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Besorgt blickte Tyquan zum Himmel auf und bemerkte nicht zum ersten Mal an diesem Tag, dass die Sonne ihren höchsten Punkt schon seit langem überschritten hatte und bereits dem Boden entgegenstrebte. Ebenfalls zum wiederholten Male regten sich Zweifel in ihm, stellte er die wildesten Spekulationen an, von wegen Nadim hätte ein paar der Dörfler zusammengescharrt, um das Ungeheuer, das sich deren Ansicht nach seit Wochen an ihren Herden gütlich tat, zur Strecke zu bringen. Obwohl er es für eher unwahrscheinlich hielt, dass ein paar Bauern und Handwerker ihn überrumpeln könnten, so machte er sich doch Sorgen und war ein ums andere Mal sogar nahe daran gewesen, einfach auf seinen Hengst zu steigen und weiter zu ziehen, ehe es zu spät war.
Letztendlich hatte er sich jedoch, aus selbst für ihn unerfindlichen Gründen, zum Bleiben entschlossen.
Seine Unruhe wuchs von Sekunde zu Sekunde und immer häufiger linste er zum Himmel hoch. Als der unterste Teil der Sonne schließlich hinter dem Ybeleran – Gebirge verschwand, zog er sich in den Wald zurück, arbeitete sich durch dichtes Unterholz hindurch, holte sich ein paar Kratzer, als er durch einige Himbeersträucher hindurch schritt und landete zu guter Letzt noch mit einem Fuß im Wasser, da er den kleinen Bach in seiner Hast völlig übersehen hatte. Er hörte Rakeshs beunruhigtes Schnauben und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Erst als er vollkommen von Wald umgeben war, hielt er an und sah sich nach etwaigen Verfolgern um, doch die Vögel in den Ästen der Bäume waren die einzigen, die ihn beobachteten. Er schlüpfte aus Stiefeln, Hemd und Hose und wartete.
Tief in sich fühlte er bereits die Bestie erwachen.
Der Teil des Himmels, den er durch das dichte Blätterdach hindurch betrachten konnte, hatte sich schon leicht rosa verfärbt und Tyquans Blut schien immer heißer zu werden. Ein gänzlich unmenschlicher Schrei entrang sich plötzlich seiner trockenen Kehle und er riss den Kopf in den Nacken. Die Vögel, die ihn zuvor noch neugierig gemustert hatten, stoben in die Höhe und flüchteten. Inzwischen ruckte sein Kopf nach vorne. Dann begann sein ganzer Körper zu wachsen. Die Haut über seinen Schulterblättern brach auf und ganz langsam schoben sich Flügel aus seinem Rücken. Ein Jucken überlief seinen ganzen Körper, das immer unangenehmer wurde, bis es so schmerzhaft war, wie tausende von Nadelstichen, dann schossen die Schuppen aus seiner Haut. Erneut schrie er auf, krümmte sich vor Schmerzen.
Die Zähne wurden länger, schoben sich aus seinem Mund. Sein Kopf begann sich zu verformen. Für einen Moment war er blind, als seine Augen aus den Höhlen zu springen schienen und auch sein Hörsinn hatte sich verflüchtigt. Aus seinen Fingernägeln bildeten sich scharfe Klauen. Ein Zucken durchlief seinen deformierten Körper.
Auf einen Schlag verfärbte sich der Himmel rot und mit einem ohrenbetäubenden Brüllen erhob Tyquan sich in seiner Limarengestalt und breitete seine smaragdgrün schimmernden Flügel aus. Ein paar der Bäume, die zu nahe standen, wurden dadurch entwurzelt und als der Limar sich in die Lüfte schwang, knickten einige Stämme um. Tausende Gerüche bedrängten Tyquan und sein geschärfter Blick erspähte jedes einzelne Wesen, sowohl in der Stadt als auch in deren weiteren Umkreis. Mit schwungvollen Bewegungen näherte er sich Semeta, drehte ein paar Kreise über der Ansammlung von Gebäuden, die von den Flüssen Hronometeso und Donar eingeschlossen wurden und von einem schlichten Palisadenwall umgeben waren. Ein einziger Feuerstoß und alles dort unten würde zu Asche verbrennen.
