Jeffrey und Christine - Traumhafte Zweisamkeit
Mit langsamen Schritten schlenderte Jeffrey über den alten, verwachsenen Feldweg, der ihn geradewegs zum Gelände des Jahrmarktes führte. Den ganzen Tag schon war dieser Ort der Mittelpunkt beinahe aller Gespräche gewesen, sowohl in seiner Schule als auch Zuhause bei seinen Eltern und Geschwistern. Und auch hier auf dem Feldweg war das überraschende Auftauchen des Jahrmarktes das allgegenwärtige Thema in den Konversationen der anderen, neugierigen Besucher aus der Stadt, denn Jeffrey war nicht der Einzige, welcher dem Sirenengesang der Neugier erlegen war und herausfinden wollte, was es mit diesem Jahrmarkt auf sich hatte und welche Attraktionen dort angeboten wurden. Doch so sehr ihn die Neugier auch antreiben mochte, die eigentliche Motivation des Jugendlichen befand sich etwa fünfzig Meter vor ihm in der Mitte einer Gruppe weiblicher Jugendlicher. Christine Mardigan, das sprichwörtliche blonde Gift an Jeffreys Schule, nahm die gesamte Aufmerksamkeit des Jugendlichen ein, besonders ihr, in einer eng sitzenden Jeans verpacktes, wohlgeformtes Gesäß hatte ihn in seinen Bann geschlagen, was nicht zuletzt seiner Verfolgerperspektive geschuldet war, die er im Moment, um nichts auf der Welt aufzugeben gedachte.
Ganz im Gegensatz zu Christine zählte Jeffrey nicht zu den beliebtesten Mitgliedern der Schülerschaft, sondern befand sich nur eine Stufe über der untersten Schicht der schulisch-sozialen Nahrungskette. Jeffrey war weder besonders sportlich noch von herausragender Begabung in geistigen Disziplinen, nur seine sozialen Fähigkeiten und die daraus entstandenen Freundschaften bei beliebteren Schülern verhinderten, dass er als Außenseiter gebrandmarkt wurde, doch der Status als Mitläufer war mindestens ebenso hartnäckig und kaum abzuschütteln für Jeffrey geworden. Er war einfach dabei, nickte, stimmte zu und wurde ebenso schnell wieder in den Schatten seiner Begleiter gedrängt, wie er aus diesem für einen Sekundenbruchteil heraustreten konnte. Und so nahm niemand Jeffrey als Person war, trotz seiner Loyalität und Einsatzbereitschaft, die er immer wieder für andere unter Beweis stellte, was aber als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurde. Und so war es auch nicht weiter verwunderlich, dass er bei Beziehungen mit dem weiblichen Geschlecht bisher nicht gerade vom Erfolg verwöhnt worden war.
Denn die jungen Frauen, welche die Aufmerksamkeit des Pubertierenden erregten und dabei auch von seiner sozialen Gruppe anerkannt wurden, nahmen den pickligen, brünetten Jungen mit den hängenden Schultern und der weichen Stimme nicht wahr, zumindest nicht als potentiellen Partner. Tragischer Weise bemerkte Jeffrey aufgrund dieser Einschränkungen gar nicht, wie andere weibliche Wesen durchaus positiv auf seine ruhige Art und seine Zurückhaltung reagierten. Besonders Veronica, ein schwarzhaariges Gothic-Mädchen und somit eine Außenseiterin in den Arealen der Schule, hatte ein Auge auf Jeffrey geworfen, als er ihr im gemeinsamen Literatur-Kurs mit seinen leisen, durchdachten Beiträgen aufgefallen war, die zwar keine Weisheiten beinhalteten, aber von einer realistischen Sicht der Welt zeugten, die Veronica bei ihren triebgesteuerten Gleichaltrigen nur zu oft vermisste.
