Er konnte ihren Blick fühlen, trotzdem sah er weiter aus dem Fenster hinaus. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so als ob sie nächstens etwas sagen wollte. Jonas wusste, sie würde nichts sagen. Sie beobachtete ihn einfach, dachte sich ihren Teil und damit hatte es sich. Seit einer halben Stunde sassen sie zusammen im Zug, ein paar Stunden hatten sie noch vor sich. Sie waren auf dem Weg zu einem Seminar hoch oben in den Bergen. Vor einem halben Jahr hatten sie das gemeinsam gebucht. Als sie noch ein Paar waren. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie mitkommen würde.
Und sie hatte nicht mit ihm gerechnet.
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Während sie ihn beobachtete, dachte sie an ihre letzte gemeinsam Reise. Dachte an all die Reisen, die sie eigentlich noch machen wollten. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Er war so schön! Sie konnte sich noch immer nicht an ihm satt sehen. Sie wusste, er würde nächstens den Kopf drehen und sie ansehen. Aus dem einfachen Grund, weil sie es so wollte. Sie wusste auch, was er wollte. Sie konnte seine Gedanken förmlich hören. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann war es wieder still und ohne Ausdruck – wie das Gesicht einer Puppe.
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Er weigerte sich. Hielt so lange wie möglich stand. Er wollte den Kopf nicht drehen, er wollte sie nicht ansehen. Er wollte überhaupt keine Machtkämpfe.
„Dann sieh mich an!“, konnte er sie in Gedanken hören, „Hör auf zu kämpfen.“ Jonas drehte den Kopf und sah Ela an. Die Sonne spiegelte sich in ihrer Brille.
„Ich mag diese Brille nicht.“, sagte er.
„Ich weiss.“, gab Ela zurück. Keine Regung.
„Würdest du sie für mich abnehmen?“, wollte er wissen.
„Nein.“, antwortete sie. Er drehte den Kopf wieder.
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Ela griff in ihre Tasche und zog ihr Handy hervor. Sie las die Nachricht, die sie bekommen hatte, lachte leise auf und tippte eine Antwort. Er sah sie an, sie konnte seinen Blick spüren. Konnte sein Gefühl spüren. Wie er sie in diesem Moment so sehr hasste, dass er ihr das Handy hätte aus der Hand schlagen können. Sie lachte leise. Nicht wegen der Nachricht die sie schrieb, die war eher langweilig und nichtssagend, sondern weil er ganz offensichtlich dachte, sie hätte tatsächlich einen Typen an der Angel. Diese Lüge hatte sie sehr sorgfältig gesetzt. Er musste nicht wissen, was in ihrem Kopf war. Er brauchte nicht zu wissen, dass… sie steckte das Handy wieder in die Tasche und sah ihn an. Langsam nahm sie die Brille ab, ihre Augen fanden sich und hielten einander stand.
„Was ist eigentlich los?“, seine Stimme war leise und rau.
„Sollte denn irgendetwas los sein?“, fragte sie erstaunt zurück, „Könntest du das ein bisschen genauer definieren?“
„Ich weiss nicht.“, er hob eine Augenbraue, „Wollten wir nicht Freunde bleiben?“
„Wir sind doch Freunde.“, gab sie zurück, legte den Kopf ein wenig schief. Noch immer hielten sich ihre Blicke umschlungen. Beide wollten in den Augen des anderen lesen. Suchten nach Anhaltspunkten.
„Sind wir?“, jetzt klang er erstaunt, „Behandelst du alle deine Freunde so wie mich?“
„Wie behandle ich dich denn?“, ihr Mundwinkel zuckte spöttisch.
„Wie wenn ich das allerletzte wäre!“
„Das bist du auch.“
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es war offensichtlich der falsche Moment um mit ihr darüber zu reden. Sie war in einer Stimmung, die er nicht sehr mochte. Die geradeaus-direkte-ehrliche Stimmung. Wenn sie kein Blatt vor den Mund nimmt und ihrem Gegenüber die Wahrheit ins Gesicht knallt. In dieser Stimmung war ihre Stimme dunkler und leiser, sie war aber auch schärfer und kälter als sonst. Ihre Wortwahl sorgfältig und mit kräftigen Worten, ihre Mimik eiskalter Spott.
