10
„Ich hätte nicht gedacht, Euch tatsächlich einmal anzutreffen“, erklärte Tyquan und ließ die Pfote der Füchsin wieder los. „Es ehrt mich, dass Ihr Euch uns zeigt.“
„Die Ehre ist ganz meinerseits, Limar“, erwiderte diese und in ihren klaren blauen Augen, die denen eines Menschen glichen, blitzte es zufrieden auf, als sie die Überraschung auf dem Gesicht ihres Gegenübers sah. „Dachtet Ihr etwa ich wüsste nicht, was Ihr seid?“
Tyquan schwieg eine Weile und fixierte einen unbestimmten Punkt hinter seiner Gesprächspartnerin mit den Augen. „Wie habt Ihr es herausgefunden?“, fragte er schließlich und wandte ihr wieder seinen Blick zu.
„Eure Augen“, sagte sie und ihr Schwanz zuckte hin und her. Dann warf sie einen kurzen Blick auf den ohnmächtigen Nadim. „Sie leuchten im Dunkeln. Dessen müsst Ihr Euch doch bewusst sein.“
„Das allein ist wohl kaum Beweis genug.“
„Wenn Ihr meint. Ich beobachte Euch und Euren Begleitern nun schon seit Ihr mein Reich betreten habt und jeder Eurer Schritte, jeder Blick, jede Tat haben mir Euer wahres Selbst offenbart. Ganz sicher war ich allerdings erst, als ich Euch mit dem Falken sah.“
Verständnislos runzelte Tyquan die Stirn.
„Ihr habt mit ihm gesprochen, ganz ohne Worte, so wie es nur Gleichgestellte tun können. Ihr beide seid Jäger der Lüfte und das verbindet euch auf besondere Weise, was der einzige Grund ist, weshalb ihr euch auf diese Art verständigen könnt.“
„Tatsächlich?“, war das einzige, das Tyquan hervorbrachte. Entweder war dieses Wesen wirklich so weise, wie allgemein behauptet wurde oder aber es war ein besonders talentierter Lügner. „Woher wollt Ihr das wissen?“
„Ich bin mit diesem Wald verbunden. Sowohl mit seinen Pflanzen als auch mit den Tieren, die ihn bevölkern und euer Falke war, solange er sich auf meinem Territorium befand, eines dieser Wesen des Waldes und damit auch ein Teil von mir.“ Für die Füchsin schien das Erklärung genug zu sein, doch der Limar wollte es genauer wissen und bohrte weiter nach.
Ein Laut, der einem menschlichen Lachen glich, entwich ihrer Kehle und sie erhob sich. „Wollen wir nicht einen angenehmeren Ort aufsuchen, um weiter darüber zu sprechen? Alle meine Sinne sagen mir, dass Euer Begleiter, der immer noch vorgibt ohnmächtig zu sein, obwohl er es längst nicht mehr ist, eine deftige Mahlzeit vertragen könnte.“
Mit einem Mal setzte Nadim sich auf und blickte zu den beiden herüber. „Ihr seid zu gütig, liebster Fuchs“, brachte er schmeichlerisch hervor und kam sogleich auf die Beine. „Wollen wir gehen?“
*
Die Füchsin führte sie über Pfade, die selbst für ihre Reittiere begehbar waren durch den Mischwald, vorbei an kleinen klaren Tümpeln und gluckernden Bächen. Einmal überquerten sie eine Lichtung, die vollständig mit weichem sattgrünem Moos bewachsen war und immer wieder umgingen sie Himbeersträucher.
Der Tag war bereits weit fortgeschritten, als sie den angestrebten Ort endlich erreichten. Nadims überraschte Blicke entgingen Tyquan nicht, als sie sich der Ansammlung von Gebäuden näherten, die lediglich aus Ästen und Moos bestanden und rund um die Stämme von Bäumen herum errichtet worden waren. Der Dieb schien die Legenden nicht zu kennen, die sich um diesen Wald und vor allem um seine rätselhaften Bewohner rankten. Die Legenden über die Vrengarvaness, die Herrin des Waldes, und ihr ungewöhnliches Gefolge.
Einen Moment lang überlegte er, ob er ihm davon erzählen sollte, doch dann entschied er sich doch dagegen. Früh genug würde er es selbst herausfinden, spätestens, wenn die Nacht hereinbrach.
