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Brennende Schmerzen, die anstatt des Blutes durch seine Adern zu fließen schienen, rissen Tyquan aus der Ohnmacht. Ein Schrei wollte sich den Weg aus seiner Kehle bahnen, doch diese war so trocken, dass sich ihr nur ein gequältes Röcheln entrang. Er schmeckte Blut, wobei er jedoch nicht sagen konnte, ob es aus seiner geschundenen Lunge kam oder einfach nur von einer zerbissenen Lippe herrührte. Unter größter Willensanstrengung gelang es ihm, sich aufzurichten, was ihm das Atmen ein wenig erleichterte. Aufgrund der andauernden undurchdringlichen Dunkelheit, die ihn einhüllte, wusste er nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war; ob sie ihn vergessen hatten und hier unten sterben lassen würden, anstatt ihm einen schnellen Tod auf dem Richtpflock zu gewähren oder ob es ihm lediglich so vorkam, als verbringe er hier bereits mehr als die Hälfte seines Lebens. Zeit schien hier unten keine Bedeutung mehr zu haben; hier, wo es weder Wände, noch Boden, noch Decke gab, wo einzig die Unendlichkeit regierte, ihn betäubte und von klarem Denken abhielt. Nicht einmal eine Fackel hatten sie ihm gelassen, nur diesen dünnen, kratzigen nach Pferd riechenden Fetzen, der kaum ausreichte, um sich darin einzuwickeln, um die Kälte, die hier unten herrschte, abzuschirmen. Die kalte Wand in seinem Rücken fühlte sich uneben an und es roch nach feuchter Erde und Staub, weshalb er annahm, dass sie ihn in ein Vorratslager unter der Erde verfrachtet hatten, das höchstwahrscheinlich nur durch eine Luke in der Decke zu verlassen war. Selbst wenn seine Kräfte ausgereicht hätten, um sich auch nur erheben zu können, so wäre es schier ein unmögliches Unterfangen gewesen, dieses Loch zu finden, geschweige denn nach oben zu klettern, da sie sicherlich nicht so dumm gewesen waren, eine Leiter hier zu lassen. Und sollten sie doch diese Dummheit begangen haben, so waren da immer noch die Wachen, die Tyquan in seinem angeschlagenen Zustand mit höchster Wahrscheinlichkeit sofort überwältigt hätten. So blieb ihm wohl nichts anderes übrig als abzuwarten, zu hoffen, dass seine Kräfte schneller zurückkehren würden, als die Bürger Semetas. Wenn da nur nicht dieser quälende Durst wäre. Das Schlucken fiel ihm bereits schwer und bereitete ihm Schmerzen und ein unangenehmes Pochen in seinen Schläfen gewann zunehmend an Stärke. Glücklicherweise hatten sich wenigstens die Abstände zwischen den Schmerzattacken ausgedehnt, sodass der junge Krieger zumindest annehmen konnte, dass die Nacht schon vorüber und der Tag bereits weit fortgeschritten war. Auch beim letzten Mal hatte die Wirkung dieses Magiehemmmittels so lange angehalten und tatsächlich glaubte er die Symptome wiederzuerkennen, was ihn jedoch zu der Frage führte, aus welchem Grund es zu einem Rückfall gekommen war. Während des Rittes nach Semeta hatte er keinerlei weitere Beschwerden mehr gehabt, weder in seiner Menschen –, noch in seiner Limarengestalt, weshalb er angenommen hatte, dass die Wirkung des Pulvers, das diese Kopfgeldjäger ihm eingeflößt hatten, begrenzt war. Dass es vielleicht Spätfolgen nach sich ziehen würde, hatte er nicht bedacht.
In seinen klaren Momenten war ihm allerdings auch immer wieder eine andere Erklärung in den Sinn gekommen, über die er sich gefühlte Ewigkeiten den Kopf zerbrochen hatte. Ständig ging ihm diese Stimme durch den Kopf. Die Stimme des Mannes, der behauptete, ihn, den Limaren, vom Himmel geholt zu haben.
Nadim.