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Sie schob die Brille wieder auf ihre Nase und sah aus dem Fenster. Es war gut, dass er einen Rückzug gemacht hatte. Ela war sich sicher, dass sie zu viel gesagt hätte, zu ehrlich gewesen wäre, hätte er auch nur noch ein Wort gesagt. So hatte sie die Möglichkeit, nachzudenken, bevor sie etwas sagen würde. Sie schwiegen beide einige Minuten. Es war nicht unangenehm, vor allem weil sie beide die Gedanken des anderen fast hören konnten. Ob es die wirklichen Gedanken waren – Ela war sich längst nicht mehr so sicher. Sie fragte sich schon seit Wochen, ob sie sich das alles nur eingebildet hatte.
Sie holte Luft und sagte: „Wir könnten durchaus Freunde sein, Jonas. Dafür müsstest du allerdings verstehen, was Freund sein bedeutet.“
„Erklär es mir!“, bat er sie. „Erklär mir, was Freunde sein für dich bedeutet!“
Sie seufzte leise. Wie oft hatte sie ihm das schon erklärt? Wie oft hatten sie schon darüber gesprochen?
„Freunde belügen sich nicht.“, sagte sie.
„Ich habe dich…“ – „Schweig!“, fuhr sie ihm dazwischen. „Schweig einfach okey! Nicht noch eine Lüge!“, sie hatte die Hand gehoben und ausgestreckt. Er lehnte sich zurück und starrte sie an.
„Hör zu“, hob sie an, „wir werden die nächsten drei Tage miteinander verbringen und…“, sie hielt inne, suchte nach den Worten, „ich möchte das so elegant wie möglich über die Bühne bringen. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiss, worüber wir beide reden könnten. Einfach weil… weil jedes Thema irgendwie so verfänglich ist. Und anscheinend beide nicht reden wollen über das, was sonst so im Leben läuft.“ Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Dann fuhr sie fort: „Ich weiss nicht genau, warum wir nicht darüber reden wollen. Weshalb es beide für sich behalten“, sie griff in ihre Handtasche, zog ihr Handy hervor, las die SMS und tippte eine Antwort, bevor sie fort fuhr: „Trotzdem ist es schön, mit dir hier zu sein.“, sie hatte das Handy wieder zurück gesteckt, sah ihn nun wieder an. „Okey?“
Er nickte. Auch wenn er überhaupt nicht verstand, was sie damit meinte. Mit diesem Okey. Sie hatte vollkommen Recht. Er wollte nichts von Ilara erzählen und er wollte nichts von einem Mann in Elas Leben hören.
„Siehst du? Wir haben nichts zu reden. Also schweigen wir einfach. Ist ja nicht unangenehm oder so.“ Sie nickte ihm kurz zu, zog sich die Schuhe aus und legte ihre Füsse auf den Platz neben ihm, zog ein Buch aus der Handtasche und begann zu lesen. Jedenfalls blätterte sie in ziemlich regelmässigen Abständen. Er glaubte jedoch zu wissen, dass sie kein Wort von dem las, was in diesem Buch stand.
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Eine Stunde später mussten sie aussteigen und hatten eine Stunde Aufenthalt. Sie beschlossen, einen Kaffee trinken zu gehen. Ohne ein Wort zu reden, betraten sie das kleine Café auf der linken Seite des Bahnhofes.
Als sie in den weichen Sesseln sassen und ihre Bestellung aufgegeben hatten, sah sich Ela lächelnd um.
„Es ist einfach so schön hier!“, murmelte sie. Auch er lächelte. Erinnerte sich an ihren ersten Besuch. Als sie ihm erklärte, dass das Café im Jugendstil gehalten wurde. Alles war rund und mit Stuckaturen versehen, von der Decke hingen gewaltige, diamantenbehangene Kronleuchter. Die Tiffany-Glas-Fenster vermochten Ela jedes Mal ein Strahlen abzugewinnen.
„Weisst du noch, als wir das erste Mal hier waren?“, fragte sie. Er nickte. Vielleicht hatten sie nicht dieselben Erinnerungen präsent, aber das war unwichtig. Plötzlich öffneten sich die Schleusen und sie begannen zu reden. Sorgfältig vermieden sie jedoch die ganz privaten Dinge, vermieden jegliche Intimen Erinnerungen – was nicht so einfach war. Denn egal, worüber sie sprachen, es gab bei jedem Thema gemeinsame Erinnerungen. Das lag einfach daran, dass sie so viele gemeinsame Interessen hatten, die sie gemeinsam entdeckt hatten. Oder in die sie sich gegenseitig eingeführt hatten.
Trotzdem stiegen sie leichteren Herzens wieder in den Zug und fuhren ihrem Seminar entgegen. Im Wissen, dass sie die nächsten Tage zusammen sein würden.
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„Es waren schöne Tage!“, murmelte sie an seiner Schulter. Sie verabschiedeten sich noch im Zug voneinander. Er hatte sie in seine Arme gezogen, roch an ihren Haaren.