„Wenn ihr einen Moment hier warten könntet, werde ich sehen, ob sich etwas zu essen für euch auftreiben lässt“, erklärte die Füchsin und entfernte sich, ohne sich davon zu vergewissern, dass ihre Gäste blieben. Was wäre ihnen auch anderes übrig geblieben? Einer wie ihr schlug man keine Bitte ab.
„Also gut“, begann schließlich Nadim, der sich, nachdem er seine Stute an einem tief hängenden Ast festgebunden hatte, auf den mit abgestorbenen Lärchennadeln bedeckten Boden niederließ. „Ich habe geschwiegen, solange es mir möglich war, aber jetzt. Könntet Ihr mir bitte verraten, was hier vor sich geht? Es ist doch nicht normal, dass Füchse sprechen oder habe ich da etwas verpasst?“
Tyquan lachte und fragte sich nun bereits zum wiederholten Male, was derzeit eigentlich mit ihm los war. So reagierte er doch sonst nicht.
Diesen Gedanken schob er jedoch rasch beiseite und erklärte: „Du solltest einfach deine Augen benutzen, Nadim. Was glaubst du, weshalb sie dir gegeben wurden? Sieh dich um und alle deine Fragen werden sich in Verständnis auflösen.“
Der Gesichtsausdruck seines Begleiters zeigte ihm deutlich, was dieser davon hielt, doch er befolgte seine Anweisung und blickte sich erneut um, allerdings nur kurz, dann sah er wieder den Limaren an. „Nein, tut mir Leid, Herr, aber meine Augen scheinen nicht halb so gut ausgebildet zu sein, wie meine Zunge, wenn Ihr versteht.“
Tyquan atmete laut aus und schüttelte den Kopf. „Du solltest das wirklich lassen?“
Verdutzt starrte Nadim ihn an. „Was denn, Herr?“
„Genau das.“
„Verzeiht, Herr, aber ich verstehe nicht, worauf Ihr hinaus wollt.“
„Du sollst aufhören, mich Herr zu nennen“, präzisierte der Limar und lehnte sich gegen einen Felsen.
Verwirrung trat auf Nadims Gesicht und er sagte: „Wenn Ihr es so wollt, Herr.“
„Ich meine es ernst, Nadim. Hör auf damit und auch mit dieser lächerlichen Anrede.“
Einen Moment lang schwieg der Dieb und starrte in Gedanken versunken vor sich hin. Währenddessen lauschte Tyquan der Stimme des Waldes und hörte sofort das Rauschen eines nahen Flusses und das Schnattern einiger entfernter Enten.
„Wieso stört Euch…Verzeihung…stört dich das plötzlich, H…Tyquan?“ drang da die Stimme des anderen wieder zu ihm durch und ohne diesen anzusehen, erwiderte er: „Es war mir von Anfang an zuwider.“
„Ah.. und aus welchem Grund hast du mir das dann nicht früher gesagt?“
Nun wandte er ihm doch den Blick zu. „Ich hätte nicht gedacht, dass du mir solange an den Fersen klebst.“
„Oh“, machte Nadim nur und starrte wieder vor sich hin.
So vergingen mehrere Dutzend Herzschläge ohne, dass die Füchsin zurückkehrte.
„Nun, jetzt, da wir uns näher gekommen sind…“, begann Nadim von neuem, „Könntest du mir sagen, was das hier sein soll? Ich komme einfach nicht von selbst darauf. Das sieht für mich mehr nach einer Menschensiedlung aus, wenn auch für eher kleine Menschen, aber Füchse können so etwas doch nicht bauen, oder? Ich meine, ich dachte ja auch, dass Füchse nicht sprechen können, aber das war ja offensichtlich ein Irrglaube.“
Als Tyquan schwieg, fuhr er fort: „Oder sind das etwa solche Viecher, wie…“ Er stockte, als der Limar ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.
„Wie…?“, bohrte dieser nach und sah deutlich, wie der andere schluckte.
„…wie…wie diese, Ihr wisst schon… diese Schwerwölfe?“, brachte er schließlich hervor und abermals schlich sich ein Grinsen auf Tyquans Gesicht. Er gab jedoch keinen Ton von sich, sondern starrte wieder in die Richtung, in die die Füchsin verschwunden war. Diese tauchte jedoch auch weiterhin nicht auf, was Nadim Zeit für Spekulationen bot. Für einige Augenblicke dachte er nach, dann wurden seine Augen groß. „Sagtest du nicht, diesen Wald würde man den Wolfswald nennen?“
„Simena – Vrengar in der vergessenen Sprache der Träumer“, stimmte Tyquan unbeeindruckt zu.