Er hätte es wissen müssen, hätte ihn erledigen müssen, als er noch Gelegenheit dazu gehabt hatte. Menschen neigten nun mal zum Verrat, wenn sie darin ein gutes Geschäft rochen und wenn sie dabei auch noch die Welt vor einem vermeintlichen Ungeheuer retteten konnten…
Vor Zorn rammte Tyquan seine rechte Faust auf den Boden, was er jedoch sofort bereute, da er daraufhin von einem heftigen Schwindelanfall ergriffen wurde. Hätte er etwas gesehen, so hätte sich vermutlich alles gedreht, doch in der Dunkelheit verlor er völlig die Orientierung, wusste nichts mehr, schien immer tiefer zu fallen, zu schweben, zu fliegen. Aus den Tiefen seines Magens drängte sich seine letzte Mahlzeit nach oben. Zitternd erbrach er sich. Ihm war heiß und kalt zugleich und kalte Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Stöhnend rollte er sich von dem Erbrochenen fort, wobei er sich den Kopf an irgendetwas stieß, das er nicht genauer identifizieren konnte.
Er wollte sterben, diesen Schmerz ein für alle Mal hinter sich lassen, diese ungerechte Welt verlassen und niemals einen Blick zurückwerfen müssen. Immer noch kehrte sich in ihm alles um und ein schrilles Pfeifen tönte ihm in den Ohren.
Das war nicht gerecht. Er hatte nicht darum gebeten, konnte nichts für sein Schicksal. Wofür wollten sie ihn denn richten? Dafür, dass er all die Jahre versucht hatte, seinen Fluch unter Kontrolle zu halten? Dafür, dass er sich seit Ewigkeiten von menschlichen Siedlungen ferngehalten hatte, weil er befürchtete, jemanden ernsthaft zu verletzten? Dafür, dass … Seine Gedanken gingen im Kreis, vernebelten sich erneut und er verfiel in einen weiteren tranceartigen Zustand, der ihn weit fortbrachte. Fort aus dieser Welt. Fort aus dieser Stadt. Fort aus diesem Keller. Fort aus seinem Körper, in eine Realität, in die ihm niemand folgen konnte.
*
Ein harter Schlag ins Gesicht riss ihn von den wirren Bildern los, die seine Träume ersetzten. Orientierungslos öffnete er die Augen und musste unwillkürlich blinzeln, als er in das Licht einer Fackel blickte. Die plötzliche Helligkeit schmerzte und es dauerte mehr als nur eine Weile, bis er halbwegs etwas erkennen konnte.
Dann stieß er ein wütendes Knurren aus und wenig später rollte die Fackel über den Boden, wo sie flackernd liegen blieb.
„Du!“, zischte er, während er Nadim mit einer Hand die Luft abschnürte. Mit der anderen schlug er auf dessen Gesicht ein. „Du! Madiger! Verlogener! Kleiner! Fadenwurm!“, brüllte er und bei jedem Wort versetzte er ihm einen weiteren Fausthieb ins Gesicht. Blut rann aus Nadims Nase und er versuchte verzweifelt nach Luft zu schnappen, doch der Griff des Limaren war zu fest und unerbittlich. Seine Hände versuchten die seines Peinigers von seinem Hals zu lösen. Etwas von dem Blut aus seiner Nase geriet in seinen Mund und er begann zu husten. Nur mit der Kraft der Verzweiflung gelang es dem Keuchenden, sich aus Tyquans Griff zu lösen, indem er ihm einen harten Tritt mit dem Fuß in den Bauch versetzte. Vor Schmerz krümmte der Getretene sich zusammen und zum wiederholten Male drohten Magensäfte sich den Weg durch seine Speiseröhre nach oben zu bahnen. Kaum hatte Nadim seine Arme frei bekommen, da versetzte er Tyquan einen Stoß, der diesen zur Seite rollen ließ. Dessen Blick verschleierte sich, als eine kalte Schmerzwelle ihn durchzuckte und für ein paar Sekunden lähmte. Nur kurze Zeit später, als auch Nadim wieder auf den Beinen war, konnte der Limar seinen Körper unter allergrößter Anstrengung wieder auf die Beine hieven und sofort ging er zum erneuten Angriff über; warf sich mit voller Wucht auf den anderen und schickte diesen erneut zu Boden.
