Romane & Erzählungen
Kapitel I - Tote Mäuse - Juni 2012

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"Kapitel I - Tote Mäuse - Juni 2012"
Veröffentlicht am 03. März 2012, 20 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Kapitel I - Tote Mäuse - Juni 2012

Kapitel I - Tote Mäuse - Juni 2012

Er sah ihr lächelnd zu. Sie war so wunderschön, wenn sie so ausgelassen tanzte und lachte. Seine grosse Liebe – Ilara. Seufzend lehnte er sich zurück und folgte wieder der Unterhaltung am Tisch. Man sprach über die Wetterkapriolen in diesem Jahr. Erst war es eisig kalt, die Schneemassen konnten nicht unter Kontrolle gebracht werden und dann wurde es so plötzlich heiss, dass man die Wassermassen nicht mehr unter Kontrolle hatte.

„Nicht umsonst heisst es, dass dieses Jahr die Welt untergeht!“, sagte Ela und lachte. Er sah zu ihr hinüber.

„Solltest du an dieser Stelle nicht sagen, dass das völliger Blödsinn ist?“, fragte er. Sie lachte erneut auf.

„Warum sollte ich so etwas sagen?“, fragte sie, „nur weil ich mich gerade mit der Bibel und dem Glauben befasse? Ich weiss nicht was Gottes Plan ist, aber ich weiss, dass alles zusammen hängt. Warum also sollte das nicht stimmen, was die Maya schon nieder geschrieben haben?“

„Man weiss es doch gar nicht wirklich, WAS sie niedergeschrieben haben. Es ist nicht mehr alles vorhanden von den Tontafeln, oder irre ich mich da jetzt?“

Ela lächelte ihm immer noch zu. Sie hatte den Kopf schief gelegt.

„Und sie zogen herauf auf die breite Fläche der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer vom Himmel und verzehrte sie.“, sie hielt seine Augen fest und sprach weiter: „Das steht in der Bibel. Offenbarung 20, Vers 9. Das sagt doch alles oder? Ich meine, sogar in der Bibel steht es, dass die Welt untergehen wird. Dass Feuer vom Himmel fällt. In der Offenbarung 21 heisst es dann: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden, und das Meer ist nicht mehr.“ – was anderes soll das bedeuten, als das unsere Erde untergehen wird?“

Alle am Tisch schwiegen. Sie lachte laut auf. „Ach kommt schon! Und wenn die Welt untergeht, dann gehen wir mit ihr. Es wird nicht wehtun und ich glaube, es wird ganz schnell gehen.“

Er wusste, dass das nicht ganz ihre Ansicht war. Er wusste, dass sie etwas anderes glaubte. Jedenfalls noch vor ein paar Monaten geglaubt hatte. Damals hatte sie zu ihm gesagt: „Alle, die Licht sind, werden weiter bestehen. Wir bereiten uns jetzt schon darauf vor!“ – sie war der Meinung, dass es soweit kommen musste, um die Erde wieder zu reinigen und neues entstehen lassen zu können. „Wir beide – wir sind solche Lichter! Wir werden weiter leben.“ Was war denn nun ihre Meinung? Das, was sie ihm im Vertrauen gesagt hatte, oder das, was sie gerade eben laut ausgesprochen hatte? Er forschte in ihrem Gesicht. Es war offen und strahlte eine Wärme und Herzlichkeit aus, die die Menschen rund um sie anzog. In ihren Augen lag Wissen und Liebe. Er war sich sicher, dass sie ein Licht war. Eines dieser Lichter. Bei sich selbst war er da nicht so sicher. Im Gegenteil, er bezweifelte es mehr als nur ein bisschen.

Ilara kam wieder zurück zum Tisch und setzte sich auf seinen Schoss. Er schloss seine Arme um sie und drückte seine Nase zwischen ihre Schulterblätter. Ihr Duft schien ihm jedes Mal die Sinne rauben zu wollen. Tief atmete er ein, sog sie in sich auf. Verwirrt runzelte er die Stirn. Da war eine Note drin, die nicht dahin gehörte. Wie – er überlegte, versuchte die Note zu finden – da war es wieder. Modrig. Als ob etwas Verwesen würde. Ela lachte gerade über einen Witz. Ohne hinzusehen wusste er, dass sie ihn und Ilara beobachtete. Sie sah in seine Richtung. Der modrige Geruch verstärkte sich. Das Shirt wurde feucht, da wo seine Nase war. Er zog sich zurück und betrachtete den Flecken, der sich auf dem Stoff langsam ausdehnte. Vorsichtig tippte er mit einem Finger darauf. Ilara reagierte nicht. Er fuhr vorsichtig mit dem Finger vom Hals her unter das Shirt und zog seine Hand wieder raus. Es war nass – doch auf seinem Finger war nichts. Stirnrunzelnd wiederholte er den Vorgang.