„Dann, oh, bei Hrogram, dann sitzen wir aber ganz schön in der Klemme, wenn das ein Schwerwolflager ist.“ Beunruhigt sprang Nadim auf die Beine. „Wir müssen hier weg. Die werden uns auffressen. Von wegen, die geben uns was zu essen. Wir sind die Mahlzeit, für die. So macht das sogar Sinn. Warum rührst du dich denn nicht? Und was gibt es da zu grinsen?!“
Das Gesicht des Diebes lief vor Aufregung in einer seltsamen Mischung aus rot und violett an, während er Tyquan am Ärmel seines Gewandes zog. „Wir müssen hier weg“, beschwor er, wobei er unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte.
„Was im Namen alles Guten“, begann der Limar, ohne sich von der Stelle zu rühren, „soll ein Schwerwolf sein, Nadim? Kannst du mir das sagen?“
Verblüfft ob der Gleichgültigkeit mit der der Krieger ihrem nahen Ende entgegensah, hielt der Dieb in seinem Tun inne und blinzelte mehrmals, bevor er die Stirn runzelte und sagte: „Du wirst doch wohl schon von den Schwerwölfen gehört haben, die sich in dunklen Wäldern herumtreiben, kleine Kinder und Wanderer anfallen und sie entweder auffressen oder sie zu ihresgleichen machen, indem sie ihre Beute nur leicht anknabbern.“
„Schwerwölfe?“, wiederholte Tyquan das seltsame Wort mit hochgezogenen Augenbrauen, woraufhin Nadim eifrig nickte.
„Einmal davon abgesehen, dass es sich dabei nur um Legenden handelt, so lautet die richtige Bezeichnung, Werwolf, nicht Schwerwolf“, erklärte der Limar mit Expertenmiene.
„Das ist doch Unsinn“, sprach Nadim dagegen. „Was sollte denn Werwolf bedeuten?“
„Was bedeutet denn Schwerwolf?“, gab Tyquan zurück, doch der andere ließ sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen. „Das ist doch wohl klar. Das sind Wölfe, die schwerer sind als ihre gewöhnlichen Artgenossen. Schwerwölfe eben. Hast du etwa gedacht, das wären ganz normale Wölfe? Weit gefehlt, sonst wären sie ja nicht soo gefährlich.“
Kopfschüttelnd stieß sich Tyquan von dem Stein ab und drang tiefer ins Lager ein.
„Was machst du denn da?“, fragte Nadim entgeistert, ohne ihm zu folgen.
Ohne den Kopf zu wenden, erläuterte der Limar: „Erstens, sind diese Werwölfe, im Gegensatz zu den Lobesses, nichts anderes als Hirngespinste von Bauern, die irgendjemandem den Verlust ihrer Schafe zu Lasten legen wollen, wenn kein Limar in der Nähe ist. Und zweitens: Dir dürfte vielleicht aufgefallen sein, dass das Tier, das uns hierher geführt hat, kein Wolf war, sondern ein Fuchs.“
Er konnte Nadims ungläubigen Blick fast spüren und als er weiterging, hörte er hinter sich einen Ast knacken. Ansonsten war es völlig ruhig.
*
Schweigend durchschritten die beiden nebeneinander das Lager und sahen sich genauer um. Zwischen den Ästen der Bäume hatte Tyquan weitere Hütten ausgemacht, die durch schmale Strickleitern miteinander verbunden waren. Außerdem fielen ihm die zahlreichen kalten Feuerstellen auf, die sorgsam mit Steinen vom umliegenden trockenen Waldboden abgegrenzt worden waren und in denen noch alte Asche lag.
Stirnrunzelnd ging der Limar in die Knie und streckte die Hand nach den Resten eines Feuers aus, da er glaubte, dort etwas entdeckt zu haben, das hier nicht hingehörte.
„Hatte ich euch nicht gebeten, zu warten?“, erklang da die Stimme der Füchsin und fast gleichzeitig drehten sich die beiden Männer zu ihr um.
„Beim Schwanz der Ratte!“, entfuhr es Nadim und als er, ob des Schrecks, bedrohlich schwankte, ergriff Tyquan ihn am Arm und hielt ihn aufrecht.
