Beschreibung
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Ich bin ausgestiegen, weil ich mit der Szene nichts mehr zu tun haben will. Sie haben mich in die Sucht getrieben. Aber ich werde sowieso sterben. Sie wissen, wo ich bin.
Jacqueline W., am 1. Juni 2012
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Es begann, wie es beginnen musste. Heute tut mir einfach nur noch alles Leid. Ich schreibe das hier nicht, damit ich vergesse, was ich getan habe und irgendwann wieder einigermaßen normal weiterleben kann. Ich schreibe das, damit ich mir selbst irgendwann wieder verzeihen kann.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, aber ich bin bereit ihn zu gehen. Vor allem wird es ein langer und steiniger Weg, dass ich endlich wieder zu mir selbst finde und das Wichtigste: Dass ich wieder Respekt vor mir selbst habe und nicht mehr diese Gedanken habe.
Ja, ja. Bla, bla, bla. Wahrscheinlich will man das gar nicht von mir lesen, aber ich muss mir selbst ein Ziel setzen, was ich mit diesem Monatstagebuch hier erreichen will.
Es ist ein großes Ziel. Es ist ein schwieriges Ziel. Aber es ist kein unmögliches Ziel.
Vermutlich kann man diese erste Seite schon analysieren. Haben Sie es versucht? Ich erkenne da nicht viel raus, aber wenn Sie ein Deutschlehrer, Psychologe oder Hellseher sind, haben Sie vielleicht bessere Chancen. Mir ist auf der ersten Seite nur die Neuverwendung des Sprichwortes "Verzeihen kann man, aber vergessen nicht" aufgefallen. Außerdem noch ein paar Parallelismen und Gesprächspartikel. Slang, eben. Dieses "Bla, bla, bla" zum Beispiel. Metaphern dürfte ich keine benutzt haben, Gott sei Dank. Die Seelenklempner meinen nämlich, alles mögliche aus Metaphern rauslesen zu können, was gar nicht stimmt. Deshalb habe ich versucht, sachlich zu bleiben. Ich weiß es nicht.
Ich muss die erste Seite abgeben. Warten Sie einen Moment und ich werde endlich nicht mehr belanglosen Scheiß schreiben. Weiter geht's auf Seite 3. Und weg mit Seite 2. Einfach weiter geschrieben.
Es hat begonnen, wie es beginnen musste. Ich suche immer noch nach wirklichen Ursachen, aber irgendwie glaube ich auch an Schicksal. Irgendwie auch so ein kleines bisschen an Gott. Wer weiß, vielleicht wollte er das alles. Ich gehe mal davon aus, denn er hat schließlich einen anderen Menschen aus mir gemacht - im positiven und negativen Sinne. Jetzt natürlich positiv.
Eins weiß ich: Ich war damals ein Mitläufer und bin es wahrscheinlich immer noch. Das Ganze auf die Scheidung meiner Eltern zu schieben ist eine faule Ausrede. Aber irgendwie hat es damit schon angefangen, ja. Seit diesem Zeitpunkt ging's bergab und geht's immer noch.
Aber das haben Sie ja wahrscheinlich schon gemerkt. Ich bin also ein Scheidungskind. Vielleicht wissen Sie selbst, wie es ist, mitzuerleben, wenn die Eltern sich streiten.
Mir fehlen bis jetzt die Worte dafür. Der Ort, an dem jedes Kind sich wohl wohlfühlen soll, wird zum absoluten Horror. Streit, Schreie und Schläge an der Tagesordnung. Ich habe mich unter meinem Bett versteckt, meinen Walkman (ja, die gab's tatsächlich mal) auf volle Lautstärke gedreht und habe so nichts mehr gehört - manchmal. Manchmal war es selbst dann unerträglich.
Das ganze hat so lange gedauert, bis meine Mama mal nachts in mein Zimmer gekommen ist, nur mit einer Taschenlampe. Sie hat den Kleiderschrank aufgemacht, ein paar Dinge in eine große, dunkelgrüne Tasche geschmissen, meinen Teddybären auch noch rein gequetscht und mich dann aufgeweckt.