„Was tust du da? Du erwürgst mich noch!“, lachte sie und drehte sich zu ihm um. Er war verwirrt. Da war ein Flecken auf ihrem Shirt, da war Nässe und dieser Geruch! Sie schien aber nichts zu merken.

„Komm mit, ich will dir was zeigen!“, keuchte er, schubste sie von sich hinunter, erhob sich und zog sie mit sich. Draussen drehte er sie um und schob das Shirt über ihren Rücken. Sie liess es lachend geschehen.

„Oh, so dringend?“, fragte sie und wollte sich zu ihm umdrehen.

„Warte!“, befahl er ihr mit rauer Stimme und zerrte das Shirt weiter hoch. Da war nichts. Er fuhr mit der Hand über die Stelle. Wieder dieses nasse Gefühl – aber nichts zu sehen. Er roch daran. Erinnerte sich daran, wie seine Katze einmal eine tote Maus in seinem Zimmer versteckt hatte. Erinnerte sich an den Gestank der ihm übel mitgespielt hatte. Genauso roch Ilara jetzt. Als wäre sie eine tote Maus. Aber er konnte nichts sehen. Er drückte mit dem Finger auf die Stelle.

„Tut das nicht weh?“, fragte er.

„Nein. Sag mal, was tust du da?“

„Komm mit!“, gab er zurück und zerrte sie wieder hinein zum Tisch.

„Ela. Kannst du bitte mal mitkommen?“, wandte er sich an die junge Frau. Diese sah ihn erstaunt an und erhob sich sofort. „Klar.“, sagte sie und folgte ihnen. Er zog Ilara wieder nach draussen, drehte sie erneut um.

„Sag mal, was tust du da? Du machst mir langsam Angst!“

„Halt still!“, befahl er leise und an Ela gewandt: „Riech mal… hier…“ Ela beugte sich nach vorne und schnupperte an Ilara.

„Es riecht nach ihrem Duschmittel.“, sie klang ein bisschen verwundert.

„Siehst du das?“, fragte er weiter.

„Was?“

„Diesen Flecken hier!“, er klang verzweifelt. Der Flecken breitete sich weiter aus und verströmte den Geruch toter Mäuse. Das war nicht mehr eine, sondern zehn tote Mäuse. Ela schüttelte den Kopf.

„Wirst du etwa verrückt?“, fragte sie und lachte. Ilara drehte sich um und sah, wie Ela die Zeigfinger zu einem Kreuz schlug und theatralisch rief: „Oh weiche von mir du irrer Geist! Satan, so weiche von mir und betrete nicht meinen Schutzkreis!“

Er fand es nicht lustig. Ilara kugelte sich vor Lachen und Ela grinste breit.

„Ilara geh rein.“, bat er seine Freundin, „Ich muss kurz mit Ela reden.“

„Ach komm schon!“, maulte sie, „ich will auch zuhören.“

„Geh!“, es war schärfer als er beabsichtig hatte. Ilaras Blick sagte alles. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Ela hingegen grinste immer noch.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie ihn, als Ilara endlich weg war.

„Ich weiss es nicht!“, er raufte sich die Haare und liess sich auf den Boden sinken. „Ich weiss es nicht! Aber da ist ein Fleck der sich ausdehnt, die Haut darunter nässt – aber wenn ich sie berühre ist da nichts. Es stinkt nach toten Mäusen!“

Ela lachte laut auf. „Du drehst durch!“, antwortete sie glucksend. „Wie lustig! Du solltest keinen Alkohol trinken, wenn du danach tote Mäuse riechst!“, sie lachte herzlich.

„Das ist nicht lustig!“, gab er zurück.

„Aber eine tolle Einbildung! Ich weiss ja nicht, was in deinem Kopf vorgeht, aber ich kann dir versichern – sie riecht wie sie immer riecht und da ist nichts. Das bildest du dir nur ein! Komm, gehen wir zurück und machen weiter Partyyyyy!“, sie nahm seine Hand und wollte ihn wieder hinein ziehen. Er riss sich los. „Ich komme gleich nach. Brauche noch frische Luft“, sagte er leise. Ela zuckte mit der Schulte, sah ihn nochmal kurz an und ging.