„Das…das kann doch nicht sein. Das ist unnatürlich“, brabbelte der Angeschlagene vor sich hin und ein glockenhelles Lachen antwortete ihm.
„Verzeiht, dass ich Euch erneut erschreckt habe“, meinte die Frau, die so unvermittelt aus den Büschen getreten war. Ihr Haar, das sie offen trug, reichte ihr bis zu den Hüften und glänzte silbrig weiß, während ihre Haut, sowohl im Gesicht als auch an Armen und Beinen eine gesunde Bräunung aufwies. Von der Füchsin waren ihr nur die klaren blauen Augen geblieben.
In ihren Händen hielt sie einen großen Korb, der, verschiedene Obst -, Gemüse-, Brot-, und Käsesorten enthielt. Freundlich lächelnd gesellte sie sich zu ihnen und ließ sich mitsamt dem Korb auf dem Boden nieder.
Ihrem auffordernden Blick folgend, taten die beiden es ihr gleich, wobei Tyquan Nadim mehr mit sich zog, als dass dieser von sich aus zu Boden sank.
„Es ist nicht viel, aber vom besten, was der Wald zu bieten hat“, meinte sie und reichte jedem eine Frucht, die wie eine Birne geformt war, jedoch eine dunkellila Färbung aufwies. Sie selbst griff nach einer gleichen Frucht und bis hinein.
Schweigend verzehrten sie den Inhalt des Korbes und während des Essens ließ Tyquan die Frau, die Vrengarvaness, nicht aus den Augen. Aus der Nähe erkannte er, dass sie nicht einfach ein braunes Kleid trug, sondern eine Art Rüstung die nur so aussah und die aus den Einzelteilen zahlreicher Fichten-, und Tannenzapfen angefertigt worden war. Zusammengehalten wurde dies alles von verschiedenen Gräsern, die vermutlich mit besonderen Spinnenweben so lange bearbeitet worden waren, bis sie sowohl geschmeidig, als auch reißfest geworden waren.
Nadim schien seinen anfänglichen Schrecken einigermaßen überwunden zu haben, stellte Tyquan fest, als er ihm einen kurzen Blick zuwarf. Die Farbe war in dessen Gesicht zurückgekehrt und seine Haltung verriet eindeutig, dass er gerade zu einer Frage ansetzte.
„Könnt Ihr mir eine Frage beantworten?“, fragte er da auch schon, wobei er die Vrengarvaness, die gerade drei Spatzen, die sie erwartend aus der Ferne musterten, ein paar Brotkrümel zuwarf, unverwandt ansah.
„Fragt“, sagte sie nur und lächelte ihn dann an.
Einen Moment sah es fast so, als hätte der ansonsten so gesprächige Nadim seine Zunge verschluckt, doch dann räusperte er sich und meinte: „Ihr…dieser Wald…man nennt ihn doch den Wolfswald, wenn ich mich nicht täusche.“
Sie nickte, ohne den Blick von ihm abzuwenden, was den Dieb noch unruhiger werden ließ.
„Ich…ich verstehe einfach nicht, weshalb Ihr dann …weshalb…“
„…weshalb ich ein Fuchs bin und kein Wolf?“, ergänzte sie, woraufhin er nickte.
„Es ist nun mal eine Eigenart der Menschen, dass sie Orte oder auch Dinge nach Wesen oder Erscheinungen benennen, die sie fürchten oder die sie respektieren. Denkt nur an Angeworis, was so viel bedeutet wie Donnertal oder noch nahe liegender den Berg Zroegis, was einfach nur Unheil heißt.“
„Oder die Gebirgskette im Norden von Procarte“, ergänzte Tyquan, „die Limarensinwa, die Drachenfeuer.“
„Dann gibt es hier keine Wölfe?“, bohrte Nadim weiter nach und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Nicht einmal Schwerwölfe?“
Die Mundwinkel der Vrengarvaness zuckten leicht, doch anders als der Limar lachte sie nicht, sondern erklärte mit ruhiger Stimme: „Weder das eine noch das andere wagt sich hierher.“
„Was ist dann das hier?“, wollte er noch wissen und zeigte dabei mit einer allumfassenden Geste um sich.
Vorsichtig stapelte sie die nicht verzehrten Speisen, von denen es nicht all zu viele gab, wieder in den Korb. Dann warf sie Tyquan einen seltsamen Seitenblick zu, doch er reagierte nicht darauf.