"Los, Schatz. Steh auf."
Ich war wohl viel zu klein und zu müde, um zu verstehen, was sie vorhatte. Und ich war zu klein und zu müde, um zu verstehen, dass ich Papa nie wieder sehen würde.
Papa ist nämlich gestorben, Lungenkrebs im Endstadium. Mama wusste es selbst nicht und hat sich die Augen ausgeheult, als sie es erfahren hat. Ich glaube, sie hat es erst in der Tageszeitung gelesen. Genau weiß ich das nicht.
Irgendwie wusste ich da, dass man Menschen lieben konnte, obwohl sie einem noch so viel Scheiße antaten.
Nicht, dass Papa mir mal irgendwas angetan hat, nein. Diesen Eindruck möchte ich nicht vermitteln, weil es auch nicht stimmt. Er war immer ein guter Vater, wenn ich mich heute noch an ihn erinnere. Aber er schien ein miserabler Ehemann für Mama gewesen zu sein.
Trotzdem war sie nicht auf seiner Beerdigung. Ich auch nicht. Das habe ich Mama bis jetzt auch noch nicht verziehen, da kann sie sich auf den Kopf stellen.
Irgendwann wurde ich natürlich mal älter. Ich war nicht mehr zehn und stellte auch ein paar Fragen. Tja, da hat es wohl auch nicht lange gedauert, bis ich mehr über die Vergangenheit rausgefunden habe. Entsprechend wenig wollte ich mit meiner Mutter noch zu tun haben.
Hinterher, als sie sie verlassen haben, hatte ich Angst, dass Mama sich was antun würde, weil sie so lange und so oft ziemlich laut geheult hat. Dann wäre ich stinkallein gewesen.
Einmal, das war so ungefähr eine Woche vor meinem zwölften Geburtstag, bin ich nach Hause gekommen und habe Mama gesehen. Damals war das komisch für mich. Ich habe hier sogar noch einen Tagebucheintrag von damals, in dem ich die Situation beschrieben habe...
Auf der nächsten Seite werde ich ihn mal kopieren.
12. Juli 2004
Jacqueline W.
Liebes Tagebuch.
Heute war ein komischer Tag. Ich hatte nur vier Stunden in der Schule. Dann bin ich nach Hause gegangen und wollte mir Nudeln in der Mikrowelle warm machen. Aber Mama lag auf dem Küchentisch und war nackig. Es war ganz komisch, weil sie nicht alleine da war. Da war ein großer Mann mit heruntergezogener Hose und hatte seine Hände auf Mamas Oberschenkeln. Dabei hat er immer so hin und her gewackelt und Mama und dieser Typ haben total komische Geräusche gemacht. Ich bin schnell wieder abgehauen, das war mir echt zu blöd.
Die beiden haben mich auch Gott sei Dank gar nicht gesehen.
Schon peinlich, dass ich in diesem Alter noch nicht wusste, dass sie einfach Sex hatten, oder?
Vielleicht wusste ich es auch schon und wollte es nur verdrängen. Tja, hat halt nicht geklappt. Ekelhaft, dass mir das damals passiert ist. Aber ich hab Mama nie darauf angesprochen. Der Typ war ja ein paar Tage später sowieso passé. Ich hab eine Zeit lang mal gedacht, ob Mama mich zu der Person gemacht hat, die ich bin. Ob sie das alles schuld ist... Was aus mir geworden ist...
Ich weiß ja, dass sie mich wohl beeinflusst hat. Ich hatta ja damals keine Freunde. Aber dann war einfach mit einem Mal alles anders.
Und ich war so mit 14 Jahren auf einmal mittendrin, ich hab es anfänglich gar nicht gemerkt. Ich fühlte mich nämlich so wohl! Ich wurde verstanden, war nicht mehr allein. Wir waren eine Gruppe, ein Großes Ganzes eben. Ehrlich gesagt hab ich mich so pudelwohl wie lange nicht mehr gefühlt in der Neonazi - Szene. Aber alles ausgeklügelte Maschen von dem Drecksverein.