Er schlenderte den Weg entlang soweit, bis er das Gelächter und die Musik nicht mehr hören konnte. Die Luft war nicht wirklich frisch. Sie war stickig und heiss. Auch draussen. Auch nahe am Wasser. Und der Geruch verfolgte ihn. Widerwillig schüttelte er den Kopf. Was war bloss los mit ihm? Drehte er jetzt wirklich vollkommen durch?

Als er wieder zurückkam, tanzten Ela und Ilara ausgelassen miteinander. Sie lachten und sangen lautstark mit. Ela schlang ihren Arm um Ilaras Taille und zog sie eng an sich um sich mit ihr zu drehen. Schneller und immer schneller drehten sie, sie lachten laut und eine Welle toter Mäuse erreichte ihn. Er würgte und schluckte, versuchte flach zu atmen. Er sah sich um. Alle klatschten mit und lachten, niemand schien dasselbe zu riechen wie er. Sein Blick heftete sich auf Ilaras Rücken. Der Fleck hatte sich weiter ausgebreitet – jetzt gab es sogar einen weiteren. Da wo Elas Arm vorher war zog sich ein breiter Streifen über das Shirt. Ilara drehte sich zu ihm. Auch vorne waren diese seltsamen Flecken. Er erkannte, dass die Flecken überall da waren, wo Ela sie berührte. Das konnte nicht sein! Er starrte Ela an. Diese lachte und sang und sie sah so glücklich aus.

„Wie ein Engel nicht wahr?“, fragte eine Stimme neben ihm. Er wandte sich zu dem Mann und nickte mechanisch.

„Von wem sprechen wir? Von deinem oder von meinem Engel?“, fuhr der Mann fort ohne seinen Blick von Ela zu nehmen.

„Seit wann ist Ela dein Engel?“, fragte er. Erstaunt zog er die Augenbrauen zusammen. Woher kam diese Frage?

„Oh. Sie ist es leider noch nicht. Aber ich habe viel Geduld!“, sprach er und verschwand wieder in der Menge. Er folgte ihm mit seinem Blick, doch der Mann löste sich vor seinen Augen in Luft auf. Ihm war klar, dass das gar nicht möglich war. Der Mann war einfach geschickt wieder untergetaucht. Er drehte sich wieder zu der Tanzfläche um. Ela kam gerade zurück, nach Luft schnappend. Sie griff nach dem nächstbesten Glas und kippte den ganzen Inhalt unter einmal runter.

„Ela! Da war die Bowle drin!“, rief jemand. Ela lachte. „Ich weiss! Ich mag noch mehr davon haben!“ Sie sah ihm in die Augen. Ihr Gesicht lachte, ihr Körper tanzte – aber in ihren Augen war etwas vollkommen anderes. Bevor er darauf kam, was es war, leuchteten sie wieder wie goldene Sonnen. Der Geruch der ihm schier den Verstand nehmen wollte, wurde von etwas anderem verdrängt. „Ingwer und Sanddorn“, dachte er, „Ela.“ – Erinnerungsfetzen drängten sich in sein Bewusstsein. Erinnerungen an warme, weiche Haut. An leises Gemurmel an seinem Ohr. Sanfte Berührungen – er schüttelte sich ein wenig in der Hoffnung, dass ihn diese Erinnerungen wieder verliessen. Sein Blick glitt zu Ilara. Seiner Liebsten. Er wollte an ihre Hände denken, an ihre Lippen. Alle seine Häärchen stellten sich gleichzeitig auf und heftiger Ekel überkam ihn. Er stürzte wieder hinaus. Hörte, wie Ela lachte. Er fühlte ihren Blick zwischen seinen Schulterblättern. Gehetzt rannte er zum nahen Bach, er erreichte ihn nicht, bevor sich sein Magen umdrehte und der gesamte Inhalt auf der Wiese landete. Er würgte und kotzte bis ihm schwindelig wurde und er ins Gras sank. Dunkelheit umfing ihn.

„Ey…“, jemand berührte sein Gesicht, „Jonas! JONAS!“, Elas Stimme drang in sein Bewusstsein. „Steh auf! Komm. Ich helf dir. Was ist los mit dir? Bist du krank?“, sie keuchte als sie ihn auf die Beine zog. „Himmel, du bist schwer. So hilf mir ein bisschen!“, ihr Atem roch nach zuckersüssen Früchten und Alkohol. Er drehte den Kopf weg. Da war auch dieser Geruch nach Ingwer und Sanddorn. Sie hatte ihn auf die Füsse gestellt, jetzt kippte sein Kopf auf ihre Schulter.