„Des nachts benötigt mein Volk Schutz und Unterschlupf.“, erklärte sie kurz angebunden. Nadim aber wusste nie, wann er seine Fragerei unterlassen sollte und fuhr fort: „Dein Volk? Dann gibt es noch mehr Fuchsfrauen?“
Darauf erwiderte die Vrengarvaness eine Weile nichts. Sie erhob sich und warf einen Blick gen Himmel. „Es wird bald dunkel“, bemerkte sie und blickte den Limaren an. „Es gibt hier in der Nähe eine Lichtung, die euch dienlich sein könnte. Wenn Ihr wollt, bringe ich Euch hin.“
Mit einem letzten Blick auf Nadim, der diesem einschärfen sollte, keine solch unschicklichen Fragen mehr von sich zu geben, erhob auch Tyquan sich und nickte. „Das wäre sehr freundlich.“
„Dann kommt“, forderte sie ihn auf.
„Und was ist mit mir?“, machte der Dieb auf sich aufmerksam und kam ebenfalls auf die Beine.“
„Sorgt Euch nicht um ihn“, wandte sich die Herrin des Waldes an den Limaren. „Wir werden ihm eine angenehme Unterkunft zur Verfügung stellen und wenn die Sonne wiederkehrt, könnt Ihr Eure Reise fortsetzen.“
„Hast du gehört, Nadim“, rief Tyquan dem anderen im Gehen zu. „Mach ja keinen Ärger.“
Mit mürrischem Gesicht ließ der Dieb sich wieder zu Boden sinken und starrte den im Dickicht verschwindenden Gestalten hinterher.
*
Das könnte doch noch eine interessante Nacht werden, dachte Nadim wenig später, während er sich grinsend von den Mädchen fortführen ließ. Kaum hatte Dunkelheit den Wald eingehüllt, da waren sie aus dem Wald getreten. Dutzende von ihnen, die ihrer Herrin vom Aussehen her ähnelten. Eine von ihnen hatte Wein gebracht und so war die Nacht weit fortgeschritten, während sie sich mit belanglosen Gesprächen die Zeit vertrieben. Einige hatten Musikinstrumente hervorgeholt und so lieblich gesungen, dass selbst dem härtesten Krieger das Herz weich geworden wäre (mit Ausnahme Tyquans vielleicht, aber der war ein Sonderfall)
In der Ferne, im Schein des Lagerfeuers, sang noch immer eine der Schönen und ihre zarte Stimme folgte Nadim, während er zu einem der Holzhäuschen geführt wurde.
„Das Feuer geweckt, in finsterer Nacht,
die Schatten umtanzen es leise.
Am Himmelszelt die Sterne erwacht,
die Sonne begann ihre Reise.
Hoch oben steht der Mond,
tröstet mit silbrigem Glanz;
dort oben am Himmel er thront,
macht selbst Zerbrochenes ganz.
Leise und flüsternd regt sich der Wald,
streckt aus seine müden Glieder,
verleiht seinen Kindern neue Gestalt,
sieht erst am Morgen sie wieder.
So schwärmen wir aus im Dunkel der Nacht,
versuchen die Sonne zu finden.
So wird seit jeher ein Opfer gebracht,
um ihre Macht zu binden.“
Vom süßen Wein benebelt, schwankte Nadim ein wenig und benötigte die stützenden Hände der Mädchen, die ihn begleiteten.
Womit hatte er solche Schönheit verdient? Und niemand war da, mit dem er sie teilen musste.
Sanfte Hände schubsten ihn in eine der größeren Hütten und er fiel zu Boden, doch das störte ihn nicht, denn sogleich griffen weiche Finger nach ihm, setzten ihn auf und lehnten ihn gegen den Baumstamm, um welchen das Häuschen errichtet worden war.
„Denn schimmernd wie das Morgenrot,
heiß wie der Feuer Glut,
fließt aus dem Körper vor dem Tod
frisches, glänzendes Blut.“
Eines der Mädchen ergriff seine Hände und ehe er sich versah, hatte es ihn mit einem feinen Strick an den dünnen Baumstamm gebunden.
„Ihr s…seid mir vielleicht welche“, lallte Nadim, der immer noch glücklich vor sich hingrinste. Dann schoss ihm ein grausiger Schmerz durch die Handgelenke, als die Fesseln fester angezogen wurden.
„He“, protestierte er, „das tut weh.“
Stirnrunzelnd versuchte er sich von dem Strick zu befreien, doch dies war ein Ding der Unmöglichkeit.