Geschrei drang an seine Ohren und er sah, wie winzig kleine Menschen mit den Fingern auf ihn zeigten und in ihren Häusern verschwanden. Wie dumm sie doch waren. Als würden ihre einfachen Holzhütten sie vor ihm schützen können. Als würde es ihn interessieren, was aus ihnen wurde. Heißer Zorn durchflutete ihn. Er wollte zerstören, verbrennen, zerreißen, endlich seinen Hunger stillen. Mit einer schwungvollen Drehung veränderte er seine Flugbahn und ging in einen Sinkflug über. Gleichzeitig stieß er eine Feuerfontäne in den Himmel, als wolle er den ersten der Sterne, der eben erschienen war, in tausende Einzelteile sprengen.
Die Angstschreie wurden lauter und zahlreicher. Irgendetwas zischte an Tyquan vorbei, streifte seinen rechten Flügel und riss eine der Schuppen, die wie Federn geformt waren, ab, sodass sie zu Boden segelte. Wütend brüllte der Limar auf, suchte nach dem Wesen, das es gewagt hatte, ihn anzugreifen und erblickte eine Formation aus Bogenschützen, die sich auf den niedrigen Dächern positioniert hatten. Mit atemberaubender Geschwindigkeit hielt Tyquan nun auf diese zu, wich hin und wider deren Geschossen aus und sah zu, wie einige noch versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, indem sie ihre Waffen fortwarfen und auf den Boden zurückkehrten. Doch es war bereits zu spät. Eine gewaltige Windböe erfasste sowohl die Standhaften als auch die Flüchtenden und riss sie zu Boden. Der Limar setzte zum entscheidenden Schlag an, zielte mit seinen Pranken auf die Wehrlosen und sammelte das Feuer für einen letzten vernichtenden Angriff.
Die Männer schrieen, versuchten sich noch in Sicherheit zu bringen, doch es gab nichts, was sie noch retten konnte.
Plötzlich, in eben dem Moment, als der Limar sein Werk vollenden wollte, fuhr ihm ein eisiger Schmerz durch Kopf und Glieder, blendete ihn einen Moment. Sein Schwanz streifte eines der Häuser und schlug ein riesiges Loch hinein. Dann versagten ihm die Flügel den Dienst und er stürzte benommen zu Boden, krachte in eines der Gebäude und blieb liegen, unfähig, auch nur die Augen zu öffnen. Alle Geräusche um ihn herum schienen in weite Ferne zu rücken, drangen nur noch gefiltert zu seinem Verstand durch. Hitze und Kälte plagten ihn gleichzeitig und Wellen von Schmerz jagten durch seinen Körper. Undeutlich nahm er wahr, wie jemand sprach, doch die Bedeutung der Worte blieb ihm verborgen. Hin und wieder zuckte er, glaubte er, die Kontrolle über seinen Körper zurückgewinnen zu können, doch sein Zustand blieb unverändert. In ihm kochte der Zorn, nährte sich an seinen Schmerzen und steigerte sich zu Wahnsinn, da es ihm nicht gelingen wollte, sich zu erheben.
„Bürger von Semeta“, drangen plötzlich Worte durch den Schleier aus Benommenheit zu Tyquan durch und seltsamerweise glaubte er die Stimme wieder zu erkennen. Ein Geruch stieg ihm in die Nase, bekannt und doch irgendwie fremd.