„Nein. Nein! Komm, wir müssen rein gehen. Sie müssen euch nach Hause bringen!“

„Nein.“, murmelte er. „Ilara…“ er schwieg. Ihm fiel das Atmen schwer.

„Was ist mit Ilara?“, wollte Ela wissen.

„Soll nach Hause.“, murmelte er. Er fühlte, wie die Beine nachgaben. Ela fing ihn im letzten Moment auf und half ihm kontrolliert auf den Boden zu sinken. Sie zog ihr Handy hervor und rief jemanden an.

„Komm und hol ihn. Ich glaube er hat zu viel getrunken!“

Sie liess sich neben ihn auf den Boden und nahm seine Hand. „Dein Dad kommt gleich und holt dich“, sagte sie leise, strich ihm mit der anderen Hand die Haare aus dem verschwitzten Gesicht.

„Ãœbel“, murmelte er. Sie lachte leise.

„Das sieht man. Man riecht es.“

Mühsam schlug er die Augen auf und suchte ihren Blick. Sie erwiderte ihn ruhig und gelassen, mit einem sanften Lächeln. Ihm drehte sich alles. Etwas stimmte nicht. Mit ihm. Er sah Gespenster. Ihre Augen waren nicht mehr braun sondern grün. Vielleicht lag es auch an der Dunkelheit. Er irrte sich bestimmt. Elas Augen waren braun, manchmal fast golden. Aber nicht grün. Er wusste, dass sie grün sein konnten, aber dafür musste Ela unendlich traurig sein. Oder wütend. Er forschte in ihrem Gesicht. Da war weder Trauer noch Wut. Also bildete er sich ein, dass ihre Augen grün waren. So musste es sein. Er liess seine wieder zufallen. Er wurde verrückt. Ela hatte Recht. Er drehte durch. Und zwar komplett.

Sein Vater hob ihn wieder auf die Füsse und stützte ihn, bis er sicher stand. Er drehte sich zu Ela um. „Umarmen“, brummelte er. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, breitete die Arme aus und schloss ihn ein. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm in seinen Bauch. Als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Erschrocken stiess er Ela von sich und starrte auf die Stelle. Da war nichts. Erleichtert zog er sie wieder zu sich.

„Willst du Ilara nicht auf Wiedersehen sagen?“, fragte Ela und löste sich wieder von ihm.

„Doch. Aber sie soll raus kommen. Ich kann…“, Ela nickte und drehte sich um. Wenig später kam Ilara.

„Geht es dir so schlecht?“, fragte sie. Er würgte den Brechreiz wieder hinunter. Ilara umwehte noch immer dieser faulende Geruch. Die Umarmung war ziemlich kurz und distanziert. Er sah den Schmerz in ihren Augen, er konnte die Enttäuschung fühlen – aber es war ihm nicht möglich, ihr noch näher zu kommen. Sie stank zum Himmel. Und er war der einzige der das roch.

„Ich muss…“, er würgte wieder, „nach Hause!“, Schweiss trat auf seine Stirn. Der Schmerz in seinem Bauch war heftig und der Brechreiz machte die Sache auch nicht besser. Die Welt begann vor seinen Augen zu drehen und zu verschwimmen – dann wurde es dunkel um ihn. „Ohnmächtig“, dachte er noch bevor er in die stille Dunkelheit fiel.

 

 

 

 

 

 

Intermezzo I

10. Februar 2012

 

Sie knurrte. Wie sie ihn hasste! Er hatte zu viel Kontrolle über ihre Gedanken, schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. Sie mochte es nicht. Nein. Sie mochte es nicht nur, sie hasste es. Sie verabscheute ihn dafür. Wenn sie nicht konsequent darauf vorbereitet war, dass sie ihn sehen würde, war sie ihm ausgeliefert. Die Kunst, ihre Augen zu kontrollieren beherrschte sie nicht. Noch nicht. Doch ihm war das klar. Denn wenn sie seinen Blick nicht zu erwidern vermochte, wusste er wiederum, was Sache war. Oder eher, dass etwas Sache war. Wieder knurrte sie, schlug das Buch zu und warf es auf den Boden. Sie konnte sich nicht auf die Geschichte konzentrieren. Er spukte in ihrem Kopf herum. Natürlich ungefragt.

Ela seufzte und erhob sich. Sie würde erst mal etwas trinken. Dann musste sie darüber nachdenken, was sie als nächstes tun wollte. Diese Treffen hatten den leidigen Nachteil, dass sie jedes Mal wieder von vorne beginnen musste. Ein Blick in seine Augen und sie war – verloren.