„Das is’ gar nich’ mehr lus..tich“, jammerte er, doch niemand achtete auf seine Einwände. Stattdessen drückte ihm jemand einen großen Fetzen in den Mund.
„So höre unser Flehen
und kehre zu uns zurück.
Das Opfer sollst du sehen,
es schmecken Stück für Stück.“
Ein eisiger Schauer lief über Nadims Rücken, als er plötzlich den Sinn der Worte erkannte, den eines der Mädchen immer noch sang. Wild begann er um sich zu strampeln und an seinen Fesseln zu ziehen, doch letztere gruben sich nur noch weiter in sein Fleisch.
„So segne uns mit deiner Herrlichkeit
um uns deine Kraft zu schenken.
Nimm dieses Opfer für die Ewigkeit,
um weiter das Schicksal zu lenken.“
Die Sängerin näherte sich nun eindeutig und mit jedem Ton, der verklang, wuchs die Angst. Wie hatte so etwas bloß passieren können und wo verdammt noch mal war dieser Limar, wenn man ihn brauchte?!
Das Licht einer Fackel fiel durch den Eingang. Dann bückten sich drei der Mädchen herein. Die Sängerin wiegte sich wie in Ekstase vor der Hütte im Schein des Feuers hin und her, wobei ihr langes, volles Haar ihren schmächtigen Körper umspielte.
Die drei, die sich mit ihm in der Behausung aufhielten, hatten eine Schüssel, ein grausig gebogenes Messer und eine Art Schüreisen mitgebracht. Eine von ihnen riss sein Hemd entzwei.
„Gezeichnet des Sterblichen Hülle
mit Feuers reiner Macht“,
gab die Sängerin von sich und ein Chor wiederholte ihre Worte. Erbarmungslos hob das Mädchen mit dem Schüreisen dieses an und drückte die glühende Spitze gegen Nadims Brust. Sein Schrei wurde von dem Knebel erstickt, als der Schmerz ihn durchflutete. Sein Herz schien einen Augenblick lang auszusetzen. Dann wurde das Eisen an einer anderen Stelle angesetzt und abermals schien sein Körper vor Qual zu zerspringen.
„Gespalten der Körper in eisiger Stille.
Der Geist entschwindet sacht.“
Auf diese Verse folgte Schweigen. Eine Lautlosigkeit, wie sie bedrückender nicht hätte sein können. Jeglicher Lärm verstummte. Die Nacht schien den Atem anzuhalten und Nadim, der ob der Schmerzen, die ihm mit dem Schüreisen zugefügt worden waren, noch mühsam keuchte, riss entsetzt die Augen auf, als er sah, wie eines der Mädchen die kleine Tonschale auf der linken Seite seines Bauches ansetze, direkt unter dem Herzen. Im Fackelschein blitzte das sichelförmige Messer gefährlich scharf auf und als das Mädchen, das dieses hielt die Angst in den Augen ihres Opfers sah, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
Kleine, gefährlich scharfe Zähne offenbarten sich. Fuchszähne.
Das Messer näherte sich und kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn in die Augen, als es seine Haut berührte. Obwohl das Fuchsmädchen noch nich einmal fest zugedrückt hatte, bildete sich bereits ein feiner roter Streifen und ein Blutstropfen rollte zur Schale.
Einen winzig kleinen Augenblick lang klammerte Nadim sich an den Gedanken, dass es das gewesen war, dass sie nicht mehr brauchten, als ein paar Tropfen Blut, dass er diese Nacht zwar verletzt, jedoch lebend überstehen würde.
Doch dann führte ihm ein schrecklicher Schmerz die grausame Realität vor Augen. Alle seine Muskeln verkrampften sich und ein fürchterlicher Schrei wurde von dem Knebel erstickt, als ihm das Sichelmesser mit voller Wucht in die Brust gestoßen wurde.
Sein Herzschlag beschleunigte sich und er glaubte es überall zu spüren. An seinen Fußsohlen, in seinen Handflächen, am Hals, an den Schläfen, in den Oberschenkeln, vor allem aber dort, wo es seit jeher geschlagen hatte, in seiner linken Brusthälfte, in der ein Riss klaffte und es war noch lange nicht vorbei, denn das Fuchsmädchen zielte erneut und ließ die Sichel niedersausen.
„Gespalten der Körper in eisiger Stille.
Der Geist entschwindet sacht.“
© Fianna 09.07.2012