„Herr, ich bin doch nur…“
Nadim kam nicht dazu auszusprechen. Mit einem grausigen Geräusch brachen zwei seiner Schneidezähne, als ihn ein kräftiger Faustschlag traf. Zu dem Blut aus seiner Nase gesellte sich nun auch noch selbiges aus seinem Mund hinzu. Wiederum holte Tyquan aus. In ihm brodelte unbändiger, heißer Zorn und nur ein einziger Gedanke beherrschte sein Handeln. Töten. Er wollte dieses stinkende Häufchen Elend zur Strecke bringen, koste es, was es wolle. Er wollte spüren, wie sich Nadims Herz ein letztes Mal ausdehnte, wie es verzweifelt versuchte am Leben zu bleiben, um letztendlich flatternd zum Stillstand zu kommen.
„Herr…ich...“, versuchte es der am Boden Liegende erneut und als sich ihm wieder eine Faust näherte, gelang es ihm sogar, den Kopf zur Seite zu drehen, sodass Tyquan sich die Fingerknöchel am harten Stein des Bodens aufschlug.
Irgendwo hinter ihnen zischte die Fackel, die Nadim verloren hatte.
Ein Hustenanfall schüttelte diesen, als zum zweiten Mal Blut in dessen Luftröhre gelangte. Erbarmungslos holte Tyquan erneut aus. Auf halbem Wege überlegte er es sich jedoch anders, griff ins Haar des Wehrlosen und setzte dazu an, dessen Kopf auf den Boden zu rammen.
„…retten…!“, brachte jener schwach und ohne Hoffnung hervor.
Der Überlegene setzte gerade dazu an, Nadims Kopf mit voller Wucht auf den kalten Stein krachen zu lassen, dessen Gehirnmasse überall zu verteilen, als ein einziges gewimmertes Wort den Schleier des Wahnsinns durchbrach und an seine Ohren drang.
„…Gnade…“
Fast war es so, als würde in seinem Kopf ein Hebel umgelegt werden und von einem Moment auf den anderen fiel jegliche Mordlust von ihm ab und anstelle des Zorns blieb eine bodenlose Leere in ihm zurück, als er auf das geschundene Gesicht seines Kontrahenten blickte. Seine Muskeln, die bisher zum Zerreißen angespannt gewesen waren, lockerten sich und er öffnete die Faust, die seine Finger geschlossen hatten, als sie sich in Nadims Haar krallten. Unter seinen Fingernägeln klebten Blut und einige kleine Hautfetzen.
So erschöpft, als wäre er gerade gegen einen Riesen wettgelaufen, rollte er sich von dem Bündel Elend herunter, dessen blutverschmiertes Gesicht nun auch noch von Tränen verunziert wurde.
Für einige Augenblicke war nichts anderes zu hören als das Keuchen der beiden Männer und das gelegentliche Zischen der Fackel, deren gefährlich klein gewordene Flamme bereits flackerte.
„Ich. Habe. Euch. Kleidung. Mit - gebracht. Herr.“, keuchte Nadim schließlich, wobei er nach jedem Wort Luft holen musste. Mühsam stemmte er sich in die Höhe und spuckte als erstes einen Zahn aus, der klappernd über den Boden schlitterte, um dann in der Dunkelheit liegen zu bleiben.
„Verdammt“, entfuhr es ihm und als Tyquan ihm einen fragenden Blick zuwarf, erklärte er: „Den zweiten muss ich wohl verschluckt haben, als Ihr auf mich eingeprügelt habt, Herr.“ Ein schiefes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Dann wandte er sich um, hob die Fackel auf und sah suchend umher, bis er das gefunden zu haben schien, nach dem er Ausschau gehalten hatte.