Doch Jeffrey hatte seit Jahren nur Augen für Christine, hatte sie immer aus der Ferne beobachtet und in stiller Verehrung bewundert, obwohl er nie den Mut aufgebracht hatte auch nur als ein gepresstes „Hallo“ mit der schlanken, blonden Schulschönheit zu wechseln, nicht einmal als sich ihre Wege vor einem halben Jahr, aufgrund gemeinsamer „Bekanntschaften“, immer häufiger zu kreuzen begannen. Jedes Mal schienen seine sorgfältig zurechtgelegten, witzigen und geistreichen Bemerkungen aus seinem Geist zu sickern, wenn er der Frau seiner Wünsche gegenüberstand, sein Herz schien ihm aus der Brust springen zu wollen und das betäubende Rauschen des eigenen Blutes in den Ohren erstickte jeden Gedanken, während sich in seine Eingeweide zu einem heißen Klumpen zusammenziehen wollten. Unfähig seinen Gedanken in Worte zu fassen und überwältig von der Reaktion seines eigenen, verräterischen Körpers zog er sich so bei jedem Kontakt zurück, seine Wünsche blieben unerfüllt, nur in seiner Phantasie konnte er Christine wirklich nahe sein, so nahe er es sich in den einsamen, nächtlichen Stunden nur ausmalen konnte.
Doch nach einem halben Jahr reichten Jeffrey seine nächtlichen Phantasien nicht mehr aus, er hatte sich vorgenommen, den nächsten besonderen Anlass zu nutzen, um Christine seine Gefühle näher zu bringen und zu versuchen die blonde Frau für sich zu gewinnen, koste was es wolle. Und nun befand er sich hinter dem Ziel seiner Begierden auf dem Weg zu einem seltsamen Jahrmarkt, der über Nacht erschienen war und überlegte fieberhaft wie er diese Situation für sich nutzen sollte. Die Ablenkung durch Christines wohlgeformtes Gesäß, das immer wieder seine Blicke magisch auf sich zog, machte ihm seine Aufgabe nicht leichter, während er dem Geplapper der Mädchen aus sicherer Entfernung lauschte, in der Hoffnung irgendeinen nützlichen Hinweis zu erhalten.
Doch soweit er, die Unterhaltung der Mädchen, verstehen konnte, zwischen all dem Lachen, Kichern und gegenseitigen Spötteleien, befasste sich die Konversation vorwiegend mit zukünftigen Unternehmungen an den Wochenenden und wie man sich dafür Gras und Alkohol besorgen konnte. Nur in Nebensätzen befassten sich die Mädchen mit den Beziehungen zu ihren derzeitigen Partnern, wobei sich Christine nur äußerst zurückhaltend äußerte, als wäre ihr das Thema ein wenig unangenehm. Dies schien aber niemandem aufzufallen, selbst Jeffrey, nahm diese Tatsache nicht bewusst zur Kenntnis.
Die Mädchen hatten schon beinahe den Eingang des Jahrmarktes erreicht und Jeffrey hatte immer noch keinen Anhaltspunkt, wie er es schaffen sollte Christine anzusprechen oder überhaupt in ihre Nähe zu gelangen, ohne gleich wieder weggeschickt zu werden. Und obwohl der junge Mann äußerlich ruhig schien, begann er wieder den flatternden Puls zu spüren, der eine neue Panikattacke ankündigte. Doch dieses Mal war er nicht bereit nachzugeben, tief sog er Luft durch seine Nase ein und hielt den Atem kurz an, bevor er ausatmete, genauso wie er es in einem Buch zum Thema Stressbewältigung gelesen hatte. Erst nach fünf Atemzügen begann er zu fühlen, wie sich sein Körper zu beruhigen begann, scheinbar hatte sich dieses Mal der Besuch in der Schulbibliothek gelohnt, aber er trotz dieser Übung war er noch nicht bereit den kurzen Stau am Eingangsbereich des Jahrmarktes für eine „zufällige“ Begegnung mit Christine auszunutzen.
Vor dem Eingang des Jahrmarktes kam es im flackernden Schein brennender Fackeln und einiger abgedunkelter Campinglampen zu einem leichten Gedrängel, da der schmale Eingang nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig Zugang zum Gelände des Jahrmarktes gab, welches mit einem einfachen Zaun aus Metallsegmenten, die wiederrum mit Brettern verkleidet worden waren, von der Außenwelt abgegrenzt wurde. Und genau hier verlor Jeffrey seine Angebetete aus den Augen, als sich mehrere Personen zwischen ihn und die Gruppe aus Mädchen schoben, sein panischer Versuch sich nach vorne zu drängeln wurde im Ansatz von einem muskulösen Automechaniker namens Markus gestoppt, der ihn einfach mit der flachen Hand und einem Kopfschütteln zurückstieß.
