woraufhin Ilja nickte. „Eigentlich hätte ich Sie in Charkiw abholen sollen, aber dann haben die mit Sanierungsarbeiten an den Gleisen begonnen und der Linienersatzverkehr ist hier nun mal ziemlich unzuverlässig.“
Daraufhin schwiegen sie beide, während aus dem Autoradio leise Musik erklang, die sich mit den fast rhythmischen Klängen mischte, die der Regen verursachte. Eine plötzliche Müdigkeit befiel Sim und ehe er sich versah, war er eingeschlafen.
*
Wenige Tage später stieg Sim bei strahlendem Sonnenschein aus dem Wagen und musste unwillkürlich blinzeln, als er versehentlich direkt in die Sonne blickte. Mit gutem Gewissen konnte man Wowtschansk als Dorf bezeichnen, das zwar eine ziemlich hohe Bevölkerungszahl aufwies, jedoch großteils aus einfachen Hütten bestand, die mit, teilweise bereits morschen, Holzzäunen voneinander abgegrenzt wurden. Vor einer dieser Hütten, die direkt neben der einzigen Straße erbaut worden war, erblickte er jenen Mann, der zum ersten Mal vor drei Jahren mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, um ihn als Spitzel in der soleranischen Firma anzuwerben. Damals hatte er eine Zusammenarbeit noch vehement abgelehnt, wenngleich es ihm schwer gefallen war, das viele angebotene Geld auszuschlagen. Nachdem er jedoch die Daten entdeckt hatte, die er immer noch nahe an seinem Körper trug, war Michail Kinski der erste gewesen, den er darüber informiert und um Hilfe gebeten hatte. Neben China, der Mongolei, Tadschikistan, Neuseeland und Südafrika zählte Russland nämlich zu den wenigen Staaten weltweit, die sich gegen die Soleraner gestellt und die ihre Grenzen erfolgreich vor den Fremden verschlossen hatten. Zu Beginn war diese Haltung von vielen mit Unverständnis und sogar Feindseligkeit bedacht worden, da man ihnen vorwarf, bestimmte Gesetzte zu verletzen, wonach jeder das Recht hatte, sich den Ort, an dem er leben wollte, selbst auszusuchen. Mit der Zeit jedoch, als die Soleraner sich bereits bestens in die Gesellschaft integriert hatten, ohne jedoch ihre höher entwickelte Technik mit den Menschen zu teilen, hatte es vielerorts Proteste und Unruhen gegeben. Außerdem hatten sich Bewegungen gebildet, die sich für eine Reform der Soleranergesetzte einsetzten, da diese den Hellhäutigen alle Freiheiten einräumten, die auch einem Erdenbürger zustanden.
„Es ist schön, Sie endlich einmal persönlich kennen zu lernen“, meinte Kinski in überraschend gutem und beinahe akzentfreiem Deutsch, während er Sim freundlich lächelnd die Hand schüttelte. „Sie glauben gar nicht, wie sehr es uns freut, dass Sie sich mit diesen Informationen an uns gewandt haben. Das, was uns bevorsteht, erfordert entschlossenes Handeln und ich versichere Ihnen, dass wir alles daran setzten werden, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. Haben Sie die Daten denn bei sich?“
Sim nickte nur und sah sich besorgt um. Kinski schien allein gekommen zu sein, was in Anbetracht der Umstände eine ziemliche Dummheit darstellte. Die Soleraner wussten sicherlich bereits, dass Sim sich in der Ukraine aufhielt und es war für sie höchstwahrscheinlich nicht schwer, sich vorzustellen, was er dort vorhaben könnte.
„Gut, gut“, fuhr der Russe immer noch lächelnd fort und wandte sich dann um. „Ich nehme an, dass es Ihnen lieber ist, wenn wir auf schnellstem Wege sicheren Boden erreichen. Unser Transport wartet bereits. Haben Sie kein Gepäck?“
„Es war nicht genug Zeit zum packen“, erklärte Sim, während er dem anderen folgte. Auch Ilja schloss sich ihnen an. Allerdings drangen sie nicht weiter ins Dorf vor, wie Sim angenommen hatte. Stattdessen entfernten sie sich immer weiter von den Häusern, bis nur noch ein einziges Gebäude übrig blieb, auf das sie zusteuerten. Es glich eher einer Halle, als einem Wohnhaus und als sie es umrundet hatten, schlug Sims Herz vor Anspannung schneller. „Da wären wir“, bemerkte Kinski überflüssigerweise und zeigte auf das Monstrum von einem Hubschrauber, der wahrlich schon bessere Zeiten erlebt hatte. „Wenn Sie bitte einsteigen würden. Ich hole unseren Chauffeur.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und verschwand durch eine kleine Seitentür im Inneren des Gebäudes.
Während Ilja in dieses mechanische Ungetüm kletterte, stand Sim nur weiter da und starrte ungläubig jedes Einzelteil davon an.
„Das ist nicht Ihr Ernst“, brachte er schließlich hervor, woraufhin der andere den Kopf wieder nach draußen streckte. „Keine Sorge. Wir sind damit her geflogen. Es ist völlig sicher.“
„Wie alt ist dieses Ding überhaupt?“, fragte Sim, auf den die beruhigend gemeinten Worte des anderen sichtlich keine Wirkung hatten.