„Hier, bitte“, meinte er und warf etwas nach dem anderen, der immer noch ausgestreckt am Boden lag. Reflexartig griff jener danach und erst, als er die grobe braune Hose und das dreckig weiße Leinenhemd erkannte, wurde ihm bewusst, dass er völlig unbekleidet war. In seinem Kopf jagte ein Gedanke den anderen und er war einfach nicht dazu in der Lage, sich zu konzentrieren. Schließlich gelang es ihm, hervorzubringen: „Wieso?“
„Herr?“ Stirnrunzelnd blickte Nadim ihn an und als die Frage nicht präzisiert wurde, bemerkte er: „Weil Ihr nicht nackt durch das Dorf laufen könnt, Herr. Es ist zwar nicht besonders kalt, aber falls uns jemand bemerken sollte, wirft dieser jemand uns sicherlich eher einen zweiten Blick zu, wenn einer von uns unbekleidet ist, als wenn wir beide, wie zivilisierte Menschen, bekleidet, unserer Wege gehen. Aber wenn Ihr darauf besteht…“
„Nadim“, unterbrach Tyquan den Redefluss gereizt. „Ich meinte, wozu das alles? Aus welchem Grund lässt du zuerst zu, dass sie mich gefangen nehmen, nur um mich dann doch wieder zu befreien? Wieso tust du das? Was versprichst du dir davon?“
Ein ehrlich gekränktes Glitzern trat in Nadims Augen. „Herr…ich…als Ihr geflogen kamt, nun ja,…ich wusste ja, dass Ihr es seid, weil…ich wusste ja, dass Ihr…, dass Ihr euch des nachts verwandelt. Die Bewohner wollten Euch auf der Stelle töten. Sie wollten Euch mit Pfeilen und Bolzen vom Himmel holen. Zuerst dachte ich, das wäre nicht möglich, sie würden es nicht schaffen, weshalb ich mir auch keine Sorgen gemacht habe, aber als Ihr dann in dieses Haus gekracht seid und euch nicht mehr gerührt habt,…da habe ich mich um…um… Schadensbegrenzung bemüht und behauptet, ich wüsste, was vorginge und, dass Euer Absturz mein Werk sei, um...Ihr wisst schon.“
„Woher wusstest du, dass ich mich zurückverwandeln würde“, fragte Tyquan argwöhnisch, während er in die Hose schlüpfte, die ihm ein wenig zu kurz war.
Daraufhin schwieg Nadim eine Zeit lang und erst als ihn ein fordernder Blick des anderen traf, öffnete er erneut den Mund: „Ich…ich habe es nicht gewusst, Herr. Ich habe es nur vermutet, weil…Ihr habt gezittert, versteht Ihr…und …es sah aus, als würdet Ihr große Schmerzen leiden. Außerdem konntet Ihr euch nicht mehr rühren. Da habe ich eben angenommen, dass dieses Mittel, Ihr erinnert Euch, dieses Pulver, das die Kopfgeldjäger Euch verabreichten? Ich habe mir gedacht, dass es vielleicht Nachwirkungen davon wären und dann habe ich eben alles auf eine Karte gesetzt und zum Glück gewonnen.“
Immer noch starrte Tyquan sein Gegenüber misstrauisch an und versuchte aus dessen Gesicht schlau zu werden. Nadims Worte wirkten aufrichtig und auch in seinen Augen konnte er keinerlei Anzeichen für Verrat oder Lügen erkennen. Trotzdem, immerhin hatte Nadim sich seinen Lebensunterhalt als Gauner und Dieb verdient. Solche Leute mussten gute Lügner sein und vor allem mussten sie ihre wahren Gefühle zu verbergen wissen.
So wie Nadim nun vor ihm stand, wirkte er wie der aufrichtigste Mann, den es geben konnte, doch nur selten waren die Menschen so, wie sie von außen zu sein schienen.
„Und was jetzt?“, fragte Tyquan schließlich, da ihm im Grunde genommen gar nichts anderes übrig blieb, als dem anderen zu vertrauen, zumindest bis sie aus diesem Keller entkommen waren.
„Jetzt“, erklärte Nadim ernst, „kommt der Teil von dem ich gedacht hatte, dass ich mich dabei am meisten verletzen könnte.“
Ein Blutstropfen fiel von seiner Nasenspitze, wurde sofort vom Staub und vom umher liegenden Sand aufgesogen und hinterließ einen dunkelroten Fleck auf dem ansonsten makellosen Steinboden.
© Fianna 01.07.2012