„Ja. Es war wirklich sehr schön!“, flüsterte er. „Viel zu schön.“, fügte er hinzu. „Wirst du abgeholt?“, fragte er. Sie nickte. Damit war alles gesagt. Sie fühlte sein Herz an ihrer Wange, fühlte wie er seine Arme enger um sie schlang, sie näher an sich drückte. Elas Augen begannen zu brennen, in ihrem Hals bildete sich ein Knoten.
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Intermezzo IV
15. Februar 2012
Wütend knallte sie ihre Tasche auf den Tisch. Das war einfach zu viel. Er hatte gesagt, dass er erst nach sechs kommen würde! Sie hatte alles so sorgfältig geplant. Und dann? Kommt er eine Stunde früher. Es gab keine Möglichkeit ihm auszuweichen, sie konnte auch schlecht so plötzlich verschwinden. Wie hätte sie das erklären sollen? Gar nicht. Also musste sie bleiben. Lächelnd kam er herein, versprühte seinen Charme – und sie riss sich zusammen und heuchelte Wiedersehensfreude. Nur dass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte und er das natürlich – natürlich mitbekommen hatte. Es war unmöglich ihm etwas zu verheimlichen! Sie zitterte am ganzen Körper, in ihren Augen brannten Tränen. Sie stand in der dunklen Küche, unfähig sich irgendwie zu bewegen, irgendetwas zu tun. Die Zeit bis sie endlich gehen konnte, hatte sich wie Kaugummi ausgedehnt. Sie wich ihm aus, achtete darauf immer Sicherheitsabstand zu halten, damit sie sich nicht berührten. Was tat er? Er tat genau das Gegenteil. Er folgte ihr, wohin sie ging, er berührte sie und setzte sich so nah zu ihr, dass sie seine Wärme fühlen konnte. Mit jeder Sekunde war sie wütender geworden. Warum tat er ihr das an? Warum – warum konnte er nicht einfach bei dem bleiben, was er ihr gesagt hatte? Sie lachte höhnisch in die Dunkelheit. „Von wegen Freunde!“, ihre Stimme klang wie brüchiges Papier.
Endlich konnte sie sich bewegen und machte das Licht an, stellte die Kaffeemaschine ein und wartete, bis sie sich einen starken Espresso raus lassen konnte. Währenddessen konzentrierte sie sich darauf, ihre Gedanken auf etwas vollkommen anderes zu lenken. Etwas Unverfängliches. Etwas, was nichts mit ihm zu tun hatte.
Alles hatte mit ihm zu tun. Sogar die Kaffeemaschine. Sie schlug mit der Faust auf die Ablage. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen und diese liessen sich nicht mehr aufhalten. Sie sank auf den Boden und rollte sich zusammen. Weinte, bis keine Tränen mehr kamen, erhob sich, machte den Espresso und ging damit in ihr Schlafzimmer. Dort holte sie die kleine Schachtel hervor, die ihre Freundin ihr vor ein paar Tagen mit einem Grinsen überreicht hatte. Sie nahm den Deckel weg, hob die kleine Puppe heraus, griff nach den Nadeln und setzte sich auf ihr Bett. Sie legte alles vor sich auf die Decke, dann zündete sie die Kerzen die rund um ihr Bett standen an, stellte die Anlage ein und wandte sich dann mit gerunzelter Stirn wieder dem zu, was vor ihr lag. Langsam griff sie nach der ersten Nadel. Liess die Musik und das flackernde Licht auf sich wirken und rammte sie dann mit voller Kraft in den Bauch der kleinen Puppe. Ihre Augen blitzten kurz auf. Sie griff nach der zweiten Nadel, stiess schneller zu als beim ersten Mal und verlor dann die Beherrschung. Sie rammte mit rasender Geschwindigkeit alle zwanzig Nadeln in die kleine Strohpuppe, liess sich von der Musik aufwiegeln.
Am Ende betrachtete sie böse lächelnd ihr Werk. Die Puppe war an ihr Bett genagelt. Hätte sie Leben in ihren Gliedern gehabt, hätte es sie nichts genutzt. Sie hätte sich niemals aus eigener Kraft aufsetzen können. Und sie wünschte sich in diesem Moment, dass der Kerl für den die arme Puppe stand, selbst auf seinem Bett lag, schreiend vor Schmerzen und nicht fähig auch nur ein Glied bewegen zu können.
Sie löschte alle Kerzen, liess die Musik laufen und legte sich neben die Puppe ins Bett. Der Schlaf liess auf sich warten – doch irgendwann erlöste er sie aus der Realität.