„Weiß nicht“, gab Ilja zurück. „Ich glaube, dass es ein Militärhubschrauber aus dem letzten Krieg ist, aber sicher bin ich mir nicht.“
„Aus dem letzten Krieg?“ Das ungute Gefühl in ihm nahm noch um einiges zu. „Der ist über 80 Jahre her.“
Ilja zuckte nur mit den Achseln und verschwand wieder im Hubschrauberinneren. Nun kehrte auch Kinski zurück mit einem weißhaarigen Mann im Schlepptau, der wütend vor sich hinfluchte.
„Darf ich vorstellen, Sergej Ustow.“
Der Weißhaarige würdigte Sim nicht eines Blickes, sondern setzte sich hinters Steuer. Kinski folgte ihm und nach einer letzten Aufforderung setzte auch Sim sich in Bewegung und ließ sich schließlich neben Ilja auf eine harte Stahlbank fallen.
„Schnallen Sie sich besser an“, riet ihm dieser und die nächsten paar Sekunden vergingen, indem er versuchte herauszufinden, wie er den Gurt richtig festzurrte. Voller Angst klammerte er sich an einen Haltegriff, als der Motor des Hubschraubers zum Leben erwachte. Wenig später, sah er mit vor Furcht bleichem Gesicht zu, wie der Boden sich immer weiter entfernte.
„Es ist wohl ein schlechter Zeitpunkt, um das jetzt anzumerken…“, sagte er, um sich von dem scheußlichen Gefühl abzulenken, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. „…aber ich habe extreme Flugangst und kann nicht dafür garantieren, dass ich nicht völlig durchdrehe, falls irgendetwas nicht so läuft, wie es laufen sollte.“
„Sind Sie denn schon mal geflogen?“, fragte Ilja interessiert und wandte sich ihm zu.
Hastig schüttelte Sim den Kopf. „Nein, bin ich nicht und ich hatte auch nicht vor, es einmal zu tun.“
„Woher wollen Sie dann wissen, wenn etwas daneben geht?“
„Nun…“, begann Sim, doch ein ohrenbetäubender Knall hinderte ihn am Weitersprechen und im nächsten Moment traf eine Druckwelle den Hubschrauber wie eine Stahlfaust und schleuderte ihn aus der Flugbahn. Direkt vor seinem Gesicht leuchtete ein rotes Lämpchen auf und ein an und abschwellender Sirenenton erklang. Dann knackte etwas und Kinskis, seltsam mechanisch verzerrt klingende Stimme war, zu hören. „Scheint, als hätten die doch jemanden auf Sie angesetzt. Wir…“
Ein erneuter Schlag ließ das Fluggerät erzittern und plötzlich hing Sim mit dem Kopf nach unten da. In seinem Magen rumorte es und nur mit größter Mühe konnte er den Brechreiz unterdrücken. Als würde das etwas bewirken, schloss er die Augen und begann fieberhaft zu zählen, um sich abzulenken.
Etwas rauschte und er konnte abgehackte Worte verstehen, die durch den Lautsprecher übertragen wurden. „…getroffen. Nehmen….Fallschirme….Springen.“
Entsetzen durchflutete jede einzelne seiner Adern und Venen. Alle seine Muskeln waren angespannt und seine Finger zitterten unkontrolliert.
Plötzlich stand Ilja vor ihm, der sich losgeschnallt hatte und nun alle Hände voll damit zu tun hatte, nicht zu stürzen. Er bewegte seine Lippen, doch Sim konnte nichts hören. Seine Ohren waren von einem ungewöhnlichen Summen erfüllt und als er die Hand hob, um sie sich wegen des Lärms zuzuhalten, spürte er etwas Warmes, Flüssiges. Erschrocken zog er die Hand zurück und erkannte Blut auf seinen Fingerspitzen.
Ilja drückte ihm ein Bündel in die Hand, schrie ihn nun offensichtlich an, doch er konnte einfach nichts verstehen und schüttelte verzweifelt den Kopf. Wiederum wurden sie, wovon auch immer, getroffen und Ilja fiel auf ein Knie nieder. Dann war auf einmal auch Kinski bei ihnen, der sich bereits einen Fallschirm umgeschnallt hatte. Breitbeinig schritt er auf eine fest verschlossene Tür zu, dann gestikulierte er wild und schien Ilja anzuschreien. Dieser machte sich sofort daran, den Ausgang zu öffnen, während Kinski auf Sim zuschritt, diesen schüttelte und letztlich sogar ins Gesicht schlug. Doch nichts davon drang zu ihm durch. Angst war das einzige Gefühl, das er in diesem Moment kannte und nichts konnte diese überlagern. Ein scharfer Luftzug fuhr ihm ins Gesicht, als die Tür aufgeschlagen wurde und beinahe im selben Moment wurde der Hubschrauber ein weiteres Mal durchgeschüttelt. Ilja, der sich gerade nirgendwo festhielt, verlor plötzlich das Gleichgewicht und stürzte mit einem stummen Schrei durch die Öffnung nach draußen. Kinski sprang nach vorne, wollte den anderen noch packen, doch es war bereits zu spät.
Mit einem Mal bahnte sich Sims letzte Mahlzeit einen Weg nach oben und er übergab sich. Dann erfasste ein weiterer Schlag das Fluggerät und mit voller Wucht prallte Sims Kopf an die Stahlwand, woraufhin er das Bewusstsein verlor.
© Fianna 20.07.2012