„Nur mit der Ruhe, Kleiner. Du kommst schon noch rein. Und auch rechtzeitig wieder raus, dass Mami sich keine Sorgen machen muss.“
Mit roten Wangen und Ohren nahm Jeffrey die Zurechtweisung schweigend hin, insgeheim froh, dass Christine ihn nicht in dieser Situation gesehen hatte. Mit gesenktem Kopf schlurfte er hinter dem Mechaniker her und wurde dann mit einem Mal von einem schmalen, tätowierten Unterarm in seinem Vorwärtsdrang gehindert, zum zweiten Mal. Mit aufgerissenen Augen fuhr er erschrocken hoch und rechnete im ersten Moment damit, dass der Mechaniker ihn noch einmal demütigen wollte. Doch statt in das markige Gesicht mit dem Dreitagebart blickte er in das freundlich und irgendwie starr lächelnde Gesicht einer bleichgeschminkten Frau, deren Lippen und Wangen mit roter Schminke übermäßig betont worden waren.
„5 Dollar, mein Lieber. Dann gehört sie dir allein.“
Verwirrt runzelte Jeffrey seine Stirn, als er die Worte der unbekannten Frau hörte. Fassungslos schnappte er nach Luft, glaubte er gerade, dass seine Gedanken ihm ins Gesicht geschrieben standen.
„Wie bitte? Was haben sie gesagt?“ fragte er mit krächzender Stimme zurück, hinter ihm wurden schon die ersten unruhigen Stimmen nachdrängenden Personen laut, die ebenfalls ihren Eintritt bezahlen und den Jahrmarkt besichtigen wollten.
„Ich sagte, 5 Dollar, mein Lieber. Dann gehört der ganze Spaß dir.“ erwiderte die Frau immer noch lächelnd und streckte ihre Hand aus, um Jeffreys Geld in Empfang zu nehmen, selbst die Innenfläche der Hand war mit verwirrenden Symbolen verziert worden, die einen leichten Schwindel bei Jeffrey auslösten. Verwirrt griff der Jugendliche in seine Hosentasche und kramte ein paar Münzen hervor, die er eilig der Kassiererin in die Hand drückte, woraufhin er eine Eintrittskarte erhielt. Gerade als er weitergehen wollte, zwinkerte diese ihm mit ihren ausdruckslosen dunklen Augen zu und eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Nacken und Rücken aus. Doch noch bevor er noch einmal fragen konnte, schoben in weitere eintretende Gäste einfach in das Areal hinein, bevor er protestieren konnte hörte er die lachende Stimme Christines, die zusammen mit ihren Freundinnen an einer Wurf-Bude standen und dort gerade dabei war mit Bällen auf Blechdosen zu werfen.
Die seltsamen Worte der Kassiererin waren augenblicklich vergessen, er hatte sich einfach nur verhört und immerhin hatte die Frau ihn überrascht, dachte sich der junge Mann, während er sich langsam der Mädchengruppe näherte, die schwitzenden Hände in die Hosentaschen gesteckt und den Kopf gesenkt, damit er nicht sofort von seiner Angebeteten oder ihren Begleiterinnen erkannt wurde. So wandte er sich der Bude im Rücken der kleinen Gruppe zu, ohne darauf zu achten, worum es sich handelte und riskierte dann von dort einen kurzen Blick. Die Frau seiner jugendlichen Träume holte gerade mit ihrem letzten Ball aus und schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Stapel aus Büchsen. Doch warum auch immer, drei Büchsen blieben stehen und das enttäuschte Schnattern ihrer Begleiterinnen machte für Jeffrey deutlich, dass Christine ihren angestrebten Gewinn nicht erhalten würde.