„Ich habe euch den Limaren gebracht, wie ich es euch versprochen habe. In wenigen Augenblicken wird er seine menschliche Gestalt annehmen, sodass er niemandem mehr ein Leid zufügen kann.“
Ein Raunen ging durch die Menge, gefolgt von einem bestimmten Ruf: „Hackt ihm den Kopf ab, sofort! Verbrennt ihn!“ Weitere stimmten mit ein und forderten den sofortigen Tod des hilflos daliegenden Ungeheuers, das, unbemerkt von allen, zu schrumpfen begonnen hatte. „Zieht ihm die Haut ab!“, rief einer und eine Frau kreischte: „Reißt ihm jede Schuppe einzeln heraus!“
„Das wäre ziemlich dumm“, begann der, der als erster gesprochen hatte mit ruhiger Stimme von neuem. „Wisst ihr denn nicht, dass man einen Limaren nur bei Tage und in seiner Menschengestalt töten kann? Alles andere wäre vergeudete Mühe und würde ihn nur wütender und damit stärker machen. Wollt ihr das? Ich habe ihn zwar vorerst unschädlich gemacht, aber sollte sein Zorn überkochen, wird er sich aus den magischen Fesseln, die ich ihm angelegt habe, befreien können und seine Wut an euch auslassen.“
Für einen Moment kehrte Ruhe ein. Dann meinte eine Frau: „Wann genau kann man ihn töten? Sobald die Sonne aufgeht?“
„Nein“, gab der Limarenbändiger zurück. „Ihr werdet euch wohl einen ganzen Tag gedulden müssen, denn erst in der Abenddämmerung, kurz bevor er seiner Menschengestalt entschlüpft, wenn der Himmel noch rosa und nicht rot ist, kann das Todesurteil vollstreckt werden, ohne dass wir Gefahr laufen, etwas falsch zu machen.“
„Was sollen wir bis dahin mit ihm tun?“
„Sperrt ihn ein! Fesselt ihn! Stellt Wachen auf!“
Ein schmerzhaftes Zucken fuhr erneut durch Tyquans Körper, sodass er die nächsten Worte nicht verstand und ehe er sich versah, hatte er seine Menschengestalt zurückerlangt. Es war ihm jedoch nach wie vor unmöglich, sich zu rühren.
„…hat die Wahrheit gesagt“, hörte er wieder. „Er ist wieder ein Mensch.“
„Ach was, ein Ungeheuer in menschlicher Verkleidung. Hebt ihn hoch und bringt ihn in Eriks Keller. Dort werden wir ihn am ehesten bewachen können.“
„Wenn ich es euch doch sage“, hob der Limarenbezwinger an: „Es besteht kein Grund, ihn zu bewachen oder zu fesseln. Die Magie, mit der ich ihn in Schach halte, verhindert, dass er auch nur zu einigermaßen sinnvollem Denken in der Lage ist.“
„Aufheben und wegtragen, habe ich gesagt“, entgegnete diese andere energische Stimme, die keinerlei Widerspruch zu dulden schien und nur wenige Augenblicke später ergriffen starke Hände Tyquans Arme und Beine, um ihn hochzuheben.
„Ihr werdet ihn doch wohl nicht ohne Kleider in diesen Keller bringen“, warf da wieder der Mann ein, der behauptete, er hätte den Limaren zum Absturz gebracht. „Das wird ihn auf jeden Fall wütend machen.“
„Dann gebt ihm eine Pferdedecke“, knurrte einer, woraufhin etwas Kratziges, Warmes auf Tyquans nacktem Rücken landete.
„Weg jetzt mit ihm. Ich will ihn erst wieder sehen, wenn ich seinen Kopf eigenhändig von seinen Schultern trennen kann. Und dass ihr in mir ja gut bewacht. Wer weiß, was da draußen noch so alles herumschleicht und es darauf abgesehen hat, ihn zu befreien.“
„Was ist mit meiner Belohung.“
Tyquan wurde bereits weggetragen, als er die Erwiderung auf diese Frage hörte, doch auch in seinem abwesenden, von Schmerz erfülltem Zustand, konnte er die Worte noch vernehmen und sie verletzten ihn tiefer, als es diese Menschen je tun könnten; sie verletzten ihn tiefer, als er selbst erwartet hätte.
„Ihr sollt Eure Belohung bekommen, Nadim. Ihr sollt sie bekommen“, hörte er, bevor er zum ersten Mal in dieser Nacht das Bewusstsein verlor.
© Fianna 20.05.2012