Die Tür rutschte ihr aus den Fingern und schlug mit einem lauten Krachen gegen den Zargen, hängte ein und gleich wieder aus – die Tür flog zurück in den Raum. Sie brummte etwas und stampfte weiter. Nicht einmal anständig bewegen konnte sie sich mehr. Es war unmöglich ihn los zu werden. Ihr Gesicht brannte, ihr Kopf brummte. Stundenlang hatte sie sich beschäftigen können. Sich ablenken. Gute Arbeit geleistet. Jetzt wäre es Zeit gewesen, ein bisschen zu lesen und dann zu schlafen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Schon jetzt konnte sie den seltsamen Geruch auf ihrer Zunge schmecken, der nur von Tränen her rühren konnte. Das Würgen und Schlucken im Hals. Das eiskalte Gefühl auf ihrer Brust. Egal wie viel Tücher sie darüber legte – dieses Eiskalte griff nach ihr, als sie sah… sie verbot sich diesen Gedanken. Sie verbot sich diese Bilder. Hastig riss sie das Fenster auf, lehnte sich hinaus und atmete die kalte Luft so tief ein, dass es in ihrer Lunge brannte.

Wie sie ihn hasste!

Und wie langsam die Zeit verging! Damit ihr Plan auch aufging, brauchte sie schier endlose Geduld. Kraft. Energie. Sie benutzte all die Worte aus ihrer vergangen Zeit, plauderte und lachte mit ihm – als wäre nichts gewesen. So gut sie konnte, verbarg sie ihre wahren Gefühle für ihn. Vor ihm. Wenn sie darauf vorbereitet war, ihn zu sehen, dann reichten ihre Gedanken vollkommen aus, um ihren Schutzwall zu weben. Sie wusste genug über all die Dinge, um ihn täuschen zu können. Doch wenn er so plötzlich vor ihr stand wie an diesem Nachmittag – war sie hilflos. In seinen Armen vergass sie alles. So schnell war sie bereit, sich ihm auf ein Neues hinzugeben. So schnell war sie bereit, das winzige bisschen zu nehmen und es zu geniessen. Doch wenn seine Arme sich von ihr lösten, wenn er ihr seinen Duft entzog, waren die Kälte und die Härte noch viel grösser als davor.

Wochenlang konnte sie ihm ausweichen. Mit jedem Tag wurde der Abstand grösser, der Schmerz weniger. Ein paar Minuten an diesem Winternachmittag. Aber die reichten aus, um sie in den dunklen Abgrund zu schubsen, aus dem sie erst gerade heraus gekrochen war. Wie oft musste sie das noch tun? Wie oft?

Ela war müde. Die Augenlider flatterten, ihre Hände zitterten, ihre Lungen brannten und ihr Herz schlug rebellisch gegen die Rippen. „Ich liebe dich“, flüsterte sie und sah zu, wie die Kälte vor ihrem Mund als Wolke einen Herzschlag lang stehen blieb und sich dann verflüchtigte. Dann schrie sie mit aller Kraft „Ich hasse dich!“ in die eisige Kälte hinaus – das Echo verebbte und die Kirchenglocke schlug eine volle Stunde.

Langsam schloss sie das Fenster wieder, betrachtete ihr Spiegelbild. Für einige wenige Sekunde überliess sie ihre Gedanken dem vollkommenen Chaos – dann bündelte sie sie und zwang das Chaos in seine Ordnung, aus der ein einziger Gedanke wie ein Leuchtfeuer durch sie hindurch wogte. Dieser eine Gedanke, der sie am Leben halten würde, dieser eine Gedanke, der alles beherrschen konnte.

 

Als sie wieder ins Bett schlüpfte, übermannte sie eine bleierne Müdigkeit. Dankbar schloss sie die Augen, dachte an den Gedanken, den sie in seinem Hirn gepflanzt hatte, dachte an den Gedanken der sie leitete, sprach ein langes Gebet und schlief ein. Sogar ein bisschen glücklich. Denn nichts war befriedigender als das Gefühl, wirklich Macht zu haben.  

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bloodredmoon

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MarieLue Sehr spannend geschrieben ... - ... bin gespannt wie es weitergeht. Gut geschrieben!

Herzliche Grüße
Marie Lue
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shirley Sehr gern gelesen, spannend bis zu letzt...hoffe, es geht weiter.....
LG S.
Vor langer Zeit - Antworten
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