„Hey, willst du spielen oder was?“
Eine fremde, raue Stimme riss ihn brutal aus seiner Betrachtung. Verärgert drehte er sich der Stimme entgegen und sah einen kleinwüchsigen Mann, dessen Gesicht ähnlich geschminkt war, wie das der Frau am Eingang des Jahrmarktes. Allerdings fiel die Wirkung dieser Maskerade ein wenig anders aus, statt eine glatte, unpersönliche Illusion von Schönheit zu schaffen, wurde beim kantigen, groben Gesicht dieses zwergenwüchsigen Fremden eher seine unattraktive Erscheinung noch weiter betont. Die glimmende Zigarette in seinem Mundwinkel und die blutunterlaufenen Augen verstärkten den abstoßenden Eindruck noch weiter.
„Was ist denn jetzt? Bist du blöd, oder was?“ fuhr der Betreiber dieser Bude Jeffrey weiter an, wobei er die Zigarette aus dem Mund nahm und mit dem glühenden Ende in Richtung des überraschten Jugendlichen stieß, beinahe so als wollte er ihn verbrennen. Wenig überraschend zuckte Jeffrey vor dieser drohenden Geste zurück und wäre beinahe über die eigenen Füße gestolpert.
„Blöder Arsch“ murmelte Jeffrey leise und wandte sich mit einem wütenden Schnauben um, verfolgt vom meckernden Lachen des Zwerges, der scheinbar seinen Spaß an der Situation hatte. Und zu allem Überfluss war auch noch Christine samt Anhängerschaft verschwunden, wie der junge Mann nun feststellen musste. Frustriert stampfte er auf, aber er war schließlich auch selbst schuld daran, warum hätte sie ihm auch sagen sollen, dass sie weiterging, wenn er doch gar nicht versucht hatte, sie auf sich aufmerksam zu machen. Während er sich immer noch für seine Feigheit innerlich schalt, führten ihn seine Schritte zu der Bude, an der seine Traumfrau gerade noch gespielt hatte.
„Entschuldigung. Das blonde Mädchen gerade eben… was wollte sie gewinnen?“ fragte er ein wenig schüchtern den Schausteller in der Bude, der gerade dabei war die Büchsen neu aufzustellen und die Bälle zu Pyramiden aufzustapeln. Mit einem aufgesetzten Lächeln hob der Mann seinen Kopf und musterte Jeffrey von oben bis unten, bevor er einen auf den Boden der Bude spuckte und ihm mit der linken Hand bedeutete näher heranzukommen.
„Was zahlst du?“ antwortete Schausteller, auch sein Gesicht war geschminkt, aber im Gegensatz zum Gesicht des Zwerges unterstrich es hier eine androgyne Ebenmäßigkeit, welche gut zur schlanken Erscheinung und den glattrasierten Wangen des Mannes passte. Fassungslos öffnete sich Jeffreys Mund als er auf diesen dreisten Erpressungsversuch antworten wollte, um dem Mann zu sagen was er von ihm hielt, doch dieser winkte nur mit einem Grinsen ab.
„Schon gut, Mann. War nur ein Scherz. Kein Grund sich aufzuregen. Sie wollte das Plüschpferd. Ist sie deine Freundin?“ wandte sich der Mann ein wenig freundlicher an den inzwischen vollkommen verstörten Jugendlichen, der langsam gar nicht mehr wusste, was er sagen oder denken sollte.
„Ja. Nein… Noch nicht. Wie viele Büchsen muss ich treffen… für das Pferd, meine ich.“
Mit einem wissenden Lächeln auf den geschminkten Lippen antwortete der Schausteller auf die Frage des Jungen, ohne auf seine unschlüssige Antwort bezüglich seiner Verbindung zu Christine einzugehen. Mit klopfenden Herzen und aufgeblähten Wangen kramte Jeffrey in seinem Geldbeutel und legte den entsprechenden Betrag auf die Ablage der Bude, nahm sich die Bälle, nachdem der Schausteller mit einer Verbeugung das Geld eingestrichen hatte.
Für einen Moment wog Jeffrey den Ball in seiner Hand, spürte die raue Oberfläche und das Gewicht des Gegenstandes, bevor er mit einer weit ausholenden Bewegung den Ball auf die Büchsen schleuderte. Mit einem lauten Scheppern fielen die Dosen auf den Boden der Bude und der Schausteller klatschte leisen, spöttischen Beifall. Mit einem grimmigen Zug um den Mund nahm Jeffrey den nächsten Ball und holte aus…